Samstag, 4. März 2023

Nijhoff: Awater



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Der Niederländer Martinus Nijhoff (1894-1953) war gleich alt wie der Belgier van Ostaijen, aber ihre Werke könnten unterschiedlicher nicht sein. Der erste Weltkrieg hatte in Belgien verheerend gewütet, während die Niederlande verschont geblieben waren. Van Ostaijen und Nijhoff waren beide Meister der Umgangssprache, aber van Ostaijen legte nach den Erfahrungen des Krieges die traditionelle Verstechnik ab (siehe z.B. seine kabarettreife Alpenlieder, oder Singer). In den Niederlanden setzte sich dieser Umschwung erst nach dem zweiten Weltkrieg bei den "Fünfzigern" so richtig durch (z.B. Lodeizen). Nijhoff legte somit noch großen Wert auf die traditionelle geschliffene Verstechnik. Eines seiner bekanntesten Gedichte, ist "Awater", eines der wichtigsten der niederländischen Dichtkunst des 20. Jahrhunderts: Unter einer leicht leserlichen Oberfläche verstecken sich dermaßen viele Bilder und Symbolen, dass ganze Bibliotheken mit Interpretationen dieses Versepos vollgeschrieben wurden.
Der Name "Awater" an sich war Anlass unzähliger Interpretationsversuche, sogar so geistlose, wie dass es nur eine Abkürzung sei für die Zeile 36, die das ganze Gedicht zu beherrschen scheint: "Lees maar, er staat niet wat er staat..." (Lies nur, da steht nicht, was da steht"). ..."wat er staat" - "waterstaat". Waterstaat is der Sammelbegriff für alle Struktur- und Sicherheitsmaßnahmen im Bereich Wasser und Verkehr. Also vielleicht auch für die Niederlande insgesamt, die bestimmt ein "Waterstaat" sind. Nijhoff, der Mystifizierungen mochte, hat selber darauf hingewiesen, dass "A" an sich schon "Wasser" bedeutet, und "Awater" also "Wasserwasser". Niederländischer geht nicht. Bei so viel Freiheit erlaube ich mir auch einen Versuch."Awater" erinnert unmittelbar an "Avatar", ein Begriff, der in unserer IT-Gesellschaft neu in Mode gekommen ist. Aber er ist alt, sehr alt sogar. Im Hinduismus ist der Avatar (Sanskrit "avatara", der Hinabsteigende) die Inkarnation oder Erscheinung einer Gottheit. Im Gedicht weisen einige Stellen darauf hin:

"Sei hier anwesend, allererster Geist,
der Du am Anfang über den Gewässern streichst."

"Auf einmal Awater; er tritt aus einem Korridor hervor.
Ich sehe, wie blinzelnd er herunter kommt."

Kann Nijhoff den Begriff gekannt haben? Nun, er war ein belesener Mensch und kannte z.B. die anglo-amerikanische Literatur sehr gut. Ungefähr zur gleichen Zeit nimmt T.S. Eliot in seinem "Waste Land" ausführlich Bezug auf die Upanischad. Nijhoff war außerdem befreundet mit dem Dichter Johan Andreas dèr Mouw, pseudonym "Adwaita", der als Kenner des Sanskrit, (und des lateinischen und griechischen) zweifellos mit dem Begriff vertraut war. Zumindest klanglich sind "Adwaita" und "Awater" nicht weit aus einander entfernt. Wenn es jetzt ans Wortspielen geht: "Er staat niet, wat er staat": "niet wat er staat": "niet wat er". Das griechische aber auch das Sanskrit- Präfix für "un", "niet" oder "nicht" ist "a-". "Awater", "Avatar", "A-dwaita" - "Nicht-Zweiheit" eben. Eine schöne Mystifikation. Und so wahr: "Er staat niet wat er staat" - "Da steht nicht, was da steht".
Im Übrigen kommt "Awater" in den Niederlanden und in Deutschland als ganz gewöhnlicher Nachname vor.
Die Abschnitte des "Awater" reimen sich meistens nicht, dafür hat Nijhoff das Gedicht in durchgehender Vokalharmonie geschrieben: Der erste Vers in "-ee-", der zweite und dritte in -aa-, der vierte in -oo- usw. In der Übersetzung habe ich versucht, diese Tonalitäten beizubehalten.
Nijhoff war auch ein großer Übersetzer. Die Auszeichnung für Übersetzungsarbeit ist sogar nach ihm benannt. Eine Übersetzung hat er in Awater versteckt, das 250. Sonnet aus Francesco Petrarcas Canzoniere:

