Mittwoch, 31. August 2022

Die Ballade vom Gasfitter

 


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Gerrit Achterberg
1905 - 1962

Ich habe mich an eine Art Mammutaufgabe gewagt. Gerrit Achterbergs Ballade vom Gasfitter, ein Zyklus von 14 Sonetten. Achterberg hatte ernste psychische Probleme. Seine Vermieterin (Geliebte?) hat er erschossen und ihre Tochter...man weiß es nicht so genau. Er wurde verschiedene Male in eine psychiatrische Klinik eingewiesen.  In seinem Wahn versuchte er immer wieder die Ermordete herauf zu beschwören, und diesen Wahn vermischte er mit christlichen Motiven. Er kam aus einem streng christlichen Elternhaus, und Gott, Tod, Teufel, Jesus, Petrus, Geliebte und Personal der psychiatrischen Klinik liefen bei ihm durcheinander. Die Art in der er mit der Alltagssprache umging war wichtig für die Nachkriegspoesie und wurde von z.B. Martinus Nijhoff sehr bewundert. In der "Ballade vom Gasfitter" findet man diese Elemente alle wieder. Biblisches und Alltägliches werden vermischt und scheinbar banales technisches Vokabular wird mit Symbolik aufgeladen. Die Nähe und den Gegensatz von "God" (Gott) und "gat" (Loch) nutzt Achterberg virtuos in der Darstellung des Wahnsinns seines Klempners.  Hat die Pistole nicht ein Loch verursacht? Die "Ballade" ist nicht leicht zu interpretieren, aber Achterbergs Wimmelbild aus Bildern und Bedeutungen stellt ja nicht umsonst die Welt eines Wahnsinnigen dar.
Die Ballade vom Gasfitter wurde 1954 mit dem Poesiepreis der Gemeinde Amsterdam ausgezeichnet. Für sein gesamtes poetisches Werk erhielt Achterberg 1959 den Constantijn Huygens Preis. 

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Die Ballade vom Gasfitter

Gerrit Achterberg, 1953.

I

Du bist von hinten zu den Wohnstätten gekommen.
An den Fassaden, zwischen den Gardinen,
bist Du fortlaufend aus dem Nichts erschienen
als ich im Gehen Einblick hab' genommen.

Im Weitergehen musst Du ab und an erscheinen,
das nächste Fenster gibt mir Recht und du wirst aufgenommen.
Ein Jansen wohnt hier, Jansen mit den seinen,
in seinem Namen möchtest Du entkommen.

Doch das heißt nichts. Die Türen sind geduldig;
sie haben Klingel, Briefkasten und Stufen.
Der Apfelkaufmann lockt mit seinem Rufen,
und es gibt viele Arten Dieterich.
Auch ich komme herein, todernst, total unschuldig,
zu Ihren Diensten, als Gasfitter berufen.

II

Dann - am hellen Tag bei Dir bei meiner Arbeit,
vermummt als Angestellter der Gemeinde - gehen
meine Augen rund und sehe ich Dich stehen.
Die Decke wird zum Deckel mit der Zeit.

Die Wände sind aus Erde. Wir laufen an.
Die Kammer ist gesättigt, wie ich merke.
Es geht auch nicht. Ich zieh' die Schrauben an.
Beschränk' ich mich auf  die Gewerke,

so bleiben wir bei unserem Inkognito,
während ich bückend, kniend, den Fehler richte,
bäuchlings überprüfend, was ihn verursacht.
Und immerzu nur denken: Es ist besser so.
Totschweigen, mit einem Hammerschlag vernichtet.
Totstille, die die Hammerschläge heil macht.

III

Sollte ich die Wohnung inundieren?
Oder Löcher in das Gasrohr drehen?
Ich kann die Falle sehen; muss Schlüsse inspizieren
und mach' den Fehlschluss hastig ungeschehen.

Dann würde nämlich später in der Zeitung stehen:
"Aus unbekanntem Grunde fand ein Fitter,
in der Ausübung seines Bestehens,
den Tod durch Gaserstickung. Das Geschehen
im nächsten Wohntrakt war genau so bitter,

wo die Vermieterin ein gleiches Ende fand.
Sie lag vornüber, in der ausgestreckten Hand
steckte ein Brief, in dem am Anfang stand geschrieben:
"Egal wie groß die Welt, ich komme wieder".
Sie wurde, scheint es, überrascht beim Lesen
kein Überspiel ist es gewesen".

IV

Das kleine Loch ist endlich dicht.
Langsam suche ich mein Zeug bei-
sammen, die Beine sind wie Blei.
Der Schweiß läuft über mein Gesicht.

Als ob ich Übermenschliches verrichte,
will ich mit einer Geste mich erklären,
und dreh' mich zu Dir um, doch Du bist nicht mehr
da. Es gibt nur noch das späte Mittaglicht.

Den Werkzeugkasten hebe ich vom Boden auf
und stell' ihn auf die Schulter. Im Gang
erwecken meine Schritte hallenden Gesang.
Die Tür fällt zu. Der Straßenlärm hat beinah auf-
gehört. Ein dichter Nebel nimmt die Sicht.
Recht hatt' ich diesmal offensichtlich nicht.

V

Wieder zuhause, es ist Essenszeit,
ich bin zu Tisch, da geht das Telefon.
Ich nehm' den Hörer ab und in bestimmtem Ton
klingt eine neue Order von der Überseite.

Der Herr Direktor. Seine Stimme laut und schrill,
mit im Verborgenen ein weicher Ton.
"Morgen in die gleiche Strasse gehst du, mein Sohn.
Es ist sehr wichtig, was ich von dir will".

Kein Esel stößt sich zweimal an dem gleichen Stein.
Am besten wär', ich blieb' hier nicht allein,
lieber noch heute Abend angeschaut
das Hochhaus, auf die schnelle hingebaut
dort gegenüber. Mit jedem Nummernschild
wird mir dann klarer, was er von mir will.

