Donnerstag, 31. August 2023

"Flüchten geht nicht mehr"; 1971 war die Stimmung auch nicht besser.

 In 1971 schrieb Annie M. G. Schmidt (den Lesern dieses Blogs wohlbekannt) einen Song für das Musical "En nu naar Bed" ("Husch, husch ins Bettchen"). Die Stimmung war damals nicht gut, und ist es auch heute nicht. Der wichtigste Song hat leider nicht an Aktualität verloren. Das Musical aber war ein großer Erfolg  und "Flüchten geht nicht mehr" wurde ein Hit und stand lange in den Charts. Das waren noch Zeiten...

Einen Link zu einer alten Videoaufnahme habe ich diesem Post beigefügt.


Annie M. G. Schmidt, 1911-1995


Flüchten geht nicht mehr, ich wüsste keinen Sinn

Flüchten geht nicht mehr, ich wüsste nicht wohin

Wie weit musst du gehen

Die fernen Länder sind Aufmarschländer

Sicherheitsratsversammlungsländer, Entlaubungsländer, Touristenstrände

Wie weit musst du gehen

Flüchten geht nicht mehr


Auf dem Mond gibt's Messgeräte, und auf  Venus für die Atmosphäre 

Und auf Erden singt der letzte Vogel, wie wenn's der letzte Frühling wäre

Flüchten geht nicht mehr, ich wüsste nicht wie weit

Verkriechen geht vielleicht, verkriechen sich zu zweit

Flüchten geht nicht mehr 

Flüchten geht nicht mehr


Flüchten geht nicht mehr, es macht ja keinen Sinn

Flüchten geht nicht mehr, ich wüsste nicht worin

Wie weit musst du gehen

In Geschäfte oder Arbeit oder  Disziplin

In Yin oder Yang oder  Heroin

In Status oder PKW und Geld verdienen

Wie weit musst du gehen

Flüchten geht nicht mehr


Hier in Holland stirbt der letzte Falter auf der allerletzten Blume

Und alle Musik, die übrig bleibt ist der supersonische Boom


Flüchten geht nicht mehr, ich wüsste nicht wie weit

Verkriechen geht vielleicht, verkriechen eng zu zweit

Das könnte unser Alternativchen  sein, 

Mit oder ohne Eheschein

Mein Liebchen, mein Liebchen, was willst du noch mehr

Flüchten geht nicht mehr

Flüchten geht nicht mehr.

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Übersetzung Jaap Hoepelman, August 2023


Vluchten kan niet meer; Lied

Vluchten kan niet meer , Text




Dienstag, 1. August 2023

Dichter und Bauer

Hubert Poot
1689 - 1733

Ta douleur, Du Périer, sera donc éternelle,

Et les tristes discours

Que te met en l'esprit l'amitié paternelle

L'augmenteront toujours ?

...

Mais elle était au monde où les plus belles choses

Ont le pire destin ;

Et, rose, elle a vécu ce que vivent les roses,

L'espace d'un matin.

...

De murmurer contre elle et perdre patience,

Il est mal à propos ;

Vouloir ce que Dieu veut est la seule science

Qui nous met en repos.


(François de Malherbe

Consolation à Monsieur Du Périer, 1599)


Für Trauergedichte auf den Tod kleiner Kinder hatten die Poeten der Vergangenheit mehr als ausreichend Gelegenheit: Es war ein Wunder, wenn die Kleinen die ersten Jahre überlebten. Ich habe diesem Post einige berühmte Strophen der "Consolation à Monsieur Du Périer" des François de Malherbe aus 1599 vorangestellt. In der "Consolation" finden wir die Elemente gesammelt, die - insbesondere in der älteren Trauerpoesie - zu finden sind: Trauer um das verstorbene Kind, sein unbeschwertes Dasein bei Gott, der Gedanke, dass es dessen Wille war, dem sich zu beugen unser einziger Trost sein kann.

In der niederländischen Literatur ist Vondels "Kinder-lyck", das auf diesen Elementen aufbaut, berühmt. Hubert Corneliszoon Poot, der Dichter dieses Posts, ahmte dem älteren, bewunderten Dichter-Kollegen nach. Dieser konnte der trauernden Mutter nicht viel mehr bieten als eine theologische Belehrung. Jedoch gelang es Poot die traditionellen Elemente - Trauer, Trost und Ergebenheit - viel persönlicher für die Mutter (in Malherbes Poem noch abwesend) zum Ausdruck zu  bringen. Im Übrigen: Vondel, zu seiner Zeit, konnte gar nicht anders, eine andere Herangehensweise wäre völlig undenkbar gewesen. Persönlich hatte er Grund genug zu trauern.

Die poetische Haltung in den Kinder-Trauergedichten hat sich im Laufe der Zeit ziemlich geändert, wie man in diesem Blog sehen kann: Der schwergeprüfte De Génestet reagierte mit einem sardonischen Spruch, Elsschot wütend und aufständisch, van Teylingen mit trauriger Fröhlichkeit.

