Sonntag, 10. Dezember 2023

Slauerhoff: Ein trauriges Liedchen

Jan Jacob Slauerhoff 
1898-1936



 Volksweise


Mageres Pferdchen, jag' nur:

Die Steppe ist grenzenlos weit

Dir stechen die Fliegen die Flanken

Die Steine die zarten Hufe,

Du darfst nie halten und trinken,

Und die Sonne ist so hart und so heiß.


Schmales Schiffchen, fahr' nur:

Das Meer ist grenzenlos breit

Dir zittern die müden Masten,

Dich drücken zu schwere Lasten,

Doch darfst du im Hafen nicht ruhen

Und am Ende der Fahrt musst du ankern

Irgendwo und die Reede ist weit.


Armes Herzchen, klag' nur:

Liebe ist endlose Grausamkeit,

Du kriegst sie nicht und du hasst sie,

Oder kriegst sie doch und dann schasst sie

Dich noch und verlässt sie

Das Herzchen, das sie so liebte;

Endlos auch ist das Leid.


Slauerhoff verzamelde gedichten 1947

Übersetzung Jaap Hoepelman März 2022

Sonntag, 26. November 2023

Albert Verwey, Spinoza.




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Albert Verwey                                                                                                            
1865 -1937

    
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                                                                                                                          Baruch de Spinoza 
                                                                                                            1632 - 1677
Die Schlussworte des Tractatus theologico-politicus sollten eigentlich in goldenen Lettern über dem Eingang des Plenarsaals der Vereinten Nationen stehen. Vielleicht ist das sogar der Fall, ich habe es nicht nachgeprüft. Aber ihre Entstehung lässt sich zurückverfolgen zur bescheidenen Kate, die Spinoza vom Leidener Arzt Herman Homan zur Verfügung gestellt worden war:

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Für den Staat (ist) nichts heilsamer , als wenn die Frömmigkeit und Religion nur in die Ausübung der Liebe und Billigkeit gesetzt wird und das Recht der Staatsgewalt in geistlichen wie in weltlichen Dingen nur für die Handlungen gilt, und im Uebrigen Jedem gestattet ist, zu denken, was er will, und zu sagen, was er denkt.
Wenn wir schon dabei sind, könnten wir die Stirnseite des Plenarsaals mit einer anderen Einsicht aus dem Tractatus verschönern:

Es ist nicht der Zweck des Staates, die Menschen aus vernünftigen Wesen zu wilden Thieren oder Automaten zu machen; sondern ihre Seele und ihr Körper soll in Sicherheit seine Verrichtungen vollziehen, sie sollen frei ihre Vernunft gebrauchen und weder mit Hass, Zorn oder List einander bekämpfen, noch in Unbilligkeit gegen einander verfahren. Der Zweck des Staates ist also die Freiheit.

Spinoza hatte sich 1661 in das kleine Haus in Rijnsburg zurückgezogen, weil der Verbleib in Amsterdam zu unsicher geworden war.  In 1656 war er wegen schädlichen Ansichten aus der portugiesisch-jüdischen Gemeinde in Amsterdam  ausgeschlossen und mit einem Bann belegt worden und die Gemeinde Amsterdam hatte ihn wegen "Gottlosigkeit"  aus der Stadt ausgewiesen. Wir können davon ausgehen, dass seine "schädlichen Ansichten" und sein "Atheismus" (der keiner war) sich schon mit 23 bemerkbar gemacht hatten. In einer Verteidigungsschrift hatte Spinoza versucht, die Anschuldigungen zu widerlegen. Daraus entstanden, teilweise in Rijnsburg, u.a. die Tractatus und die Ethik. Der Tractatus erschien 1670 in Amsterdam, aber mit einem falschen Erscheinungsort, falschen Herausgeber und anonym; es war schlicht zu gefährlich eine "gottleugnende" Verhandlung auf "normalem" Wege zu veröffentlichen. Wie gefährlich ging, wenig später, aus dem Schicksal der liberalen Brüder de Witt hervor. Cornelis de Witt war Abgeordneter der Generalstaaten für die Armee. Unter Johan de Witt, dem mächtigen Ratspensionär (Premier), genossen unkonventionelle Außenseiter, wie Spinoza einer war, höchsten Schutz. Als aber die Geschicke der Niederlande sich ungünstig entwickelten wurden die de Witts, die Republikaner waren, und somit politische Gegner der Oranier, verantwortlich gehalten und vom oranien-gesinnten Mob vor ihrem Haager Gefängnis gelyncht und geschunden. Die Anekdote geht, dass Spinoza in seiner Entrüstung zum Ort des Verbrechens eilen wollte, mit einem selbsthergestellten Schild "Ultimi Barbarorum" - "die schlimmsten Barbaren". Nur sein Vermieter konnte ihn in letzter Sekunde davon abhalten, sich ins Unglück zu stürzen. Ich finde die Vorstellung rührend: Der Philosoph mit dem Lebensmotto "Caute" - "Behutsam", Verkünder des inneren Friedens und der abgeklärten Redlichkeit, der Erkenner von Gott ALS Natur, der sich mit einem selbstgemachten Schild, in gelehrtem Latein ins Getümmel stürzt. Man mag nicht daran denken, was die aufgebrachte Menge mit dem angeblichen Gottesleugner gemacht hätte...

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Die geschundenen Leichname der Brüder de Witt
am Richtplatz in den Haag

Spinoza war nicht so isoliert, wie es machmal dargestellt wird. Er hatte einen großen Kreis von Freunden, Bewunderern und Unterstützern, darunter der Chirurg Homan, in dessen Rijnsburger Häuschen Spinoza sich mit Linsenschleifen seinen Unterhalt verdiente.