VI

Ich konnte diese Nacht nicht mehr erfahren.
Der Hausmeister war eingeschlafen. Abgespannt,
weswegen ihm die Nummern glatt entfallen waren.
Sein Kopf lag auf dem Arm gekantet. Gespannt


warf ich den Blick durchs Fenster. Es wehte
sanfter Wind. Auch raschelte es leise
über dem Boden. Pflichtvergessen lebte
hier ein Mensch, der mir aus dieser Scheiße

hätte helfen können, wenn es nicht
so leer geworden wäre und zu düster,
als dass ich hätte wecken dürfen mit Geflüster.
Dann würde er den Kopf verlieren. Das ging nicht.
Auch den Direktor koste es das Haupt.
Niemand hört mich gehen. Hat er aufgeschaut?

VII

Schon unterwegs, kaum ist die Nacht vorbei,
der Schlaf noch in den Augen, scheinen mir
die Straßen in der ersten Stunde vogelfrei,
dabei bezog das Endziel schon Quartier.

Ein sicheres Gefühl, wie früher nie gewesen.
Einer von der Direktion, auf einem Zwei-
rad. Ich grüße, doch er er schaut an mir vorbei.
Sicher wieder Knatsch mit seinem Besen.

Vielleicht erscheint es ihm verdächtig,
dass er mich trifft in Stadtbereichen,
wo ein Fitter nichts mehr kann erreichen.
Hier wohnt ein junges, ruchloses Geschlecht
in einem anderen Licht. Wo man mich registriert hat.
Deswegen richte ich die Schritte richtung Stadt.

VIII

Ich nähere mich der letzten Möglichkeit.
Weiße Knöpfe, in einer Reihe bissbereit,
verspotten mich, wie falsche Zähne aufgereiht.
Verbissen führen meine Finger Streit.

Während ich im Stehen nagelbeiß',
springt jäh die Tür auf. Als wäre sie bestellt -
die Putze hat den  Ascheeimer hingestellt.
Ich hätte mich sonst nie entschieden, doch ich weiß:

Die Zeit ist knapp. Das Loch, wo ist es, will ich wissen.
Sie zeigt nach oben mit einer Spur Sarkasmus,
die bedeutet: Du bist wohl nicht ganz dicht.
Das weiß ich; Ohne Beten bin ich aufgeschmissen.
Der Aufzug fährt nun aufwärts richtung Schluss
von dem, was noch kein Fitter hat gedichtet.

IX

Je höher, dass ich steige, umso größer die
Entfernung zwischen Dir und mir. Das Leben
fühlt sich an von Nickel und von Stahl umgeben.
Ein leeres Nietloch gab's in diesem Bau noch nie.

Hier gibt's kein Gas. Gott ist das Loch. Er stürzt
die Tiefen über mich, um zu erleben
an einem dreisten Fitter, das Gefühl sich göttlich zu erheben.
Ein Loch, das sich mit jedem Stockwerk kürzt.

Stockwerk über Stockwerk stürzt nach unten.
Bestürzter kann kein Fitter sein.
Womöglich fällt ein letztes Wort mir ein,
wenn ich ihn frage nach dem ersten Grund.
Ich verspüre einen Stoß. Hier muss ich raus
und setz' mich Seinem Ratschluss aus.

X

Türe an Türe öffnen sich die Säle.
Herren aller Zungen, Rassen, Länder
rufen im Chor, als sähen sie Gespenster:
"Uns kannst du keinen Stuss erzählen."

Bin ich dafür unterirdisch auf dem Bauch gelegen?
Hat mir der Abstieg in der Glasschacht
nur einen Beutel Schmutzwäsche gebracht?
Hört, wie die sich emsig hin und her bewegen.

In dieser Gegend schau' ich mich ein wenig um.
Inzwischen wird es Mittag, soviel ist mir klar.
Die Schulen haben aus. Die Stoßzeit ist gekommen.
Die Kinder, von den Müttern mitgenommen,
erzählen. Fahrräder klingeln. Autos fahr-
en schnell an mir vorbei, als stünd' ich nur herum.

XI

In der Asche drehen Gasfabriken leer
um ihre Achse; es konnt' ein Vakuum entstehen.
Bedenke Leser! Nur eine Seite vorher
sah seine Pläne grandios daneben gehen

derjenige, der ohne Hoffnung auf nur irgendwas,
ängstlich wie ein Hund davon geschlichen war,
doch der im Blitzlicht Ihrer Augen las,
wie die Erwartung eines Fitters war.

Zur Chefetage nehme ich die Kürzung.
Der Herr Direktor öffnet mir persönlich
und unterwirft mich einer schmerzlosen Befragung.
Hier weiterhin zu lügen lohnt sich nicht.
In seiner Brille wimmelt es, als weint er über mich.
Er schüttelt meine Hand, ermannt sich, zieht sein Spottgesicht.

XII

Der christliche Gewerkschaftsbund, zu dieser Zeit
ruft alle Klempner auf, sich unverzüglich zu beeilen
zur Hauptversammlung, um ihnen mit zu teilen,
dass einer unter ihnen die Regeln hat entweiht,

weil er mit den Instrumenten hat geschafft,
wo immer er sich aufhielt, so der Befund
und wegen Schäden an der Körperschaft,
fordert Bekenntnis seiner Schuld aus diesem Grund.

Zum ersten Mal in der Geschichte
knien die Gas- und Wasserwerker nieder,
ohne zu suchen, wo die Löcher sich verstecken;
zusammen, solidarisch in den letzten Ecken.
Dann spricht der Leiter: Sündige nie wieder!
Sie ziehen hin, sind sich todsicher.

XIII

Nach Jahren finden wir den Klempner
wieder, im Altersheim. Die Haare ausgebleicht,
ein seniler Rentner, der im Verzeichnis
aller Straßen mümmelnd auf die Namen zeigt.

Tisch und Bett muss er benützen
mit Boten, Wechsler und Monteur.
Weil mit ihm Essenfassen ein Malheur
ist, kriegt er ständig auf die Mütze.

Bis zu seinem Tod ist er versorgt.
Krankheits- und Begräbnisbeitrag reichen
gerade um genügend Karitas zu zeigen
und zu verhindern, dass der Vater ihn entsorgt.
Obdach stellt die öffentliche Hand.
Das Recht auf Kautabak gehört zum Reglement.

