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Freitag, 9. Februar 2018

SINGER

Nach dem 1. Weltkrieg musste van Ostaijen nach Deutschland flüchten. Den Eindruck, der das auf ihn machte sieht man an den "Alpenliedern" (Posts 25.01.'18, 5.02.'18), und am "Lobgedicht auf Singer". Dada-ismus, Expressionismus, Modernismus, sie spielen alle ihre Rolle, sowie eine ordentliche Portion Sarkasmus und schlichte Lust am Spiel. Floris Jespers, der im Lobgedicht so ausgiebig gepiesackt wird, ist der Maler Floris Jespers (1889-1965), ein Freund van Ostaijens. Das Grabmal für van Ostaijen auf dem Schoonselhof in Antwerpen ist von der Hand von Oscar Jespers, Floris' Bruder.


Afbeeldingsresultaat voor floris jespers 

(Bildnis van Ostaijen durch Floris Jespers)

Paul van Ostaijen
 

1928

LOBGEDICHT AUF SINGER



Schwinger
    Singer
        Nähmaschine
Hört
    Hört
        Floris Jespers hat sich eine Singernähmaschine gekauft
Was
    Was
        doch
    Jespers Singer Nähmaschine
wieso
    doch
        ich sag's Ihnen
        Floris Jespers hat sich eine Singernähmaschine gekauft
Warum
    wodurch
        was will er
Doch
    er wird
        wieso
            Circulez
                denn
SINGERS NÄHMASCHINE IST DIE BESTE

die beste
    warum
        wie kann das sein
            wer weiß das schon
                alles ist Schein
Singer und Sankt Augustin
Genoveva von Brabant
        besitzt auch eine Singer
            die Jungfrau von Orleans

Eine Singer?
doch
doch doch doch ich sage Ihnen eine Singer
verstehen Sie kein Niederländisch mein Herr
Circulez
    Für Garderobe keine Haftung
ich will eine Nähmaschine
jeder hat ein Recht auf eine Nähmaschine
ich will eine Singer
jedermann eine Singer
Singer
    Sänger
        Meistersänger
            Hans Sachs
hat Hans Sachs keine Singermaschine
warum hat Hans Sachs keine Singer
Hans Sachs hat ein Recht auf eine Singer
Hans Sachs soll eine Singer haben
Jawoll
    Das ist sein Recht
        Dreimal ist Schiffsrecht
            Es lebe Hans Sachs
                Hans Sachs hat Recht
Er hat Recht auf
SINGERS NÄHMASCHINE IST DIE BESTE

alle Menschen sind gleich vor Singer
Circulez
eine Singer
Panem et Singerem

Panem et Singerem Panem et Singerem Panem et Singerem

        et Singerem et Singerem

Ich will eine Singer
wir wollen eine Singer
wir fordern eine Singer
Was wir wollen ist unser gutes Recht
        ein feste Burg ist unser Gott

Panem et Singerem    Panem et Singerem    Panem et Singerem

                   et Singerem et Singerem

Warum
    wieso
        was will er
            was wird er
Salvation Army
Bananas atque Panama
    der Mann hat Recht
    er hat Recht
Recht hat er jawoll
    jawoll
        jawoll
            warum
            wer sagt das
            wo ist der Beweis
    jawoll er hat Recht

Panem et Singerem    Panem et Singerem    Panem et Singerem

    Singerem Singerem

SINGERS NÄHMASCHINE IST DIE BESTE

Vertaling Jaap Hoepelman November 2017


Singer

Paul van Ostaijen
Aus: Verzamelde gedichten
Uitgever: Bert Bakker, Amsterdam, 2005

Sonntag, 16. April 2023

Van Ostaijen: Die Alpenjäger.

 Gerelateerde afbeelding

Paul van Ostaijen
1896-1928


Flämisch ist die Sprache des "Olla Uogala". Paul van Ostaijen war Flame, und seine Gedichte zeigen, dass sich im vergangenen Jahrtausend einiges getan hat:

Alpenjägerlied

Für E. du Perron.

Ein Herr, der die Strasse hinabsteigt
ein Herr, der die Strasse hinaufsteigt
zwei Herren, die ab- und aufsteigen
das heisst der eine Herr steigt hinab
und der andere Herr steigt hinauf
direkt vor dem Laden von Hinderickx und Winderickx
direkt vor dem Laden von Hinderickx und Winderickx von den
berühmten Hutmachern
treffen sie auf einander
der eine Herr nimmt den Zylinderhut in die rechte Hand
der andere Herr nimmt den Zylinderhut in die linke Hand
dann gehen der eine und der andere Herr
der rechte und der linke der hinauf- und der hinabsteigende
der rechte der hinabsteigt
der linke der hinaufsteigt
dann gehen beide Herren
jeder mit seinem Zylinderhut seinem eigenen Zylinderhut seinem bluteigenen
Zylinderhut
aneinander vorbei
direkt vor der Tür
vom Laden
von Hinderickx und Winderickx
von den berühmten Hutmachern
dann setzen beide Herren
der rechte und der linke der hinaufsteigende und der hinabsteigende
einmal aneinander vorbei
sich die Zylinderhüte wieder auf den Kopf
man verstehe mich wohl
jeder setzt sich den eigenen Hut auf den eigenen Kopf
Das ist ihr gutes Recht
Das ist das gute Recht von diesen beiden Herren

(Übers. Jaap Hoepelman November 2017)

Eine außerordentlich präzise Beschreibung einer Alpenlandschaft. Kein Wunder, dass van Ostaijen einer meiner Lieblingsdichter ist.

