Jan Kal 1946 -
Nach dem Krieg machte es für viele Dichter (wie
Lodeizen,
Kouwenaar,
Lucebert,
Andreus) keinen Sinn, die althergebrachten Formen weiter zu betreiben. Andere (w
ie M. Vasalis und
Gerrit Achterberg) blieben bei der Tradition und wurden auch weiterhin geschätzt. Trotzdem machte die Beherrschung des Handwerks in dieser Zeit oft einen etwas verschämten Eindruck und versteckte sich gerne unter der Maske der
Spaßpoesie. In den Siebzigern aber gewannen Dichter, die Wert legten auf die Beherrschung des Metiers wieder an Selbstvertrauen, nicht zuletzt durch den Einfluss von
Gerrit Komrij. Das Sonett (war es nicht immer ein Gipfel der Dichtkunst gewesen?) fand wieder Beachtung. Auch das
letzte Gedicht des Hans Andreus, geschrieben auf dem Sterbebett, ist ein Sonett. Elemente der Spaßpoesie hatten aber ihren Einzug gehalten, darunter welche des Sports, der in akademischen Seminaren mit Verachtung bestraft wird. Sport findet man z.B. bei
Scheepmaker und bei Jan Kal, dessen erstes Bündel Gedichte sogar eine Sportart im Titel trägt. Kal hat als Student der Medizin angefangen und sich dann aus romantischen Gründen aufs Dichten verlegt, romantisch wie
Piet Paaltjens, an wie er mich irgendwie erinnert. Kal schreibt sogar fast ausschließlich Sonette. Schon sein erstes Gedicht, "Mont Ventoux", hierunter mein Versuch einer Übersetzung, ist ein Sonett:
Jan Kal
Mont Ventoux
Dichten ist radeln auf dem Mont Ventoux,
hier steckte Tommy Simpson damals auf.
Todmüde in dem tragischen Verlauf
quälte sich der Weltmeister dem Endstrich zu.
An diesem Col sind viele abgehängt,
erste Kategorie, seitdem tabu.
Es riecht nach Tannenduft, Sunsilk Shampoo,
das braucht man, wenn man an den Abstieg denkt.
Es macht unendlich müde, alles was man tut;
der Mont Ventoux ist wohl die schlimmste Schinderei,
also, man überlege wohl, eh' man beginnt.
Doch schaffe ich, sogar in dieser Glut,
den Gipfel dieser kahlen Wüstenei:
Eitelkeit und Haschen nach dem Wind.
Übersetzung Jaap Hoepelman, Juli 2021.
Aus: Jan Kal, Fietsen op de Mont Ventoux: (1974) Uitgeverij de Arbeiderspers
Denkmal für Tommy Simpson
Mont Ventoux: Höhenprofil
Dichtung, Sport, Leichtigkeit und Ernst lassen sich also sehr wohl mit einander in Verbindung bringen. Nicht umsonst hat Jan Kal als Thema für sein erstes Sonett den Aufstieg auf den Mont Ventoux gewählt: Petrarca, der Vater der Kunst des Sonetts hat 1336 die Erstbesteigung des Mont Ventoux beschrieben und passend dazu aus den Bekenntnissen des Augustinus zitiert:
"Da gehen die Menschen, die Höhen der Berge zu bewundern und die Fluten des Meeres, die Strömungen der Flüsse, des Ozeans Umkreis und der Gestirne Bahnen, und verlieren dabei sich selber."
Das Sonett schließt, wie es sich gehört für einen niederländischen Dichter, mit einem Zitat aus Prediger 1,12 in dem man die Themen des Gedichtes gebündelt wiederfindet:
"Solch unselige Mühe hat Gott den Menschenkindern gegeben, dass sie sich damit quälen sollen.
Ich sah an alles Tun, das unter der Sonne geschieht, und siehe, es war alles eitel und Haschen nach Wind."
Ich nehme an, dass es Jan Kal gefallen würde zu vernehmen, dass seine Gedanken auch in höchsten philosophischen Kreisen Zustimmung finden:
Sloterdijk: So um die zweieinhalb Stunden. Man muss wissen, dass der Mont Ventoux eine sehr bizarre abweisende Aura hat. Wenn man die Vegetationsgrenze erreicht, ist man plötzlich in einer lunaren Landschaft. Die Rennradfahrer spüren davon natürlich nicht viel, weil sie vor Anstrengung blind sind. Wir Amateure waren am letzten Aufstieg so phänomenal langsam, dass man ständig diese todeszonenhafte Stimmung des Gipfelbereichs gespürt hat. Wenn man dann auch noch an dem Denkmal für den armen Simpson vorbeifährt, der da 1967 kurz vor dem Gipfel verendete, ist man schon ziemlich demoralisiert und denkt für ein paar Sekunden über die Sinnhaftigkeit des Unternehmens nach.
Aus "Hundsgewöhnliche Proletarier", Interview mit Peter Sloterdijk, Der Spiegel, 07,07,2008,