XIV

Die Augen gingen zu zum Schluss.
Der Mund ging auf und wurde zugebunden.
Gemessen wurde er und für gepasst befunden,
den Sarg zu füllen, der Länge nach sechs Fuß.

Alle erbrachten ihm den letzten Gruß:
Jansen, Putze und Direktor, in dieser Stunde
mit denen aus dem Hochhaus fest im Bunde,
wie ich, in Frack, Stock und Zylinder, wie es muss.

Am Grab hielt jedermann den Mund.
Man trat hervor und schaute kritisch zu,
wie der Fitter langsam in den Grund
sank, vielleicht um Irrtümer zu sichten
als er dabei war, sein letztes Loch zu dichten.
Er ruht in Gott. Die Erde deckt ihn zu.



Übersetzung Jaap Hoepelman
November 2019

De Ballade van de Gasfitter
Iemand van de Directie

Montag, 8. August 2022

Olla uogala und Egidius: Liebe, Tod und Trauer

 

Liebe und Tod - die großen Themen der lyrischen Dichtung. Die niederländische Lyrik macht  da keine Ausnahme: Die älteste erhaltene lyrische Zeile, das "Olla uogala", sehnt sich nach Liebe, das ebenso berühmte, viel spätere "Egidius" trauert um den Tod eines geliebten Menschen.

Das "Olla uogala" wird häufig als das älteste niederländische lyrische Fragment betrachtet. Der Text ist um 1100 in der Abtei zu Rochester entstanden (Zeuge de intensiven Beziehungen zwischen Flandern und England) und befindet sich heute in der Bodleian Library in Oxford. Die Zeilen sind vermutlich Teil eines Liebesgedichts und sie wurden als "Probatio Pennae", eine Federprobe auf dem Vorsatzblatt einer Handschrift geschrieben. Der Text ist nicht unbedingt leicht zu entziffern und lässt Raum für Interpretationen. Wie auch immer: Offensichtlich hatte der Schreiber noch anderes im Sinn als nur das Abschreiben frommer Texte.

hebban olla uogala nestas bigunnan
hinase hic enda thu
wat unbidan we nu

Eigentlich sind die Zeilen erstaunlich leicht verständlich und es ist irgendwie schön, sich mit einem Mönch aus dem elften Jahrhundert in der eigenen Sprache unterhalten zu können.

haben nun alle vögel nester begonnen
nur nicht ich und du
wir warten noch. wozu?


Das Egidiuslied ist die Klage über den Verlust eines Freundes. Es ist eines der bekanntesten Gedichte aus dem Mittelalter und stammt aus Flandern, vermutlich Brügge um 1400. Als Teil der Gruuthuse-Handschrift, einer Sammlung Texte, die dem Patrizier Lodewijk van Gruuthusen gehörte, sind Text und Melodie in "Stäbchennotation" erhalten geblieben. Über den Autor gibt es nur Vermutungen.
Heute wird das Manuskript in der Königlichen Bibliothek in den Haag verwahrt.

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/dd/Louis_de_Gruuthuse.jpg 
Lodewijk van Gruuthuse

Das Egidiuslied

Egidius, wo bist du blieben?
Du fehlst mir sehr, Geselle mein,
Du nahmst den Tod, mir blieb das Leben,

Das war Gemeinschaft, gut und fein,
Dass einer starb, musste das sein?
Zum Thron kannst du dich jetzt erheben,
Heller als der Sonnenschein,
Alle Freud' ist dir gegeben.


Egidius, wo bist du blieben?
Du fehlst mir sehr, Geselle mein,
Du nahmst den Tod, mir blieb das Leben,

Nun bet' für mich, ich muss noch leben,
Noch nicht vorbei ist meine Pein.
Bald wird’s ein Plätzchen bei dir geben,
Ein letztes Lied muss jetzt noch sein.
Der Tod holt schließlich jeden ein.

Egidius, wo bist du blieben?
Der Tod für dich,  ich muss noch leben,
Du fehlst mir sehr, Geselle mein,
Das war Gemeinschaft, gut und fein,
Dass einer starb musste das sein?


Übersetzung Jaap Hoepelman 2016


Die Musik kann man unter dem angegebenen Link finden:

Egidius

und hier den mittelniederländischen Text:

Het Egidiuslied

Egidius waer bestu bleven
Mi lanct na di gheselle mijn
Du coors die doot du liets mi tleven
Dat was gheselscap goet ende fijn
Het sceen teen moeste ghestorven sijn

Nu bestu in den troon verheven
Claerre dan der zonnen scijn
Alle vruecht es di ghegheven

Egidius waer bestu bleven
Mi lanct na di gheselle mijn
Du coors die doot du liets mi tleven

Nu bidt vor mi ic moet noch sneven
Ende in de weerelt liden pijn
Verware mijn stede di beneven
Ic moet noch zinghen een liedekijn
Nochtan moet emmer ghestorven sijn

Egidius waer bestu bleven
Mi lanct na di gheselle mijn
Du coors die doot du liets mi tleven
Dat was gheselscap goet ende fijn

Het sceen teen moeste ghestorven sijn. 

Sonntag, 5. Juni 2022

Nicolaas Beets. Nur ein frömmelnder Pfarrer-Dichter?

 


Nicolaas Beets 1814-1903


In den "Grassprietjes" des Cornelis Paradijs wurde so gründlich mit der bis in den 80. Jahren des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Poesie der Pfarrer-Dichter aufgeräumt, dass bis tief ins 20. Jahrhundert kein Mensch noch auf die Idee gekommen wäre, ihre Arbeiten eines Blickes zu würdigen. Im Unterricht am Gymnasium wurde uns mehr als klargemacht, dass es sich hier um frömmelnde Reimemacherei handelte, die dazu noch, ein vernichtender Vorwurf, kleinbürgerlich sei und die man am besten hastiglich hinter sich lassen sollte, auf dem Weg zur freien Poesie der allerpersönlichsten Gefühle. Van Eeden, alias Cornelis Paradijs, selber kein schlechter Dichter, fertigte die Pfarrer ab mit Versen wie

...