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Petrarca

"Stets hat sie mich getröstet, stets hat sie, als ich schlief
mit ihrer Ankunft sich gesorgt um mich
die Angebetete; doch heute kommt sie und zerbricht
den letzten Halt, der im Verlust mir blieb.
Ich seh sie vor mir, wie sie kniet danieder
in tiefem Kummer, angstvermischt;
ich hör', wie sie vom Glauben spricht,
doch Freude oder Hoffnung bringt's nicht wieder:
"Erinnerst du dich an den letzten Abend, als ich dich verließ,
ersparen wollt' ich dir die Tränen im Gesicht
als ohne Abschied ich die Welt verstieß?
Ich konnte nicht, ich wollte nicht dir melden den Bericht,
dass du begreifen musst, wie unser Urteil hieß:
Zu sehen hier auf Erden mich je wieder - hoffe nicht."

(Übersetzung aus Nijhoffs "Awater", J. Hoepelman 2018)


Sonnetto 250

Solea lontana in sonno consolarme
con quella dolce angelica sua vista
madonna; or mi spaventa et mi contrista,
ne di duol ne di tema posso aitarme;
che spesso nel suo volto veder parme
vera pieta con grave dolor mista,
et udir cose onde 'l cor fede acquista
che di gioia et di speme si disarme.
"Non ti soven di quella ultima sera
dice ella " ch'i' lasciai li occhi tuoi molli
et sforzata dal tempo me n'andai?
I' non tel potei dir, allor, ne volli;
or tel dico per cosa experta et vera:
non sperar di vedermi in terra mai".


Awater


"ich suche einen Mitreisenden"


Sei hier anwesend, allererster Geist,
der Du am Anfang über den Gewässern streichst.
Dein gutes Auge möge über dieser Arbeit weiden,
die wüst und leer ist, der Welt in soweit gleich.
Sie will nicht wie die letzte Ära sein,
vor Trümmerbergen stehend von Schönwetter leiern,
denn Singen, das ist Leidenschaft, die eitert,
was anfangs war, konnten nie Trümmer sein.
Nicht lange liegen bleibt der erste Stein.
Erneuert wird die Stille, die das Wort entzweit.
Das, was geschieht, kann nur erstmalig sein.
Gepriesen! Noah baut die Arche, aber keine zweite
und Jona predigt, doch zu Ninive für keinen.

Ich habe einen Mann gesehen. Der Mann hat keinen Namen.
Gib ihm auf einmal unser aller Namen.
Sohn einer Frau und eines Vaters.
Sobald die Sonne rot ist aufgegangen
geht er vorbei an meinem Fenster in die Stadt
und kehrt erst wieder, blau ist der Abend schon gefallen.
Er schafft in einem Büro, heißt dort Awater.
Schaut auf ihn. Bekleidet ist er mit Kamelhaar,
geheftet durch die Nadel. Sein Leib ist mager,
Heuschrecken und Honig sind ihm Nahrung.
Niemand hat je das, was er ruft verstanden.
Es ist Wüste, wo er Gebärden macht.
Mönchisches, Soldatisches haftet ihm an,
doch es wird nicht gebetet, nicht geblasen,
wenn man im Büro das Hauptbuch aufmacht.
Wie in einem Tempel sitzt man an der Tafel,
man schreibt auf Italienisch und Arabisch.
In Ziffern, niederrieselnd grau wie Asche,
steigen die Zahlenreihen in Orakelsprache.
Ruhe kehrt ein, das Thermometer steigt im Saal.
Dünn und salzig weht das ratternde Metall.
Die Schreibmaschine grübelt Irrensprache.
Lies nur, da steht nicht, was da steht. Was steht da?
"Mutter, niemals wirst den Pelz du tragen
wofür du jeden Pfennig hast gespart,
und nie mehr gehe ich an freien Tagen
mit einem Strauß zum Hospital,
sondern bringe Rosen dir zur Friedhofsgasse..."
Das ist es, was da steht; Awaters Züge sind erstarrt
als seine Rührung rührungslos verharrt.
Wie spät ist es? Awaters Müdigkeit macht sich bemerkbar.
Das Telefon schläft auf dem Schreibpult seinen Schlaf.
Teetassen werden emsig eingesammelt.
Die Uhr tickt, tickt, schlägt, bis es schlägt sechs minus halb.
Dann werden ausgedreht die grünen Lampen.