Alpejagerslied

Andere Gedichte von van Ostaijen in diesem Blog finden Sie hier

Freitag, 2. Februar 2018

De chimpansee doet niet meer mee.



Mit Multatuli hatte die Moderne Einzug gehalten. Mit Paul van Ostaijen (1896-1928) ist sie voll angekommen. Eigentlich wollte ich eine kurze, gediegene Einführung über Paul van Ostaijen, sein Leben, seine Zeit, sein Land und seine Kunst, DaDa, Surrealismus, konkrete Poesie usw. usw. schreiben. Als ich aber dabei war mich noch einmal schlau zu machen, wurde mir klar, dass einige Zeilen nicht ausreichen würden. Van Ostaijens Leben war zu kurz und Belgien ist zu klein für eine Darstellung in wenigen Worten. Und die Auseinandersetzungen der Literaturwissenschaft mit seiner Kunst enthalten mehr Unsinn, als ich sogar im Philosophie-Seminar lesen musste. Es war ja nicht mein Ziel, hier eine Literaturgeschichte zu schreiben. Außerdem: Das Nötige hat van Ostaijen selber gesagt:


Ähnliches Foto


Paul van Ostaijen

Berceuse presque nègre

De chimpansee doet niet mee
Waarom doet de chimpansee niet mee
De chimpansee
is
ziek van de zee
Er gaat zoveel water in de zee

meent de chimpansee 


Es ist nicht einfach, den sperrigen "Chimpansen" ("Chimpansee") zu verbinden mit "Meer" ("zee") und "mit" ("mee"). Glücklicherweise gibt es noch andere Tierarten und Gewässer um den Sinn des Gedichtes zum Ausdruck zu bringen:

Berceuse presque nègre

Der Bonobo, der lässt es so

Warum lässt der Bonobo es so
   
       Der Bonobo

ist

krank vom Limpopo.
               
Soviel Wasser strömt im Limpopo

meint der Bonobo.

Übersetzung Jaap Hoepelman November 2017


Auch unsere Breiten eignen sich für philosophische Betrachtungen:

   Berceuse presque nègre

Das Wasserschwein, das läßt es sein   

Warum lässt das Schwein es sein       

Das Wasserschwein

ist

krank vom Rhein

In den Rhein geht soviel Wasser rein
               
Meint das Wasserschwein


Übersetzung Jaap Hoepelman November 2017










Samstag, 10. Februar 2018

Zurück zu den Anfängen: Berceuse und Marc grüßt

Zu den beliebtesten Gedichte van Ostaijens gehören die, in denen die Sprache kunstvoll zu den Anfängen zurück geführt wird. Marc ist übrigens Marc Jespers, der Sohn von Floris Jespers, mit dem van Ostaijen lustigen Schabernack trieb im "Lobgedicht auf Singer". Marc grüßte morgens zuerst mal die alten bekannten: die Gemälde seines Vaters. Dieses vielleicht:


         Gerelateerde afbeelding
               
  (Floris Jespers, Fisch)

Paul van Ostaijen
 1924

Marc grüßt morgens die Dinge

Tach Mann aufm Rad auf der Vase mit Blumen
                         plumplumen
tach Stuhl nebem Tisch
tach Brot aufm Tisch
tach Fischerlein-Fisch mit der Pfeife
                        und
tach Fischerlein-Fisch mit der Mütze
                        Mütze und Pfeife
                        vom Fischerlein-Fisch
                        gutentach

TAA-ACH FISCH
tach lieber Fisch
tach kleines Fischelein mein

Aus: Paul van Ostaijen, Verzamelde gedichten. (Verzameld werk deel 1 + 2) (ed. Gerrit Borgers). Prometheus / Bert Bakker, Amsterdam 1996 (dertiende druk)

Übersetzung J. Hoepelman November 2017




Paul van Ostaijen
April 1927


Berceuse Nr. 2

Schlaf wie ein Riese
Schlaf wie eine Rose
Schlaf wie eine riesige Rose
Rieslein
Röslein
Süßekeksdöselein
schließe die Türe der Dose
Ich schlafe

Berceuse Nr. 2

Aus: Verzamelde gedichten. (Verzameld werk deel 1 + 2) (ed. Gerrit Borgers). Prometheus / Bert Bakker, Amsterdam 1996 (dertiende druk)

Übersetzung Jaap Hoepelman Nov. 2017

Montag, 28. Juli 2025

Namen im diesem Blog

      Ihr, die hier eintretet,....