Schreibt nur, O Hollands Predigtherren!
Schreibt nur, Ihr, in der Furcht des Herrn:
Schlechten Reim wurde man nie gewahr 
Unter Beffchen und Talar.

In der Lampe funzelt heilges Öl
Dichten ist Ihr Monopöl;-
Der Herr sieht zu und überwacht,
Dass Ihr gute Verse macht.

So schreibt und schreibt, Ihr Seelsathleten
Schreibt mehr, bald werdet Ihr Poeten
Segnend, segnend ruhet Gottes Hand
Auf dem Betrieb im Pfarrgewand.

(Übersetzung Jaap Hoepelman)

...


Ein wohl sehr prominenter Pfarrer-Dichter war Nicolaas Beets, Prediger am Dom zu Utrecht, Professor der Kirchengeschichte und christlicher Ethik an der Universität Utrecht, Rektor der Universität, Ehrendoktor, Mitglied der niederländischen Akademie der Wissenschaften, Ehrenmitglied der Gesellschaft der niederländischen Literatur, Ritter des Ordens vom niederländischen Löwen, Ritter des Leopoldsordens von Belgien, Offizier des Ordens von der Eichenkrone und Ritter des goldenen Löwen von Nassau.  Er wurde dementsprechend von Cornelis Paradijs mit u.a. folgenden Zeilen ins Fadenkreuz genommen:



O Beets! Wär's nicht verboten
Von Gott in den Geboten,
Wie würd' ich Dich anbeten.
Jetzt muss Er Dich vertreten.
Flach lege ich mich hin,
Hab Ehr' und Lob im Sinn:
Bist Du der Leiche gleicher,
Strömen die Reime reicher.

...

(Übersetzung: Jaap Hoepelman)

Aan N. Beets


 und so stand er als Dichter lange auf der Liste der Verfemten. In 1837 fing Beets als Student die "Camera Obscura" an, eine Sammlung humoristischer Skizzen aus dem holländischen Alltagsleben, die in kürzester Zeit unglaublich beliebt wurde. In Wikipedia zähle ich 73 Auflagen bis 2008. Aber auch die "Camera Obscura" konnte ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute nicht mehr mit dem Beifall der offiziellen Literaturkritik rechnen. Zu altbacken, zu selbstgefällig, zu kleinbürgerlich, zu....aus der Zeit gefallen. Was den enormen Erfolg der Camera nicht im Geringsten erklärt. Aber das ist vielleicht auch nicht Aufgabe der Literaturkritik. 

Leider wurde und wird eine andere Aktivität des frömmelnden Kleinbürgers Beets bis heute kaum zur Kenntnis genommen: Sein Engagement gegen die Sklaverei, ein Thema, das 1856 kaum jemanden sonst in den Niederlanden bewegte, 1856, das Jahr in dem Beets seinen Vortrag "Die Befreiung der Sklaven" hielt für die "Gesellschaft zur Förderung der Abschaffung der Sklaverei". Es dauerte noch bis 1863 bis die Niederlande die Sklaverei in Suriname offiziell und bis 1873 bis sie sie in der Praxis abgeschafft hatten.(Siehe auch "Anton de Kom").

In der Poesie dauerte es bis Gerrit Komrij (wahrlich kein Fürsprecher der Frommigkeit) 1979 in seiner Anthologie der niederländischen Poesie Beets mit nicht weniger als 11 Gedichten würdigte, darunter "De moerbijtoppen ruisten", das ich hierunter übersetzt habe, als kleine Wiedergutmachung.


Nicolaas Beets, 1884


(2 Samuel 5:24)


"Die Maulbeerwipfel rauschten"

      Gott strich entlang;

Nein, nicht entlang, er harrte

Er wusste, wie ich warte

      Und sprach mich an;


Sprach zu mir in der stillen,

      Der stillen Nacht;

Gedanken, die entsetzten,

Verfolgten und verletzten

      Vertrieb er sacht.


Ließ seinen Frieden sinken

      auf Seel und Sinn;

Von seinem Vaterarm gestützt

War umsorgt ich und geschützt,

      Und schlief darin.


Den Morgen, der mich weckte

      Begrüßt' ich sorgenfrei

Kein Traum konnt' mich erschrecken

Und Du, mein Schild und Stecken,

     Warst nahebei


Aus: Dennenaalden (1900)


De Moerbeitoppen ruischten


(Übersetzung Jaap Hoepelman Juli 2022)

Donnerstag, 12. Mai 2022

Anna Bijns. Mehr Saures als Süßes. Streitschrift und Refrain.

 

Anna Bijns
Antwerpen 1493-1575

Die Reformation kannte Twitter nicht, dafür reichlich Flugblätter und Streitschriften. Die Teilnehmer legten sich damals wie heute keine vornehme Zurückhaltung auf.*


       Papst Alexander VI. Um 1500 **

Teufel mit Luther als Sackpfeife um 1535**



Anna Bijns (1493-1575) war eine Ausnahmeerscheinung. Sie ergriff eifrig die Partei der Päpstlichen und obwohl sie als Frau zu den offiziellen Kammern der "rederijkers" (rhetoriker) nicht zugelassen wurde, war sie als Dichterin hochgeschätzt und gepriesen. 
Sie war die Tochter einer Antwerpener Schneiderfamilie und auch ihr Vater war schon bei den Rhetorikern aktiv.  Bijns Begabung muss früh aufgefallen sein - es wird vermutet, dass sie es war, die als 15-jährige in 1512 erwähnt wird, als Beinahe-Siegerin in einem Dichterwettbewerb mit einem Refrain auf Maria.  
Mit der armseligen Kürze einer Twittermitteilung hatten die rederijkers nichts am Hut. Ein Refrain hatte aus mindestens 4 Strophen zu bestehen, abgeschlossen mit einem Kehrreim. Das Refrain bleibt Bijns bevorzugte Form, in der sie ihre Virtuosität in Reim und Rhythmus voll ausspielen konnte, besser als alle Kollegen Rhetoriker. Sie wandte es in vielen Gedichten und Pamphleten an, meistens gerichtet gegen die teuflischen lutherschen Einblasungen.  Ihr erstes Band erscheint 1528, 