Heute, als ich die Fensterblumen goss
ist mir das Vorhaben gekommen,
Awater abzuholen im Büro.
Ich habe, seit mein Bruder starb, auf Reisen keinen mitgenommen.
Wenn ich einen Gefährten suche, bin ich's gewohnt
zu sehen, ob es passt, dass ist doch üblich so.
Heut' Abend folge ich Awaters Spur also,
ich schau mal, wie der Hase läuft, so sagt man wohl,
und morgen dann, geht alles gut, stell' ich mich vor.
So steh' ich vor der hohen Treppe, und ich scheue noch.
Es schlägt halb sechs. Die Zeit wird grenzenlos.
Passanten ziehen durch die Straße in einem dichten Strom.
In jedem Schatten wird nun Licht verstromt,
im Nebel suchen Umrisse die Form.    
O Bruder, du im Himmel, schau hervor.
Beschütze mich, damit kein Licht in meinem Schatten wohnt.
Lasse mich bitte ohne Bild und Ton. 
Auf einmal tritt Awater aus einem Korridor hervor.
Ich sehe, wie blinzelnd er herunter kommt.
Nicht Sterbliche, noch Stadt, noch Abendrot
gibt es für ihn. Er sputet sich von oben,
Stufen aus Sandstein entlang, vorbei an Schlangen Kupferrohr.
Es ist, als ob er einen Saum sieht, einen Horizont,
aus dem ohn' Unterlass ein Wetterleuchten glost,
als hätt' er das, von dem er träumt, im Ohr
und sieht den Ort, wo er's zu finden hofft.
So sputet er an mir vorbei - ich fühle mich durchbohrt.
Er hastet in die Eingangshalle vor.
Er steckt den Schlüssel in das vorbestimmte Schloss.
Vor ihm steht ausgedorrt ein Distelstock,
er nimmt den Stock, er wandelt pfeifend fort.
Er hat bedeckt, doch ich entblöße jetzt den Kopf:
Sei hier, noch einmal, Du, der Du in Höhen wohnst
so unbewohnbar wie Calvario.

Der Asphalt auf den Straßen ist einer Decke gleich.
Ich merke, dass der Widerhall, der mich begleitete
in der gefliesten Eingangshalle, draußen schweigt.
Die Stadt verleiht dem Fuß Unhörbarkeit.
Autos schieben, wie Karawanen aufgereiht,
mit leisem Lederknarzen sich an uns vorbei.
Awater hat sich, scheint's, beeilt.
Ja, doch, der Schein trügt nicht, er will auf Reisen.
Vor einem Modeladen hält er ein.
Er sieht, was eine Gruppe Puppen 
scheint
mit Plaid und Fernglas für die Reise,
die am gelben Strand des Nils verweilt,
Palme und Pyramide zeigen es zweifelsfrei.
Awater, was du dir überlegst, ich glaube, dass ich's weiß.
Beim Bild der Schifffahrtslinie, etwas weiter,
auf dem ein Beduine ein Schiff willkommen heißt,
das weiß am Horizont erscheint,
und beim Palast der Bank, noch etwas weiter,
gibt eine Liste über den Wechselkurs Bescheid.
So zieh'n wir beide weiter, am Schein der Schaufenster vorbei.

Er biegt auf einmal in eine Nebengasse ein.
Es klingelt eine Klingel. Da drinnen muss er sein.
Auf einem Schild: Rasieren, Haareschneiden.
Ein kleiner Raum, Schränke an beiden Seiten,
scheint durch den starken Duft von allerlei
Parfums und Wässerchen noch kleiner.
Awater - in der Drängelei
muss ich gestehen, wär' er mir fast enteilt -
sitzt in einem Umhang aus gestärktem Leinen
vor einem porzellanen Becken, blütenweiß.
Der Friseur macht seine Arbeit, ich setze mich derweil
als einer der bald dran ist auf einen Stuhl zur Seite.
Awater sah ich nie von so dicht bei,
wie jetzt im Spiegel; nie schien er mir dabei
so weit entfernt zu gleicher Zeit.
Zwischen den Flaschen, glitzernd wie Splittereis,
seh' ich, dass er im Spiegel einem Eisberg gleicht,
an dem entlang die glatte Schere seinen Schnabel streicht.
Doch es wird Frühling, und während breit
der Nebel hängt des Regengusses, der vorüber treibt,
pflügt durch durchwühltes Haar der Kamm die Scheitel.
Awater nimmt dann Abschied und zieht weiter
und ich verlasse das Geschäft als zweiter.