Achterberg, Gerrit
Adriaan Roland Holst
Adwaita
Aegidius
Andreus
Ashetu, Bernardo
Bellamy, Jacobus
van Eeden, Frederik

Dienstag, 6. Februar 2018

Bauern-Charleston und Breughel


Bildergebnis für boere charleston boek van schmoll 
 Die Zeit, die Kunst und van Ostaijens Leben waren heftig durcheinander geraten. Europa suchte neue Formen und van Ostaijen experimentierte mit. Warum geht es im Bauern-Charleston? Wer richtig zuhört, kann hören, dass es nicht lustig ist. Sind Breughels Bauernfeste lustig? In den nächsten Posts werde ich noch einige seiner Gedichte übertragen. Traurige, experimentelle, schlichte, lustige, aber in ihrer Art immer schön.
Bildergebnis für breughel boerenbruiloft


Paul van Ostaijen                                                                                                             
1928

Bauern-Charleston

Tulpenknollen Knollentulpen Tulpensträuße
Rosensträuße
Bauernrosen Bauernbacken
Bauernlungen
Bauernlungen ballen Backen
Bälle ballen Becken
Kornett und Bombardon - oh hopp!
    Marie-Kateline Marie-Katelene
    wer hat das kleine Kornett gesehen
    wer hat das große Kornett gesehen
    und wer Gaston mit seinem Bombardon
denn dies ist keine Pavane oder keine Sarabande mehr
das ist keine Gigue oder keine Allemande mehr
und kein Walzer

        das ist ein Charleston
        ein Bauerncharleston
        von Gaston auf seinem Bombardon
Und wer hat das kleine Kornett gesehen
und wer hat das große Kornett gesehen
und wer Gaston mit seinem Bombardon
    Das kleine Kornett steckt im Rosenstrauß
bei der Rosalie
    Das große Kornett steckt im Cabrio
bei der Melanie
    Marie-Kateline Marie-Katelene
    Und Gaston
der steckt "in der Tonne"  bitte vielmals um Pardon
    Backenbälle ballen Becken
    Kornett und Bombardon

Aus: Paul van Ostaijen, Gedichten (ed. Gaston Burssens). De Sikkel, Antwerpen 1935



Übersetzung Jaap Hoepelman Dez. 2017

Samstag, 6. Juni 2020

Hieronymus van Alphen. Das niederländische Kinderbuch (für artige Kinder)..



Hiëronymus van Alphen (H.J. Backer, 1836).jpg
Hieronymus van Alphen 
1746-1803

1778 erschien in Utrecht Hieronijmus van Alphens "Proeve van Kleine Gedigten voor Kinderen"  ("Versuch einiger kleinen Gedichte für Kinder"). Van Alphen wollte den Versuch wagen, leichte Gedichte für Kinder in verständlicher Sprache und ansprechender Form anzubieten.
In Deutschland waren Christian Felix Weiße

Christian Felix Weiße 
1726-1804
und Gotlob Burmann ihm mit Gedichten für Kinder vorangegangen, von denen van Alphen sich an einigen Stellen inspirieren ließ. Ganz allgemein hat van Alphen, auch in seinen theoretischen Schriften, viel zum zunehmenden Einfluss der deutschen Literatur in den Niederlanden beigetragen.
Van Alphen war Jurist und avancierte nach einigen Zwischenstationen 1793 zum "thesaurier-generaal" (Finanzminister) der Republik der Vereinten Niederlanden. 1795, nach dem Einzug französischer Truppen und dem Zusammenbruch der Republik trat van Alphen von seinen Ämtern zurück. 
Die "Kleine Gedigten" waren ganz im Stile der neuen, aufgeklärten Pädagogik geschrieben, nach van Alphens Motto "Mein Spielen ist Lernen, Mein Lernen ist Spielen". Sie waren ein sofortiger Erfolg. Ein gewisser niederländischer Utilitarismus war ihnen natürlich nicht fremd. "Dass ich für die Handvoll Pflaumen ungehorsam wäre? Nein.", meint klein Hänschen. Aber unter Umständen könnten einige Aktien und etwas Grundbesitz die Lage ändern.
Das Bändchen wird bis heute in Faksimile herausgegeben. Es war der Anfang der niederländischen Kinderliteratur, die wenigstens zu meiner Zeit blühte und gedieh. In diesem Blog habe ich mich einige Male an Kinder- und Jugendgedichten von bekannten Dichtern versucht, z. B. von Hans Andreus und Paul van Ostaijen. Auch Han G. Hoekstra muss hier erwähnt werden. Ich selber habe die Gedichte von Annie M. G. Schmidt und Willem Wilmink immer besonders gerne gemocht.
Von van Alphen hatten sie sich weit entfernt.


Der Pflaumenbaum
Eine Geschichte
1778


Hieronymus van Alphen
1746-1803


illustratie

Kleiner Hans sah Pflaumen prangen,

O! Sie waren eiergroß.

Scheinbar wollte Hänschen pflücken,

wenn auch Vater es verbot.

Es kommt, sprach er, weder Vater,

noch dem Gärtner zu Gesicht:

Einem Baum, so voll beladen,

fehlen fünf, sechs Pflaumen nicht.

Aber besser, ich gehorche,

pflücke nicht und lass' es sein.

Dass ich für die Handvoll Pflaumen

ungehorsam wäre? Nein.

Fort geht Hänschen: Doch der Vater,

der versteckt gelauschet hat,

trifft ihn beim Spazierengehen

vorne auf dem Mittelpfad.

Komm mein Hänschen, sagt der Vater,

komm mein kleiner Herzensdieb!

Jetzt werd' ich dir Pflaumen pflücken;

jetzt hat Vater Hänschen lieb.