"Dit is een schoon ende suverlick boecxken inhoudende veel scoone constige refereinen van de eersame ende ingeniose maecht, Anna Bijns" 

das zweite und das dritte 1548 und 1567. Es folgen viele Nachdrucke. Daneben sind umfangreiche Handschriftensammlungen erhalten mit  ihren Arbeiten die zum Repertoire der Rhetoriker gehörten, darunter Liebesgedichte und recht sarkastische über Ehe und Familie: "Glücklich die Frau ohne Mann!". Ihre Sprache konnte  richtig derb sein. Einen Mann, der sich um einen Säugling kümmert stellt sie so bildhaft dar, dass einem ein Gemälde Adriaan Brouwers einfällt. Ich habe aber gelernt, dass sich in dieser Hinsicht im Laufe der Zeit nichts Grundlegendes geändert hat:

Adriaan Brouwer Antwerpen 1605-1638 "Der Geruch"



"En als 't hem bescheten heeft, moet ik schiere
 
Het grofste gruis van den doeken spoelen.
 
Pis, kindeken pis, pis, ik dan krajiere,
 
Wanneer dat 't kakken wille of poelen."

Und hat's geschissen, bin ich in Eile,
Die dicken Batzen aus den Windeln zu pulen.
Piss, Kindelein, piss, piss, ich könnte weinen,
Wenn's kacken möchte oder strullen.


Sie heiratete nicht. Einige vermuten, dass ihr Sinnspruch "Mehr Saures als Süßes" darauf zurück zu führen ist, andere, dass sie damit auf ihre Neigung zu Satire und bissigen Spott anspielt. Vielleicht trifft beides zu. 
Bis ins hohe Alter unterrichtete sie in ihrer eigenen Schule in Antwerpen. 


Gedenktafel Keizerstraat 57, Antwerpen

Anna Bijns verdankte ihren Erfolg der Druckpresse. Nicht nur als DichterIn: Als "Branbanter Sappho"  war sie,  Anfang und Mitte des 16. Jahrhunderts, der in den Niederlanden am meisten gedruckte Autor überhaupt. Ihre Kunst wurde über die der männlichen Kollegen-Dichter gestellt. In späteren Jahrhunderten geriet Bijns kunstvoll gedrechselte Poesie - wie auch die der Rhetoriker allgemein - in Vergessenheit. In letzter Zeit, mit unter dem Einfluss von Gerrit Komrij, dem großen Rhetoriker der Neuzeit, findet eine bescheidene Bijns-Renaissance statt.  Von 1985 bis 2016 existierte sogar ein Anna Bijns Preis als Pendant zum P. C. Hooft Preis um die Arbeit weiblicher Autoren angemessen zu würdigen. 

Eines der bekanntesten Refrains der Anna Bijns ist ein polemischer Vergleich zwischen Martin Luther, dem Reformator, und Maarten (Martin) van Rossem, Graf, Bandit und notorischer Kriegsverbrecher (man verzeihe den Anachronismus), woraus van Rossem als der bessere hervorgeht, mit dem Kehrreim:

"Doch scheint Martin van Rossem der beste von zweien."

Und ja, manchmal standen Bandenchef und Reformator sich recht nah:



Maarten van Rossem
1478-1555

"Sengen und Brennen sind die Zierde des Krieges"



Martin Luther 
1483-1546

"man soll sie zerschmeißen, würgen, stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man einen tollen Hund erschlagen muss."

Für Bijns war Luthers Treiben aber schlimmer, weil fataler für das Seelenheil, als van Rossems Mordbrennerei. 
Sarkastisch konnte sie sein: Im Vergleich zwischen van Rossem und Luther scheint sie sich auf einen Lutherschen Spruch ("Die Welt schändet immer, was man loben soll, und lobt, was man schänden soll." ***) zu beziehen.

Anna Bijns

um 1545 



"Doch scheint Martin van Rossem der beste von zweien"



Martin van Rossem, inmitten seiner Mörderbande,

Hat schon viele schöne Häuser abgebrannt.

Aber stelle einmal Luthers Tun daneben:

Durch den sind Kirchen, Klausen, Klöster überrannt,

Manch braver Leute Kind, die Zahl ist unbekannt,

Aus den Klöstern gejagt, dem Verfalle preisgegeben,

Rauben müssen sie und stehlen, um zu überleben,

Einige von ihnen machen mit beim Rossemschen Gelichter.

Doch warum allein bei Rossem ein Geschrei erheben?

Zeigt nicht Luther eine schlimmere Geschichte?

Mache auf die Augen, ich kenne Dich zwar nicht,

Du, der Rossem tadelt und Luthers Lob will sprechen, ***

Schaue doch auf alles das, was dieser hat verrichtet.

Größer als van Rossems sind die Lutherschen Verbrechen.  

Ist es Dir auch gleich, was falsch ist und was wahr,

Diese Wahrheit kannst Du nicht verneinen:

Tugend fehlt den beiden Martins ganz und gar,

Doch van Rossem Martin scheint der bessere von zweien.


Van Rossems Belagerung von Antwerpen 1542




(Handschrift A)

(De beste van tween)

*Gewalt in der Sprache


*** "Die Lutherum loeft ende Rossom laect."

Übersetzung Jaap Hoepelman, Mai 2022


Dienstag, 19. April 2022

Die Vromans. Das Alter.

 

 Im Alter wird manchmal die große Trommel noch einmal ausgepackt und werden Gott, Tod und Welträtsel zum letzten Mal in Jamben zum Laufen gebracht. Nicht so bei Vroman. Vromans Gedichte wurden immer schlichter. Im alltäglichen Altwerden wird der Bedarf an Geistesakrobatik immer geringer. Man muss nun wirklich nicht mehr renommieren. Eine extra Dimension wird durch eine gute Portion schwarzen Humors beigetragen. Vor kräftigen Bildern ist Vroman jedoch nicht bange, z.B. wenn er Tine mit "Urne" anspricht: "Ist dir im Winter, Urne, kalt wie Eis,...."
Leo Vroman stirbt in Fort Worth, 22 Februar 2014, Tineke Vroman in Fort Worth, 22 Dezember 2015.