Der Zufall nimmt zum Ziel oft eine Kürzung.
Zufall, dass Awater an der Stelle landen musste
im gleichen Kaffeehaus, das ich mit meinem Bruder oft besuchte?
Kein Zufall, dieser Tisch war meistens frei für uns.
Ich setze mich woanders hin. Platz gibt's genug.
Der Kellner kennt mich. Zweimal schon hat er den Tisch geputzt,
was kann er sonst noch für mich tun?
Er zögert noch, in seiner Hand das weiße Tuch
und schweigt jetzt lange, neben meinem Stuhl.
"Die Zeiten sind vorbei" sagt er. Es ist ein Spruch nur,
aber ich verstehe, er denkt an meinen Bruder,
den Hund bei Fuß, und wie er mit dem Hut
keck auf dem Hinterkopf in das Lokal hineinfuhr
und wie der Wind es füllte mit einem kleinen Aufruhr.
Der gleiche Sand wie damals liegt noch auf der Flur,
Die gleiche Taube gurrt im Käfig den immer gleichen Ruf.
Hui, ruft der Wind, fort, fort! Jetzt ist es gut.
Und wer ist das? frag' ich, weil ich was sagen muss.
Er hat sofort das Richtige vermutet:
"Ein Kunde, der zum ersten Mal dieses Lokal besucht"
Dann zieht er hinter sich das Tresengitter zu.
An der Spüle wird das Spültuch jetzt benutzt. 
Was ist es, das Awater jetzt in seiner Tasche sucht?
In Maroquin gebunden, ein kleines, grünes Buch.
Ein Schachspiel für die Tasche, so könnte man vermuten.
Die Hand, die trommelt auf den Tisch, schöpft Mut
für die Vision, die hinter seiner Stirn sich auftut:
Schneeflocken schwirren zwischen Tropfen Blut.
Das Spiel wird neu gefügt zur nie gewesenen Figur.
Das Glas steht unberührt im Zigarettendunst,
der kerzengerade steigt; ein Rosenstock mahlt an der Decke Blumen.
Er sitzt allein, ein Mensch, der in sich ruht.
Er hat, was ein Planet hat, oder eine Blume,
den innerlichen Trieb, der ruht auf tiefem Grund.
Er leert das Glas und schließt das Buch.
Still vor sich schauend wird er von Traurigkeit besucht.
Er schaut in meine Richtung, so dass ich fast vermute,
dass er nach mir ruft, als er den Kellner ruft.
Doch nein, er rechnet ab, ich bitte um die Rechnung
und bald ziehen wir weiter zusammen durch's Gewusel.

Das Licht blitzt unaufhörlich den Schriftzug in Kopie
des Etablissements, wo Doppelreihen von Besuchern, wie
PKWs im Stau den Türwarter passieren,
der an der Eingangstüre die Glasmühle bedient.
Wir treten ein und es erklingt Musik.
Awater ist, so scheint's, kein unbekannter hier.
Wo er sich hin bewegt, drehen die Köpfe sich.
"Wie?" so sagt einer "kennen Sie Awater nicht?
"Ich meine, dass er so etwas wie Accountant ist.
Ich kenne ihn, aber intim nicht wirklich.
Welche sagen, abends liest er Griechisch,
andere behaupten, es sei Irisch..." -
bis plötzlich Ungewöhnliches geschieht:
Auf dem Podest erhebt ein Herr sich,
der Awater seinen Platz anbietet.
"Ich spreche" sagt er "im Namen aller hier.
In unserer Mitte ist ein überragender Artist."
Awater, zeigend auf das Tischgeschirr,
deutet an, dass er zu speisen vorzieht
und dass ihm lieber wär', wenn man ihn ließe.
Nicht oft passiert's, dass man am Billard eine Serie unterbricht.
Es tritt totenstille ein. Oben verdrängt man sich
an der Brüstung der Etage, voller Neugier.
Langsam drehen sich die Ventilatorschwingen.
Dann erhebt Awater sich und singt sein Lied:
"Stets hat sie mich getröstet, stets hat sie, als ich schlief
mit ihrer Ankunft sich gesorgt um mich
die Angebetete; doch heute kommt sie und zerbricht
den letzten Halt, der im Verlust mir blieb.
Ich seh' sie vor mir, wie sie danieder kniet,
in tiefem Kummer, angstvermischt;
ich hör', wie sie von Glauben spricht,
doch Freude oder Hoffnung bringt es nicht:
"Erinnere dich an diesen letzten Abend, als ich dich verließ,
ersparen wollt' ich dir die Tränen im Gesicht,
als ohne Abschied ich die Welt verließ.
Ich konnte nicht, ich wollte nicht dir melden den Bericht,
dass du begreifen musst, wie unser Urteil hieß:
Zu sehen hier auf Erden mich je wieder - hoffe nicht."
Awater schweigt. Er 
ist erstarrt zur Säule aus Granit.
Man applaudiert, wirft bunte Serpentinen.
Awater, steif wie eine Puppe, die
nicht trägt die eigene Mechanik,
wankt nun dem Ausgang zu, 
und sieht die Menge nicht.
Von seinem Rücken flattert noch Papier,
ein schmaler Streifen. Ich folge ihm von hier.