Feste hat Papa geschüttelt,

Hänschen sammelte geschwind;

Hänschens Hut war voller Pflaumen,

im Galopp sprang fort das Kind.

De pruimeboom
Eene vertelling


Und...ach ja, Parodien gab es natürlich reichlich. Hier ist eine von John O'Mill


Kleiner Hans sah Pflaumen prangen
O! Sie waren eiergroß;
Der Gärtner sah die vollen Backen,
Schlug den fiesen Schnorrer tot.


John O'Mill (1915-2005)

Uebersetzungen Jaap Hoepelman
6 Juni 2020.

Montag, 5. Februar 2018

Ein guter Tischler und eine Landschaft

"Melopee" ist der Titel des folgenden Gedichtes, also rythmisches Gesang. "Organischer Expressionismus", ist das Etikett, das man daran hat heften wollen. Sei es drum. Van Ostaijen schrieb: "Ein Tischler sollte einen guten Tisch machen. Nicht einen sittlichen Tisch, nicht einen ethischen Tisch. So auch der Dichter." Mich erinnert das Gedicht unwiderstehlich an Luceberts "Fischer von Ma Yuang", aus einer anderen Periode. Ich hoffe, das später zu zeigen.


 Paul van Ostaijen



Ähnliches Foto



1928

Melopee
für Gaston Burssens

Unter dem Mond schiebt sich der lange Fluß
Über dem langen Fluß schiebt sich müde der Mond
Unter dem Mond auf dem langen Fluß schiebt sich das Kanu zum Meer

Entlang dem Hochried
entlang der Niederwiese
schiebt sich das Kanu zum Meer
schiebt mit schiebendem Mond sich das Kanu zum Meer
So sind sie Gesellen zum Meer das Kanu der Mond und der Mann
Warum schieben sich Mond und Mann wie willige Zwillinge immer mehr zum Meer



  Paul van Ostaijen, Verzamelde gedichten. (Verzameld werk deel 1 + 2) Bert Bakker, Amsterdam 1996



Vertaling Jaap Hoepelman November 2017

Alpentragödie

Außer solchen kleinen Grotesken  finden wir auch bezaubernde Texte, wie das kabarettistische
"Malheur". Van Ostaijen hatte mit Freunden Bayern besucht und mit ihrer Hilfe sogar die Benediktenwand erstiegen. Wie wir auch im Alpenjägerlied lesen können, hat dieses Erlebnis einen unauslöslichen Eindruck auf ihn gemacht.

Paul van Ostaijen
1928

Malheur

Warmer Qualmstall
Herr Privatdozent K.
in der Sommerfrische aus Breslau
versucht ob er mittels eines konvergierenden Glases
seine Zigarre Übersee Bismarck anzünden kann

In 2 Metern Entfernung vom Gipfel
fällt sein Zylinder den Abgrund hinunter
ein wertvolles Bekleidungsteil für einen Privatdozenten unersetzlich
was Herr K. voll erfasst
er versucht zu fassen seinen fallenden Zylinder
wobei er selber fällt in den Abgrund
dem Zylinder hinterher
Differenz Luftwiderstand
so gelingt es Herrn K. gleichzeitig mit dem Zylinder
den Boden zu erreichen
Unbeschädigt Zylinder R.I.P. Privatdozent K.

Man schmückt die Bahre des armen Alpentouristen
mit Edelweiss
Der überschwere Trauerschleier seiner Gattin
wird von einem Eilzug erfasst
und infolge dessen auch die trauernden Hinterbliebenen

Alpentragödie die Tageblätter


 Paul van Ostaijen, Verzamelde gedichten. (Verzameld werk deel 1 + 2) Bert Bakker, Amsterdam 1996

Übersetzung Jaap Hoepelman 2017


Samstag, 4. März 2023

Nijhoff: Awater



 Bildergebnis für nijhoff

Der Niederländer Martinus Nijhoff (1894-1953) war gleich alt wie der Belgier van Ostaijen, aber ihre Werke könnten unterschiedlicher nicht sein. Der erste Weltkrieg hatte in Belgien verheerend gewütet, während die Niederlande verschont geblieben waren. Van Ostaijen und Nijhoff waren beide Meister der Umgangssprache, aber van Ostaijen legte nach den Erfahrungen des Krieges die traditionelle Verstechnik ab (siehe z.B. seine kabarettreife Alpenlieder, oder Singer). In den Niederlanden setzte sich dieser Umschwung erst nach dem zweiten Weltkrieg bei den "Fünfzigern" so richtig durch (z.B. Lodeizen). Nijhoff legte somit noch großen Wert auf die traditionelle geschliffene Verstechnik. Eines seiner bekanntesten Gedichte, ist "Awater", eines der wichtigsten der niederländischen Dichtkunst des 20. Jahrhunderts: Unter einer leicht leserlichen Oberfläche verstecken sich dermaßen viele Bilder und Symbolen, dass ganze Bibliotheken mit Interpretationen dieses Versepos vollgeschrieben wurden.
Der Name "Awater" an sich war Anlass unzähliger Interpretationsversuche, sogar so geistlose, wie dass es nur eine Abkürzung sei für die Zeile 36, die das ganze Gedicht zu beherrschen scheint: "Lees maar, er staat niet wat er staat..." (Lies nur, da steht nicht, was da steht"). ..."wat er staat" - "waterstaat". Waterstaat is der Sammelbegriff für alle Struktur- und Sicherheitsmaßnahmen im Bereich Wasser und Verkehr. Also vielleicht auch für die Niederlande insgesamt, die bestimmt ein "Waterstaat" sind. Nijhoff, der Mystifizierungen mochte, hat selber darauf hingewiesen, dass "A" an sich schon "Wasser" bedeutet, und "Awater" also "Wasserwasser". Niederländischer geht nicht. Bei so viel Freiheit erlaube ich mir auch einen Versuch."Awater" erinnert unmittelbar an "Avatar", ein Begriff, der in unserer IT-Gesellschaft neu in Mode gekommen ist. Aber er ist alt, sehr alt sogar. Im Hinduismus ist der Avatar (Sanskrit "avatara", der Hinabsteigende) die Inkarnation oder Erscheinung einer Gottheit. Im Gedicht weisen einige Stellen darauf hin:

"Sei hier anwesend, allererster Geist,
der Du am Anfang über den Gewässern streichst."

"Auf einmal Awater; er tritt aus einem Korridor hervor.
Ich sehe, wie blinzelnd er herunter kommt."

Kann Nijhoff den Begriff gekannt haben? Nun, er war ein belesener Mensch und kannte z.B. die anglo-amerikanische Literatur sehr gut. Ungefähr zur gleichen Zeit nimmt T.S. Eliot in seinem "Waste Land" ausführlich Bezug auf die Upanischad. Nijhoff war außerdem befreundet mit dem Dichter Johan Andreas dèr Mouw, pseudonym "Adwaita", der als Kenner des Sanskrit, (und des lateinischen und griechischen) zweifellos mit dem Begriff vertraut war. Zumindest klanglich sind "Adwaita" und "Awater" nicht weit aus einander entfernt. Wenn es jetzt ans Wortspielen geht: "Er staat niet, wat er staat": "niet wat er staat": "niet wat er". Das griechische aber auch das Sanskrit- Präfix für "un", "niet" oder "nicht" ist "a-". "Awater", "Avatar", "A-dwaita" - "Nicht-Zweiheit" eben. Eine schöne Mystifikation. Und so wahr: "Er staat niet wat er staat" - "Da steht nicht, was da steht".
Im Übrigen kommt "Awater" in den Niederlanden und in Deutschland als ganz gewöhnlicher Nachname vor.
Die Abschnitte des "Awater" reimen sich meistens nicht, dafür hat Nijhoff das Gedicht in durchgehender Vokalharmonie geschrieben: Der erste Vers in "-ee-", der zweite und dritte in -aa-, der vierte in -oo- usw. In der Übersetzung habe ich versucht, diese Tonalitäten beizubehalten.
Nijhoff war auch ein großer Übersetzer. Die Auszeichnung für Übersetzungsarbeit ist sogar nach ihm benannt. Eine Übersetzung hat er in Awater versteckt, das 250. Sonnet aus Francesco Petrarcas Canzoniere:

Gerelateerde afbeelding
Petrarca

"Stets hat sie mich getröstet, stets hat sie, als ich schlief
mit ihrer Ankunft sich gesorgt um mich
die Angebetete; doch heute kommt sie und zerbricht
den letzten Halt, der im Verlust mir blieb.
Ich seh sie vor mir, wie sie kniet danieder
in tiefem Kummer, angstvermischt;
ich hör', wie sie vom Glauben spricht,
doch Freude oder Hoffnung bringt's nicht wieder:
"Erinnerst du dich an den letzten Abend, als ich dich verließ,
ersparen wollt' ich dir die Tränen im Gesicht
als ohne Abschied ich die Welt verstieß?
Ich konnte nicht, ich wollte nicht dir melden den Bericht,
dass du begreifen musst, wie unser Urteil hieß:
Zu sehen hier auf Erden mich je wieder - hoffe nicht."

(Übersetzung aus Nijhoffs "Awater", J. Hoepelman 2018)


Sonnetto 250

Solea lontana in sonno consolarme
con quella dolce angelica sua vista
madonna; or mi spaventa et mi contrista,
ne di duol ne di tema posso aitarme;
che spesso nel suo volto veder parme
vera pieta con grave dolor mista,
et udir cose onde 'l cor fede acquista
che di gioia et di speme si disarme.
"Non ti soven di quella ultima sera
dice ella " ch'i' lasciai li occhi tuoi molli
et sforzata dal tempo me n'andai?
I' non tel potei dir, allor, ne volli;
or tel dico per cosa experta et vera:
non sperar di vedermi in terra mai".


Awater


"ich suche einen Mitreisenden"


Sei hier anwesend, allererster Geist,
der Du am Anfang über den Gewässern streichst.
Dein gutes Auge möge über dieser Arbeit weiden,
die wüst und leer ist, der Welt in soweit gleich.
Sie will nicht wie die letzte Ära sein,
vor Trümmerbergen stehend von Schönwetter leiern,
denn Singen, das ist Leidenschaft, die eitert,
was anfangs war, konnten nie Trümmer sein.
Nicht lange liegen bleibt der erste Stein.
Erneuert wird die Stille, die das Wort entzweit.
Das, was geschieht, kann nur erstmalig sein.
Gepriesen! Noah baut die Arche, aber keine zweite
und Jona predigt, doch zu Ninive für keinen.