Leo Vroman

Vergiss es!

Ach, wie verdächtig angenehm
im Bett der Länge nach
zum Weckerstellen zu bequem
heute nacht

und morgen nicht der Ringkampf
zwischen Beinkleid und Unterhose,
keine zehn Minuten Putzkrampf
auf Zahnfleisch und Parodontose

kein gruseliger Ruhm und
neuer banger Einband!
Von Beileidsbekundung und
Blumen nehmen Sie bitte Abstand.

Aus: 'Daar', 2011.


Vergeet het!

Übersetzung Jaap Hoepelman Januar 2017

Leo Vroman

Schließung
Kannste morgen mich nicht wecken
bitte nicht erschrecken:
schließlich kennen alle Opern
und alle Bühnenstücke
solche kleine Augenblicke,
herunterfallende Vorhänge
und ähnliche Unfälle.
Dies ist nun mein Missgeschick.

Schließ dann mein Gesicht,
den Mund und die Augen
mach ordentlich dicht
so vollendest du mich.

Lass mich so gehen,
die Ohren nur
lass offenstehen
man weiß ja nicht.



Aus: 'Daar', 2011.

Sluiting

Übersetzung Jaap Hoepelman

Leo Vroman

Aber wenn...

Du schreibst als ob wir gehen wie wir kamen:
das kultivierte Ehepaar, immer zusammen,
doch wo bleibe ich, wenn du so plötzlich gehst,
dass noch dein Teller in der Spüle steht?

Soll ich ihn einfach, altersträge
sowieso, mit Überlegung,
etwas gekrümmter meinetwegen,
spülen und zum trocknen legen?

Deutlicher anwesend in der Nacht
und deutlicher abwesend noch am Morgen
bleibst du mir dann kurz mal unvollbracht
und ich will Unbesorgtes nicht besorgen:
wir halten bis du heimkehrst Wacht

Ist dir im Winter, Urne, kalt wie Eis,
und, ärmste, du gefrorne Asche bist,
dann wärm' ich dich mit Zimt- und Zuckerreis.

Doch graut mir vor dem schwülen Tag im Jahr,
an dem der Staub mir fremd geworden ist,
der meine Ehefrau mal war.




Leo Vroman
2002
In: Querido, Overleverigheid, 2010 zum 95. Geburtstag Vromans.

Maar als

Übersetzung Jaap Hoepelman 2016

Mittwoch, 9. März 2022

Bloem. Nach der Befreiung.

 

Montag, 26. Februar 2018


Afbeeldingsresultaat voor jacques bloem

Gegen Ende des Krieges (des 2. Weltkrieges muss man heute leider hinzufügen), während in verschiedenen Landesteilen noch gekämpft wurde, gelangen Bloem,  im April 1945, die Zeilen, die zu den bekanntesten niederländischen zum Kriegsende gehören. Man kann nur hoffen, dass auch die Ukrainer dieses Gefühl der unendlichen Erleichterung bald empfinden dürfen.


Jacques Bloem (1887-1966)

Nach der Befreiung

Schön und strahlend ist, wie damals, der Frühling,
Kalt der Morgen, aber wenn die Tage sich weiter
Öffnen, ist der ewige Himmel ein Wunder
Für die Geretteten.

Im dünnen Schleier über allen brachen Ländern
Pflügen wieder die trägen Pferde
Wie immer, während noch die nahen Fernen
Dröhnen vor Krieg.

Dies erlebt zu haben, dies bei heilem Leibe aussprechen zu
Dürfen, bei jedem Aufwachen zu
Wissen: hin ist, und jetzt für immer, die bald
Unerträgliche Knechtschaft -

Fünf Jahre war es wert zu schmachten,
Mal aufständisch, mal beruhend, und niemand
Von den Ungeborenen wird die Freiheit
So zu schätzen wissen.

J.C. Bloem
Warnsveld 17 april 1945
Aus: Verzamelde gedichten

Schoon en stralend

Vertaling J. Hoepelman November 2017

Sonntag, 6. März 2022

Multatuli - Barbertje.


Multatuli 1820 - 1887


Am Anfang von Multatulis "Max Havelaar" steht ein angeblich "nicht veröffentliches Theaterstück", das im Niederländischen zu einem eigenen - eigentlich falsch benannten - Sprichwort geworden ist: "Barbertje moet hangen" - "Bärbelchen muss hängen". Eine Parabel über Wahrheit und Recht in schlechten Zeiten. Der "Max Havelaar" wird wohl gesehen als der Anfang vom Ende eines Kolonialreichs. Vielleicht sind wir wieder Zeugen des Untergangs eines Imperiums. Dessen Umgang mit Recht und Wahrheit erinnert daran.



Gerichtsdiener.

Herr Richter, das ist der Mann, der Bärbelchen ermordet hat.

Richter.

Der Mann muss hängen. Wie hat er das angestellt?

Gerichtsdiener.

Er hat sie in kleine Stücke zerschnitten und eingepökelt.

Richter.

Da hat er etwas gänzlich Falsches gemacht. Er muss hängen.

Lothario. 

Herr Richter, ich habe Bärbelchen nicht ermordet! Ich habe sie ernährt und gekleidet und versorgt. Es gibt Zeugen, die aussagen werden, dass ich ein guter Mensch bin und kein Mörder.

Richter.

Mann, Ihr müsst hängen. Zu Ihren Verbrechen kommt Ihr Eigendünkel erschwerend hinzu. 

Eine Unverschämtheit, dass einer, der... von irgend etwas beschuldigt wird, sich für einen guten Menschen hält.

Lothario.

Aber Herr Richter, es gibt Zeugen, die es bestätigen werden. Und weil ich jetzt des Mordes beschuldigt werde...

Richter.

Ihr müsst hängen! Ihr habt Bärbelchen in Stücke geschnitten, eingepökelt und seit dünkelhaft...Drei kapitale Verbrechen!

Wer seid Ihr denn, Frauchen?

Frau.

Ich bin Bärbelchen

Lothario.

Gott sei Dank! Herr Richter, Sie sehen, dass ich sie nicht ermordet habe!