Ich versuche - still ist es in dieser Gasse -
jeden von Awaters Schritte zu erfassen.
Er merkt es, wenn ich einen nur verpasse.
Meine Bedenken lassen nicht mehr nach:
die Post war da, ich hab' der Putzfrau, dass
ich auf Reisen gehen könnte, gar nicht gesagt,
das Fenster angelehnt, das Feuer im Kamin ist an,
ich habe nichts dabei, und überhaupt - was soll das,
auf Reisen gehen. - An einer Schnur taumelt der Drache
und die Bedenken steigen, aber bei jedem Umschlag
hellt die Besorgnis auf: Egal! Es ist mir doch egal!
Ich führe das Gespräch mit mir als Diskutant,
den Kopf geduckt, den Kragen aufgeschlagen.
Die Straße weitet sich. Es tropft aus den Platanen.
Vor uns, gerade aus, verläuft die Eisenbahn.
Wird hier, um Mitternacht, ein Meeting abgehalten?
Der Platz ist proppenvoll. Von flackernden Fackeln
angeleuchtet, auf dem Podest aus Latten
steht eine junge Frau, sie trägt die Tracht
der Heilsarmee. Touristen, rucksackbepackt,
Kinder, Frauen, Arbeiter im Blaumann
gehören der Besuchermenge an.
"Wir leben" sagt sie "unser ganzes Leben falsch."
Awater, 
seine Schritte innehaltend,
dreht sich zu mir um, als hätte er mich immer schon gekannt.
Woher? In der Theaterpause? In der Straßenbahn?
Im Blick, womit er mich betrachtet liegt die Frage,
während er - weil's kräftig weht - den Hutrand
festhält. 
Der Wind, der spielt mit ihrem Haar
legt eine goldne Schleife auf den Ärmel der Soldatin.
"Der Liebe" sagt sie, "traut man sich nie vergebens an."
Awater bleibt, ich gehe fort, ich haste,
als eilte ich zu einem Zug, als ob ich den verpasste.

Schaufelweise wirft der Heizer Kohle in den heißen Schlund,
der Maschinist hält Ausschau durch das Augenrund
und vor der Überdachung, über den Gleisfiguren,
fangen die Signale an mit dem Präludium.
Die Uhr springt von Minute zu Minute.
Wieder ruft die Lokomotive, ununterbrochen ruft sie,
rufend, dass der Plan keine Verspätung duldet.
Die Seufzersäule wird zum Wolkendutt.
Doch glaube ja nicht, dass der Orient Express sich kümmert darum,
wie es dir geht; er teilt nicht deinen Jubel
wenn du die Namenschilder siehst einer Kultur,
die dich mit Klang von Abenteuern ruft.
Sein Fahrplan kennt nicht die Berufung.
Verschiebst du, oder hegst du eine Hoffnung -
egal. Noch einmal: Ihm ist es egal. Auch für den Selbstbetrug
eines Gefährten ist er immun.
Dass du, alleingelassen, in seinem Luxus
beengt dich fühlst, und an der Fensterscheibe kurbelst
und zurückschaust auf den Bahnsteig; oder dass du
das größte Glück erfährst, das für das Individuum
bereit liegt: Zu wissen, dass gelenkt ich wurde,
umsonst war's nicht, ich war wohl nicht der Dumme, -
Gepriesen! - Ihm ist es egal. Er glänzt Azur,
klirrende Kettenglieder formen seine Rüstung.
Die Lokomotive singt, sie hebt das Knie, gibt nach dem Druck.
Der Zug fährt ab zur festgelegten Stunde.


Martinus Nijhoff

1934


Übersetzung Jaap Hoepelman
Januar/August 2018


Awater NL

Lidy van Marissing. Lange vernachlässigt.

Lidy van Marissing. 1942 Lidy van Marissing schrieb experimentelle Poesie und Prosa. Ihre Kunst ist manchmal schwer verständlich und wurde l...