Ich habe einen Mann gesehen. Der Mann hat keinen Namen.
Gib ihm auf einmal unser aller Namen.
Sohn einer Frau und eines Vaters.
Sobald die Sonne rot ist aufgegangen
geht er vorbei an meinem Fenster in die Stadt
und kehrt erst wieder, blau ist der Abend schon gefallen.
Er schafft in einem Büro, heißt dort Awater.
Schaut auf ihn. Bekleidet ist er mit Kamelhaar,
geheftet durch die Nadel. Sein Leib ist mager,
Heuschrecken und Honig sind ihm Nahrung.
Niemand hat je das, was er ruft verstanden.
Es ist Wüste, wo er Gebärden macht.
Mönchisches, Soldatisches haftet ihm an,
doch es wird nicht gebetet, nicht geblasen,
wenn man im Büro das Hauptbuch aufmacht.
Wie in einem Tempel sitzt man an der Tafel,
man schreibt auf Italienisch und Arabisch.
In Ziffern, niederrieselnd grau wie Asche,
steigen die Zahlenreihen in Orakelsprache.
Ruhe kehrt ein, das Thermometer steigt im Saal.
Dünn und salzig weht das ratternde Metall.
Die Schreibmaschine grübelt Irrensprache.
Lies nur, da steht nicht, was da steht. Was steht da?
"Mutter, niemals wirst den Pelz du tragen
wofür du jeden Pfennig hast gespart,
und nie mehr gehe ich an freien Tagen
mit einem Strauß zum Hospital,
sondern bringe Rosen dir zur Friedhofsgasse..."
Das ist es, was da steht; Awaters Züge sind erstarrt
als seine Rührung rührungslos verharrt.
Wie spät ist es? Awaters Müdigkeit macht sich bemerkbar.
Das Telefon schläft auf dem Schreibpult seinen Schlaf.
Teetassen werden emsig eingesammelt.
Die Uhr tickt, tickt, schlägt, bis es schlägt sechs minus halb.
Dann werden ausgedreht die grünen Lampen.

Heute, als ich die Fensterblumen goss
ist mir das Vorhaben gekommen,
Awater abzuholen im Büro.
Ich habe, seit mein Bruder starb, auf Reisen keinen mitgenommen.
Wenn ich einen Gefährten suche, bin ich's gewohnt
zu sehen, ob es passt, dass ist doch üblich so.
Heut' Abend folge ich Awaters Spur also,
ich schau mal, wie der Hase läuft, so sagt man wohl,
und morgen dann, geht alles gut, stell' ich mich vor.
So steh' ich vor der hohen Treppe, und ich scheue noch.
Es schlägt halb sechs. Die Zeit wird grenzenlos.
Passanten ziehen durch die Straße in einem dichten Strom.
In jedem Schatten wird nun Licht verstromt,
im Nebel suchen Umrisse die Form.    
O Bruder, du im Himmel, schau hervor.
Beschütze mich, damit kein Licht in meinem Schatten wohnt.
Lasse mich bitte ohne Bild und Ton. 
Auf einmal tritt Awater aus einem Korridor hervor.
Ich sehe, wie blinzelnd er herunter kommt.
Nicht Sterbliche, noch Stadt, noch Abendrot
gibt es für ihn. Er sputet sich von oben,
Stufen aus Sandstein entlang, vorbei an Schlangen Kupferrohr.
Es ist, als ob er einen Saum sieht, einen Horizont,
aus dem ohn' Unterlass ein Wetterleuchten glost,
als hätt' er das, von dem er träumt, im Ohr
und sieht den Ort, wo er's zu finden hofft.
So sputet er an mir vorbei - ich fühle mich durchbohrt.
Er hastet in die Eingangshalle vor.
Er steckt den Schlüssel in das vorbestimmte Schloss.
Vor ihm steht ausgedorrt ein Distelstock,
er nimmt den Stock, er wandelt pfeifend fort.
Er hat bedeckt, doch ich entblöße jetzt den Kopf:
Sei hier, noch einmal, Du, der Du in Höhen wohnst
so unbewohnbar wie Calvario.

Der Asphalt auf den Straßen ist einer Decke gleich.
Ich merke, dass der Widerhall, der mich begleitete
in der gefliesten Eingangshalle, draußen schweigt.
Die Stadt verleiht dem Fuß Unhörbarkeit.
Autos schieben, wie Karawanen aufgereiht,
mit leisem Lederknarzen sich an uns vorbei.
Awater hat sich, scheint's, beeilt.
Ja, doch, der Schein trügt nicht, er will auf Reisen.
Vor einem Modeladen hält er ein.
Er sieht, was eine Gruppe Puppen 
scheint
mit Plaid und Fernglas für die Reise,
die am gelben Strand des Nils verweilt,
Palme und Pyramide zeigen es zweifelsfrei.
Awater, was du dir überlegst, ich glaube, dass ich's weiß.
Beim Bild der Schifffahrtslinie, etwas weiter,
auf dem ein Beduine ein Schiff willkommen heißt,
das weiß am Horizont erscheint,
und beim Palast der Bank, noch etwas weiter,
gibt eine Liste über den Wechselkurs Bescheid.
So zieh'n wir beide weiter, am Schein der Schaufenster vorbei.