Die Nachfolge von Vondel und den anderen Großen des "goldenen Jahrhunderts" hatte einen ganz einfachen Grund: Poot war Bauer, ein wirklicher Bauer, der hinter dem Pflug auf der Scholle seinen Lebensunterhalt verdiente in Abtswoude, einem Dorf nahe der Stadt Delft. Als Kind wurde seine Begabung durchaus erkannt, aber zuerst kam die Arbeit auf dem Lande. Seine Bildung war die Dorfschule, mehr nicht. Seine bäuerliche Sprechweise fiel den Zeitgenossen sogar auf. Fremdsprachen kannte er nicht, geschweige denn Latein, so dass er sich nur an seinen niederländischen Vorgängern ausrichten konnte, von denen er erstaunlich viel lernte. Dabei entwickelte er leider eine Neigung, quasi als Kompensierung für die fehlende Bildung, zur Überfrachtung seiner Gedichte mit sprachlicher Kunstfertigkeit und klassischer Mythologie. Es gelang ihm trotzdem manchmal einen persönlichen Ton zu finden, etwas Neues für ein Publikum, das von der Dichtkunst sowieso eine gute Prise klassischer Mythologie erwartete. 1716 veröffentlichte Poot mit großem Erfolg den ersten Gedichtband und er wurde das Ziel einer Art Dichtertourismus, der das erstaunliche Phänomen eines dichtenden Ackermanns mit eigenen Augen anschauen wollte. Irregeführt durch den vielversprechenden Anfang zog Poot in die Stadt Delft, in der Hoffnung dort mit literarischen Aktivitäten seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Ohne Erfolg. Niedergeschlagen und alkoholkrank kehrte er zurück zum väterlichen Hof und  heiratete nach langem Werben (denn er war nur ein Bauer!, der Standesunterschied!) seine geliebte Neeltje 't Hart. Wieder zurück in Delft fing er einen Tabakhandel an, aber folgte auch erneut dem Ruf der Dichtkunst, dieses Mal nicht ohne Erfolg. Es erschienen mehrere Bände, die guten Anklang fanden. Von seinen Verlegern wurde er entsprechend übers Ohr gehauen. Aber die Tätigkeit eines Tabakhändlers und Gelegenheitsdichters deprimierten ihn. Delft war (und ist) ein bemerkenswerter kleiner Ort. Der bekannteste seiner Bürger ist wohl Johannes Vermeer. Der Anatom de Graaf (der von den Ovarialfollikeln) wirkte  dort, wie Antonie van Leeuwenhoek (der von der Mikroskopie). Poot's Lobgesang auf van Leeuwenhoek ist ein Beispiel einer solchen Gelegenheitsarbeit, und nicht einmal das schlechteste. Poot kannte van Leeuwenhoek auch persönlich und das Grabgedicht für van Leeuwenhoeks Grab in der Delfter alten Kirche stammt von ihm. 



Wie eng die Beziehungen in der kleinen Stadt gewesen sind geht auch aus der Tatsache hervor, dass van Leeuwenhoek Vermeers Testamentsvollstrecker gewesen ist. 


Johannes Vermeer, 
Ansicht von Delft

Johannes Vermeer, 
Bildnis des Antonie van Leeuwenhoek

Bei aller Gelegenheitsarbeit gelangen ihm bis heute bekannte Werke, z.B. das immer noch ansprechende arkadische Gedicht (nach Horaz) "Akkerleven" (Bauernleben) mit der berühmten (und angesichts Poots eigenen Lebens wohl leicht parodistischen) Anfangszeile "Wie vergnüglich fließt das Leben des zufriedenen Landmanns hin..." .

Es war ein mühsames, von Verlegern und Nierensteinen geplagtes Dasein. Den Tod seines kleinen Töchterchens hat Poot nicht überwunden. Ein halbes Jahr nach seinem persönlichsten Gedicht ist er gestorben.


Auf den Tod meines Töchterchens


Jakoba trat mit Widerstreben

hinein ins böse Leben;

und hat sich schuldlos in den Tod geweint,

nicht war sie für die Welt gemeint.

Kaum zu leben angefangen,

ist sie wohl gern gegangen.

Die Mutter küsst' das liebe Wichtchen

auf ihr lebloses Gesichtchen.

Das kleine Seelchen, leicht und schlicht,

es hörte auf die Mutter nicht,

und, hastig aufgefahren,

ist's nun bei Gottes Scharen.

Dort spielt und lacht es schon

rund um den höchsten Thron;

und spannt die kleinen Schwingen,

befreit von ird'schen Dingen.

Blume von dreizehn Tagen,

dein Heil verbietet's uns zu klagen. 

(Juli, 1733)


Übersetzung Jaap Hoepelman, Juli 2023


Hubert Poot, Op de dood van mijn dochtertje


Poots Ansehen als Dichter hat mit der Zeit ziemlich gelitten. Kollege-Dichter De Schoolmeester hatte für ihn nicht mehr als folgendes lakonisches Epitaph übrig:

Hier ligt Poot

Hij is dood.

(Hier liegt Poot

Er ist tot.)

Focquenbroch. Ein böser Bub aus dem 17. Jahrhundert, oder Fumus Gloria Mundi

     Willem Godschalck van Fockenbroch  1640-1670 Dichter sind Außenseiter. In diesem Blog haben wir sie kennengelernt: Piet Paaltjens , de ...