Montag, 17. August 2020

August Vermeylen: Wir wollen Flamen sein, um Europäer werden zu können

 


August Vermeylen 1872-1945


MISANTHROPIE

1893

Menschen sind hässlich, vom ständ'gen Kranksein,

Vom Schuften; kläglich der entstellte Leib bedeckt,

Im Geiste feige, wie wenn das Leben sie erschreckt,

Das Nichtzulobende, das wacht über Dein Scheinsein,


Geschund'nes Schmerzfleisch, das die Fesseln nie zerbrach,

In dem die Todesweber Dich verstrickten

Aus finst'rer Nacht! Fleischaugen, die nie blickten

Aufwärts zum Himmel, und nur Stoffliches betrachten!


Verkrebst sind eure Knochen durch die Sünde; 

Riss' ich euch die bleiche Larve ab, ich stünde

Vor dem Grinsen einer Bestie. Tot seid ihr, verdorrt,


Tot eure Flamme. Ihr irrt im Kreis, als Bestien zerreißt

Ihr euch, und sucht das eine Wort, 

Das längst verschwunden ist aus Menschengeist.


Aus: Verzameld Werk

1952 Brussel


Misanthropie

Übersetzung Jaap Hoepelman, Aug. 2020

Das Leben des August Vermeylen ist wie eine Vorlage für ein Panorama der belgischen Geschichte des fin de siècle und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Geboren wurde er 1872 in Brüssel in einer flämischen Familie. Es wird berichtet, dass man während der Woche Brüsseler Dialekt, dass der Vater allerdings an Sonntagen mit den Kindern Französisch sprach. Das Leben der besseren Kreise, Verwaltung, Gerichtsbarkeit, Wissenschaft, Wirtschaft, Literatur und Kunst war zu der Zeit vollständig französisch. Die Poesie Guido Gezelles hatte aber schon gezeigt wozu das Flämische fähig war und gegen Ende des 19. Jahrhunderts fand beschleunigt eine Entwicklung statt für die Befreiung der flämischen Sprache aus dem Status eines verachteten Bauernjargons. Vermeylen spielte hierin eine wichtige Rolle, obwohl er das Niederländische anfänglich nur mangelhaft beherrschte. Wie es um das Flämische, bzw. das Niederländische in Belgien bestellt war, zeigt die Geschichte von Jan Coucke und Pieter Goethals: 1860 hatte zu Charleroi ein Raubmord stattgefunden. Die Arbeiter Coucke und Goethals wurden beschuldigt, verurteilt und folgerichtig auf dem Großen Markt in Charleroi geköpft.  Der einzige Makel am Prozess war, das er vollständig auf Französisch abgehalten wurde. Sogar der bestellte Anwalt verstand nur Französisch. Coucke und Goethals dagegen verstanden nur Flämisch, und konnten sich nicht verteidigen. Wenig später wurden die wirklichen Täter gefasst. Pech für Coucke und Goethals.

Während seines Geschichtsstudiums an der "Université libre de Bruxelles" ("UlB") gründete Vermeylen mit anderen die Zeitschrift "Van Nu en Straks" ("Von Jetzt und Später"),

                                                                                                                       Van Nu en Straks. Jaargang 2 · dbnl                                

 die 1893-1894 und 1896-1901 existierte. Nicht lange, aber dafür arbeitete ein ganzer Phalanx von Großen in Kunst und Literatur mit, wie z. B. Henry Van de Velde. Auch niederländische Künstler beteiligten sich.

Piet Couttenier, ‘Literatuur en Vlaamse Beweging. Tot 1914 ...

"Van Nu en Straks" beschleunigte die Emanzipation des Niederländischen in Belgien, die über die Katastrophen des ersten und des zweiten Weltkrieges  hinweg, manchmal über verschlungene Pfade zur Gründung des heutigen belgischen zwei-, sogar dreisprachigen Federalstaates führen würde. (Eine Darstellung der Spachensituation findet man hier.)

In Brüssel, Berlin und Wien studierte Vermeylen Literatur und Kunstgeschichte. Er promovierte zweimal, einmal mit einer französischen, das andere Mal mit einer niederländischen Doktorarbeit über  Jonker Jan van der Noot, den führenden, Antwerpener Dichter der niederländischen Renaissance. Auf Grund dieser Arbeit wurde dem jungen Vermeylen einen Sondertitel als Doktor der Université libre verliehen.


                                                          Jan van der Noot - Wikipedia 

Jonker Jan van der Noot  1539-1595 

Es war nicht zuletzt dieser Stolz auf die kulturelle Leistungen der flämischen Vergangenheit, welche die Herabsetzung von Sprache und Kultur für flämische Intellektuelle schmerzhaft spürbar machte und zu erhöhten Anstrengungen im Bereich Sprache und Kultur gegen Ende des 19. Jahrhunderts führte.

Die Liste der kulturellen und politischen Aktivitäten Vermeylens ist erstaunlich. Er war Hochschullehrer für Kunstgeschichte, unterrichtete Geschichte der niederländischen Literatur, war einer der Gründer der Sektion für germanistische Philologie an der UlB, er wurde Mitglied der Gesellschaft für niederländische Literatur in Leiden (Niederlande), Leiter der königlich flämischen Akademie für Sprache und Literatur, errichtete den belgischen PEN-Club, war Mitglied des belgischen Oberhauses, unterrichtete Kunstgeschichte und Literatur an der Universität Gent und war 1930 - 1933 derer Rektor nach der Umwandlung der Universität von einer französischen in eine niederländische. 1932 wurde er Mitglied der niederländischen Akademie der Wissenschaften, Doctor Honoris Causa der Universität Amsterdam, Vize-Präsident des Oberhauses. Darüber hinaus schrieb Vermeylen Gedichte, Romane, Essays, Standardwerke zur Kunstgeschichte...und diese Übersicht ist kläglich unvollständig. 

Wegen seiner herausragenden Stellung im belgischen politischen und kulturellen Leben wurde Vermeylen 1940 durch die deutsche Besatzung jede öffentliche Betätigung untersagt. Nicht wegen seines Eintretens für die flämische Sprache und Kultur - das hätte dem Besatzer wohl ins Konzept gepasst, sondern wegen seiner internationalen Einstellung. Er wollte das Flämische als gleichwertiges Element einer europäischen Kultur betrachten, als Teil einer internationalen Gemeinschaft mit eigenem Gewicht.

Schon 1900, im Essay "Flämische und Europäische Bewegung" schrieb Vermeylen prophetisch:  "Damit wir überhaupt etwas sind, müssen wir Flamen sein. Wir wollen Flamen sein, um Europäer werden zu können". 

Januar 1945 starb Vermeylen an Herzversagen.




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