Richter.

Hm...ja...soso! Aber das Einpökeln?

Bärbelchen.

Nein Herr Richter, er hat mich nicht eingepökelt. Er hat mir im Gegenteil viel Gutes getan. Er ist ein edler Mensch!

Lothario.

Sie hören es, Herr Richter, sie sagt, dass ich ein guter Mensch bin.

Richter.

Hm...also der dritte Punkt besteht weiterhin.

Gerichtsdiener, führen Sie den Mann ab! Er ist des Eigendünkels schuldig.

Gerichtsschreiber, zitieren Sie in den Prämissen die Jurisprudenz des Lessingschen Patriarchen.*


(*Thut nichts, der Jude wird verbrannt)


Übersetzung Jaap Hoepelman März 2022

Freitag, 25. Februar 2022

Frieden

 

Leo Vroman (1915-2014)


Am 10. Mai 1940 nahm Leo Vroman (1915-2014) ein Taxi von Utrecht, wo er Biologie studierte, via Gouda, wo seine Eltern wohnten, nach Scheveningen. Er flüchtete weiter in einem Segelboot nach England. Von dort ging es nach niederländisch Indien (jetzt Indonesien), wo er nach dem japanischen Übergriff in verschiedenen Lagern interniert wurde. Nach anschließender Zwangsarbeit in Japan führte ihn das Ende des Krieges nach Manila. Als die niederländische Regierung ihn im Rahmen der militärischen Aktionen nach der Befreiung Ost-Indiens zurück nach Indien schicken wollte, hatte Vroman endgültig genug und zog weiter in die USA. Später nahm er die amerikanische Nationalität an. Trotzdem verfasste er Poesie und Prosa meistens auf Niederländisch. Zurück wollte er aber nie: Lieber Heimweh als Holland, schrieb er. Sein Stil versachlichte sich zu einer raffinierten Schlichtheit - insbesondere mit  zunehmendem Alter - , was beileibe nicht heißt, das seine Dichtung ohne Gefühl gewesen wäre. Menschlichkeit, keine Übertreibung, keine Anstellerei und zunehmend alltägliche Umgangssprache, gerade dadurch wirken seine Emotionen. Darüber hinaus verfügte er über eine gute  Portion Witz.
 In New York arbeitete er als Hämatologe und er betrachtete sich selber in erster Linie als Wissenschaftler. Der "Vroman Effektist nach ihm benannt.
Vroman wird als einen der prominentesten Dichter der neueren niederländischen Literatur betrachtet und er wurde mit allen nur denkbaren Auszeichnungen bedacht.
Das Taxi, von dem eingangs die Rede war, tritt in einem seiner bekanntesten Gedichte, "Frieden", auf.


 

Edith Hoepelman. Die Friedenstaube.

Frieden
(1954)

Kommt 'ne Taube, hundert Pfund,
den Olivbaum in den Klauen,
mir zu Ohren mit dem Mund
voller Chöre süßer Frauen,
voller gurrender Berichte
wie der Krieg verschwunden ist
hundertmalige Geschichte:
alle Male weine ich.

Seit ich mich so unvermittelt
in ein Taxi hatt' geschmissen,
dass in der Nacht 
ich hinter mir
ein Loch hatte gerissen,
seit mein sanft betränter Schatz,
schamesrot in ihrem Elend brennend
stehen blieb, so blieb stehen,
 dass
ein Stein ihr ditschte in den Lenden,
bin ich zu dicht im dürren Fell
um in Gebeten aus zu schwitzen,
Falten knetend allenfalls,
und „Frieden“ knirschend, „Frieden, Frieden“.

Liebe ist ein fauler Zauber
kopfloser Wolllustigkeiten,
geht mein Leben ohne
Frieden, gottverdammich, Frieden weiter;
denn der Laut hat mich zerrissen
als ich musste von der Liebsten scheiden
und mich aus dem Bett geschmissen
wo wir manchmal träumen beide,
dass der alte Waffengang nunmehr
wiederkehrt auf filznen Füßen,
dass wir, eigentlich schon nicht mehr
könnend alles, weiter müssen
liegen, rennen, nebenbei
sich schreiend in die Ohren
so verzweifelt, dass wir eben
träumen uns dabei zu hören

Darf ich nicht fluchen, wenn das Feuer
einer Stadt, die längst neu aufgebaut,
lodernd rollt aus dem Gemäuer
und lichterloh den Schlaf mir raubt?
Doch das frischgeschmorte Kind,
abgefackelt, ist es nicht,
das ich furchtbar, furchtbar finde:
es ist die Zeit, wo nichts geschieht
nachdem auf einen Schlag im Haus,
ein Turm zustande kam aus Dreck,
aus längst vergessenem Kellermoder,
bald vergammeltem Inventar
blutroten Flammen und flammend-
rotem Blut, ringsherum die Luft behangen
mit lebendigen Teilen von toten doch
lieben Leuten, die ewige Stille bevor
das erstaunte Kind in dieser Säule
erwürgt wird und die Ärmchen hochstreckt.

Komm heut' Abend mit Geschichte,
wie der Krieg verschwunden ist,
hundertmalige Berichte:
Alle Male weine ich.

Vrede

Übersetzung  J. Hoepelman 2014 

Donnerstag, 10. Februar 2022

Van Maerlant, die Wunder der Natur. Die Tierwelt.

 

       Jacob van Maerlant, um 1230 - 1290

Ausführlicher über van Maerlant habe ich hier. berichtet.
Van Maerlants Text in der "DBNL" findet man hier.
In "Der Naturen Bloeme" blättern kann man hier


Zu Maerlants Zeiten besaßen die aristotelischen Lehrmeinungen höchste Autorität und Maerlants Abhandlung über die Wunder der Tierwelt fängt getreulich mit der Anrufung der aristotelischen Lehre über das Blut und die Gefäße bei den Tieren an. Nach Aristoteles sind die Insekten blutlos und so lehrt es auch van Maerlant. Es wird noch bis Swammerdam dauern, bis man zu einer anderen Auffassung gelangt.