Er biegt auf einmal in eine Nebengasse ein.
Es klingelt eine Klingel. Da drinnen muss er sein.
Auf einem Schild: Rasieren, Haareschneiden.
Ein kleiner Raum, Schränke an beiden Seiten,
scheint durch den starken Duft von allerlei
Parfums und Wässerchen noch kleiner.
Awater - in der Drängelei
muss ich gestehen, wär' er mir fast enteilt -
sitzt in einem Umhang aus gestärktem Leinen
vor einem porzellanen Becken, blütenweiß.
Der Friseur macht seine Arbeit, ich setze mich derweil
als einer der bald dran ist auf einen Stuhl zur Seite.
Awater sah ich nie von so dicht bei,
wie jetzt im Spiegel; nie schien er mir dabei
so weit entfernt zu gleicher Zeit.
Zwischen den Flaschen, glitzernd wie Splittereis,
seh' ich, dass er im Spiegel einem Eisberg gleicht,
an dem entlang die glatte Schere seinen Schnabel streicht.
Doch es wird Frühling, und während breit
der Nebel hängt des Regengusses, der vorüber treibt,
pflügt durch durchwühltes Haar der Kamm die Scheitel.
Awater nimmt dann Abschied und zieht weiter
und ich verlasse das Geschäft als zweiter.

Der Zufall nimmt zum Ziel oft eine Kürzung.
Zufall, dass Awater an der Stelle landen musste
im gleichen Kaffeehaus, das ich mit meinem Bruder oft besuchte?
Kein Zufall, dieser Tisch war meistens frei für uns.
Ich setze mich woanders hin. Platz gibt's genug.
Der Kellner kennt mich. Zweimal schon hat er den Tisch geputzt,
was kann er sonst noch für mich tun?
Er zögert noch, in seiner Hand das weiße Tuch
und schweigt jetzt lange, neben meinem Stuhl.
"Die Zeiten sind vorbei" sagt er. Es ist ein Spruch nur,
aber ich verstehe, er denkt an meinen Bruder,
den Hund bei Fuß, und wie er mit dem Hut
keck auf dem Hinterkopf in das Lokal hineinfuhr
und wie der Wind es füllte mit einem kleinen Aufruhr.
Der gleiche Sand wie damals liegt noch auf der Flur,
Die gleiche Taube gurrt im Käfig den immer gleichen Ruf.
Hui, ruft der Wind, fort, fort! Jetzt ist es gut.
Und wer ist das? frag' ich, weil ich was sagen muss.
Er hat sofort das Richtige vermutet:
"Ein Kunde, der zum ersten Mal dieses Lokal besucht"
Dann zieht er hinter sich das Tresengitter zu.
An der Spüle wird das Spültuch jetzt benutzt. 
Was ist es, das Awater jetzt in seiner Tasche sucht?
In Maroquin gebunden, ein kleines, grünes Buch.
Ein Schachspiel für die Tasche, so könnte man vermuten.
Die Hand, die trommelt auf den Tisch, schöpft Mut
für die Vision, die hinter seiner Stirn sich auftut:
Schneeflocken schwirren zwischen Tropfen Blut.
Das Spiel wird neu gefügt zur nie gewesenen Figur.
Das Glas steht unberührt im Zigarettendunst,
der kerzengerade steigt; ein Rosenstock mahlt an der Decke Blumen.
Er sitzt allein, ein Mensch, der in sich ruht.
Er hat, was ein Planet hat, oder eine Blume,
den innerlichen Trieb, der ruht auf tiefem Grund.
Er leert das Glas und schließt das Buch.
Still vor sich schauend wird er von Traurigkeit besucht.
Er schaut in meine Richtung, so dass ich fast vermute,
dass er nach mir ruft, als er den Kellner ruft.
Doch nein, er rechnet ab, ich bitte um die Rechnung
und bald ziehen wir weiter zusammen durch's Gewusel.

Das Licht blitzt unaufhörlich den Schriftzug in Kopie
des Etablissements, wo Doppelreihen von Besuchern, wie
PKWs im Stau den Türwarter passieren,
der an der Eingangstüre die Glasmühle bedient.
Wir treten ein und es erklingt Musik.
Awater ist, so scheint's, kein unbekannter hier.
Wo er sich hin bewegt, drehen die Köpfe sich.
"Wie?" so sagt einer "kennen Sie Awater nicht?
"Ich meine, dass er so etwas wie Accountant ist.
Ich kenne ihn, aber intim nicht wirklich.
Welche sagen, abends liest er Griechisch,
andere behaupten, es sei Irisch..." -
bis plötzlich Ungewöhnliches geschieht:
Auf dem Podest erhebt ein Herr sich,
der Awater seinen Platz anbietet.
"Ich spreche" sagt er "im Namen aller hier.
In unserer Mitte ist ein überragender Artist."
Awater, zeigend auf das Tischgeschirr,
deutet an, dass er zu speisen vorzieht
und dass ihm lieber wär', wenn man ihn ließe.
Nicht oft passiert's, dass man am Billard eine Serie unterbricht.
Es tritt totenstille ein. Oben verdrängt man sich
an der Brüstung der Etage, voller Neugier.
Langsam drehen sich die Ventilatorschwingen.
Dann erhebt Awater sich und singt sein Lied:
"Stets hat sie mich getröstet, stets hat sie, als ich schlief
mit ihrer Ankunft sich gesorgt um mich
die Angebetete; doch heute kommt sie und zerbricht
den letzten Halt, der im Verlust mir blieb.
Ich seh' sie vor mir, wie sie danieder kniet,
in tiefem Kummer, angstvermischt;
ich hör', wie sie von Glauben spricht,
doch Freude oder Hoffnung bringt es nicht:
"Erinnere dich an diesen letzten Abend, als ich dich verließ,
ersparen wollt' ich dir die Tränen im Gesicht,
als ohne Abschied ich die Welt verließ.
Ich konnte nicht, ich wollte nicht dir melden den Bericht,
dass du begreifen musst, wie unser Urteil hieß:
Zu sehen hier auf Erden mich je wieder - hoffe nicht."
Awater schweigt. Er 
ist erstarrt zur Säule aus Granit.
Man applaudiert, wirft bunte Serpentinen.
Awater, steif wie eine Puppe, die
nicht trägt die eigene Mechanik,
wankt nun dem Ausgang zu, 
und sieht die Menge nicht.
Von seinem Rücken flattert noch Papier,
ein schmaler Streifen. Ich folge ihm von hier.

Ich versuche - still ist es in dieser Gasse -
jeden von Awaters Schritte zu erfassen.
Er merkt es, wenn ich einen nur verpasse.
Meine Bedenken lassen nicht mehr nach:
die Post war da, ich hab' der Putzfrau, dass
ich auf Reisen gehen könnte, gar nicht gesagt,
das Fenster angelehnt, das Feuer im Kamin ist an,
ich habe nichts dabei, und überhaupt - was soll das,
auf Reisen gehen. - An einer Schnur taumelt der Drache
und die Bedenken steigen, aber bei jedem Umschlag
hellt die Besorgnis auf: Egal! Es ist mir doch egal!
Ich führe das Gespräch mit mir als Diskutant,
den Kopf geduckt, den Kragen aufgeschlagen.
Die Straße weitet sich. Es tropft aus den Platanen.
Vor uns, gerade aus, verläuft die Eisenbahn.
Wird hier, um Mitternacht, ein Meeting abgehalten?
Der Platz ist proppenvoll. Von flackernden Fackeln
angeleuchtet, auf dem Podest aus Latten
steht eine junge Frau, sie trägt die Tracht
der Heilsarmee. Touristen, rucksackbepackt,
Kinder, Frauen, Arbeiter im Blaumann
gehören der Besuchermenge an.
"Wir leben" sagt sie "unser ganzes Leben falsch."
Awater, 
seine Schritte innehaltend,
dreht sich zu mir um, als hätte er mich immer schon gekannt.
Woher? In der Theaterpause? In der Straßenbahn?
Im Blick, womit er mich betrachtet liegt die Frage,
während er - weil's kräftig weht - den Hutrand
festhält. 
Der Wind, der spielt mit ihrem Haar
legt eine goldne Schleife auf den Ärmel der Soldatin.
"Der Liebe" sagt sie, "traut man sich nie vergebens an."
Awater bleibt, ich gehe fort, ich haste,
als eilte ich zu einem Zug, als ob ich den verpasste.

Schaufelweise wirft der Heizer Kohle in den heißen Schlund,
der Maschinist hält Ausschau durch das Augenrund
und vor der Überdachung, über den Gleisfiguren,
fangen die Signale an mit dem Präludium.
Die Uhr springt von Minute zu Minute.
Wieder ruft die Lokomotive, ununterbrochen ruft sie,
rufend, dass der Plan keine Verspätung duldet.
Die Seufzersäule wird zum Wolkendutt.
Doch glaube ja nicht, dass der Orient Express sich kümmert darum,
wie es dir geht; er teilt nicht deinen Jubel
wenn du die Namenschilder siehst einer Kultur,
die dich mit Klang von Abenteuern ruft.
Sein Fahrplan kennt nicht die Berufung.
Verschiebst du, oder hegst du eine Hoffnung -
egal. Noch einmal: Ihm ist es egal. Auch für den Selbstbetrug
eines Gefährten ist er immun.
Dass du, alleingelassen, in seinem Luxus
beengt dich fühlst, und an der Fensterscheibe kurbelst
und zurückschaust auf den Bahnsteig; oder dass du
das größte Glück erfährst, das für das Individuum
bereit liegt: Zu wissen, dass gelenkt ich wurde,
umsonst war's nicht, ich war wohl nicht der Dumme, -
Es sei drum! - Ihm ist es egal. Er glänzt Azur,
klirrende Kettenglieder formen seine Rüstung.
Die Lokomotive singt, sie hebt das Knie, gibt nach dem Druck.
Der Zug fährt ab zur festgelegten Stunde.

Martinus Nijhoff

1934


Übersetzung Jaap Hoepelman
Januar/August 2018


Awater NL

Ed Hoornik. Prophetisches.

Pogrom   1938 Pogrom                                                                                                             Ed Hoornik ...