Von den Tieren

Ich will beim Hergebrachten bleiben,
und die Tiernatur beschreiben,
die allen Tieren ist gemein,
danach von jedem Tier allein.
Hat allgemein ein Tier zwei Beine, 
oder vier, oder aber hat es keine,
(die hat Aristoteles im Sinn), 
hat es Gefäße mitsamt Blut darin.
Zwar haben manche Tiere mehr
als vier, die sind jedoch blutleer.
Dass man sich bitte nicht vertut:
Ich sprech' vom Blutgefäß und Blut.
Blut haben Würmer, wie man unschwer sieht,
Gefäße nicht. Das ist der Unterschied.
...
...

Nach einer ausführlichen Auseinandersetzung über die allgemeine Natur der unterschiedlichen Tierarten fängt van Maerlant zu guter Letzt mit A, wie Asinus, der Beschreibung des gewöhnlichen Esels an. Manchmal sind die Beschreibungen etwas länglich, deshalb werde ich mich für jedes Tier auf wenige Abschnitte beschränken, in der Hoffnung, auf diese Weise ausreichend lehrreiches Material für den Leser bereit zu stellen. Ich werde schrittweise vorangehen, die Übersetzungen in Teilen anfertigen  und hin und wieder nach Lust und Laune ins Netz stellen. Die Reime habe ich, wie van Maerlant auch, nach den lateinischen Tiernamen alphabetisch geordnet.


Der Esel

Der Esel im Zeichen des Kreuzes

“Asinus“ heißt “Esel“, wird uns beigebracht,

hässlich ist er, ungeschlacht,

groß der Kopf, die Ohren lang

und sehr langsam ist sein Gang:

Eine halbe, magere Portion.

Am Rücken aber steht das Zeichen der Passion,

weil der Herr uns Demut hat gelehrt

auf dem Eselsrücken, nicht auf einem Pferd.
...
...

 Der Biber

Der Biber bei einer  typischen Tätigkeit

Als Castor ist er auf Latein bekannt,

Biber wird er hier genannt.

Castorium, die Hoden auf Latein,

sind wirksam gegen Zipperlein.

Deswegen wird ihm nachgestellt.

Fühlt er sich zu sehr umstellt,

dann, wahrlich, beißt er diese ab,

dann lassen Jäger von ihm ab.

Jagt man ihn dann später wieder,

legt der Biber sich danieder.

Hier, zeigt er, gibt es nichts zu holen.

Wiederum heißt's bei den Polen,

die Hoden liegen drinnen, wie die Nieren.

Aber können solche Biber sich kastrieren?


Aus van Maerlants Beschreibung des Dachses geht klar hervor, dass auch die heutige alternative Heilkunde mittelalterliches Wissen zu ihrem Vorteil anwenden könnte. Meine Übersetzung konzentriert sich deswegen auf die heilkräftige Seiten des kleinen Raubtiers. 


Der Dachs

Linke und rechte Pfoten eines Dachses sind ungleich lang

Dachs heißt Daxus auf Latein,

vom Dachsenfett wird meine Rede sein.
...
...
Das Fett des Dachses kommt und geht, 

weil's mit dem Mond im Wechsel steht.

Zerlegt man ihn bei Neumond um sein Fett,

so stellt man fest: Fett fehlt komplett.

Dachsenfett gibt wirkungsvolle Salben

für kranke Glieder allenthalben.
...
...
Aesculapius der Weise

empfiehlt den Dachs in dieser Weise:

Mit seinem Fett sind Glieder einzustreichen,

dadurch wird jedes Fieber weichen.

Schambeschwerden werden flugs gemindert,

und durch Hirn, gekocht in Öl, verhindert.

Dachsenblut und Salz auf Glieder aufgetragen

schützen den Mann an dreien Tagen:

Keine Krankheit wird ihn plagen.

Gesottenen Hoden in Honig, hört man sagen,

genommen auf den leeren Magen,

sollte kein verschnupfter Mann entsagen:

Drei Tage krank, und dann, wie immer,

spielt er das Spiel der Frauenzimmer.



Das Elfentier



Elephas heißt Elefant.

Elfentier wird's auch genannt.

Groß und stark ist dieses Tier,

den langen Schnabel sieht man hier.

Den Schnabel braucht der Riese auch,

es geht nicht ohne diesen Schlauch.

Will es fressen oder saufen, dann

käm' es sonst an nichts heran.

Jakob von Vitry, uns wohlbekannt,

sagt wie er kämpft, der Elefant:

Mit dem Schnabel in der Schlacht

hat manchen Feind er totgemacht.


Nicht nur die Biologie des Elefanten ist interessant. In der Heilkunde findet das Elfentier ungeahnte Anwendungen.


Lange Zähne hat das Elfentier


sie stechen raus, so lesen wir.


Krumm und lang 2 Cubitus,


man verbrennt sie gern zu Ruß.


Aus gebranntem Zahn sodann,


macht segensreiches Pulver man,


Medizin, die wertvoll ist und gut, 


Durchfall stoppt und Nasenblut.


Monatsbluten stillt der Zahn im Nu,


Hämorrhoiden macht er zu.


Und hilft einmal die Kur dir  nicht,


trink es mit Saft vom Wegerich.



Wenn es um Moral und Sitte geht, kann der Elefant dem Menschen als Vorbild dienen:



Aristoteles macht klar,

 

ein Elfentierenpaar im Jahr


tut es 2 Mal miteinander,


2 lange Jahre nacheinander.


Dann, in größter Heimlichkeit,


treiben schamhaft sie's zu zweit.


Haben beide sich vereinigt,


wird sich in einem Fluss gereinigt,


damit ein jedes sauber werde.


Erst dann geht es zurück zur Herde.


Die Tiere leben treu zu zweit,


kein Überspiel führt je zum Streit.


O Mensch! Welch höfische Manieren


bei solch plumpen, tumben Tieren!

Focquenbroch. Ein böser Bub aus dem 17. Jahrhundert, oder Fumus Gloria Mundi

     Willem Godschalck van Fockenbroch  1640-1670 Dichter sind Außenseiter. In diesem Blog haben wir sie kennengelernt: Piet Paaltjens , de ...