Die Schleifbank in der Rijnburger Kate

In Amsterdam bestand der Freundeskreis aus mindestens 10 Mitglieder, einige davon selber Autoren bemerkenswerter Veröffentlichungen. Darüber hinaus stand Spinoza in Verbindung mit der wissenschaftlichen, philosophischen und sogar politischen Prominenz seiner Tage, wie Leibniz, Oldenburg, Boyle, auch Christiaan Huygens, der seine Linsen schätzte, ansonsten ziemlich hochnäsig auftrat. Sogar eine Professur in Heidelberg wurde Spinoza angeboten, der aber ablehnte, weil er um seine Gedankenfreiheit fürchtete und auch weil die holländische Liberalität ihn in der Pfalz wohl kaum erwartete. Der Beruf des Linsenschleifers, im Übrigen, war kein gering zu schätzendes Handwerk, sondern gehörte zur fortschrittlichsten Wissenschafts-Technologie der damaligen Zeit. Leider war der Umgang mit Glasstaub Spinozas Tüberkuloseleiden äußerst abträglich. 1677 verstarb der "radikale Aufklärer".

Verwey war einer der Achtziger, aber er entfernte sich schon bald vom Ausdruck individueller Emotionen um sich eher "typisch" niederländischen Themen zu widmen. Spinoza gehörte natürlich dazu. Verwey war ein überzeugter Anhänger, Bewunderer und Kenner Spinozas. Er war ein eher zerebraler Mensch, wurde Professor für Niederlandistik und Herausgeber von Standardwerke über niederländische Dichter, u.a. Vondel. Seine Dichtkunst hat in den Niederlanden nie zu einem wirklichen Erfolg geführt, aber er war eine Autorität auf seinem Gebiet, eine Instanz. Seine Freundschaft mit Stefan George, der ihn häufig im Badeort Noordwijk besuchte, hat seinen Namen in Deutschland etwas bekannter gemacht. Die Auseinandersetzungen der beiden über die niederländische bzw. die deutsche "Wesensart", oder auch die "germanische" versus die "romanische" kann man heute nur noch mit Verwunderung lesen.
Verweys Spinoza-Gedicht aber kann ohne weiteres als gelungen betrachten werden.
                                                                                                                                                    

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Bei Spinoza in Rijnsburg


Der stille graue Tag sah von dem Dünenweg
Herunter wo Spinoza saß, in jener kleinen Kate
Und mit dem Fuß den Tritt der Schleifbank trat,
Und schliff vom spröden Glas die glatte Fläche schräg.

Sie liegt jetzt zwischen Kohl- und Blumrabatten,
Städtische Leute gehen diesen stillen Pfad;
Und auf das, was in der Kate man genachahmt hat
Glotzt die Frisur und die gelehrte Platte.

War Einsamkeit der Landschaft schönste Ruhe?
Schritt dieses Volk durch schönere Einsamkeit
des Philosophen Geistes, um Seelenruh' zu finden?

Von jener grünen Düne wehte salzig Seeluft
Und als der Zug nach draußen ward geleitet,
Hört' ich um die Kate nur den Meereswind.

Albert Verwey
Bij Spinoza te Rijnsburg

Aus: Dagen en daden (1901)

Übersetzung Jaap Hoepelman März 2019

Samstag, 4. November 2023

Alfred Kossmann (1922-1998)
 

Toten sind freundlich. Sie sind immer zuhause,

gastfreundlich immer, egal wann wir kommen

(Mein Großvater öffnet gern sein altes Haus,

begrüßt mich an der Tür, reicht Tee oder Bier

und spricht mit mir, dem Jungen, über Goethe)

und sie sind tot, sie nehmen keinen Abschied mehr,

sie erinnern uns nie an das Sterben, das gräuliche.

Mit den Lebenden ist es schwieriger zu leben,

immer ziehen sie; mit Tränen in den Augen

winkend am Gleis stehen sie und wir,

webend am Gewebe der Missgunst,

das unsere Freundschaft träge überfrieren wird,

anspielend mit unsren leblosen Worten

aufs größte mach's gut, das abscheuliche.


Doden zijn vriendelijk. 

Übersetzung Jaap Hoepelman Nov. 2023


Montag, 16. Oktober 2023

Multatuli: "Max Havelaar", The book that killed Colonialism.


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    Multatuli 
 (Eduard Douwes Dekker)
1820-1887

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Karta Negara, Raden Adipati,




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                                                                                                      Multatuli in Brüssel, 1859
                                                                                                 

 "Ich bin Makler in Kaffee und wohne auf der Lauriergracht No. 37."

Dies ist der Anfangssatz des ersten Kapitels des "Max Havelaar", ein Werk, das eine Schockwelle durch die niederländische Literatur und Politik sandte.

Die Sprache der Pfarrer-Dichter, auch wenn ironisch oder sarkastisch gebrochen, war meistens altmodisch und schwerfällig. Sie war weit entfernt von der Umgangssprache. Wie weit wurde schlagartig klar mit der Erscheinung, 1859, des "Max Havelaar" von Multatuli (Pseudonym von Eduard Douwes Dekker, 1820-1887). Douwes Dekker fuhr 1838 nach niederländisch Indien und beendete 1856 seine Karriere als Assistent-Resident in Lebak in der Residenz Bantam. Assistent-Resident war eine ziemlich hervorgehobene Stellung, die es Douwes Dekker ermöglichte tiefe Einblicke in die Funktionsweise der Kolonialverwaltung - d.h. der Ausbeutung - zu gewinnen. Als seine Proteste gegen die Auspressung der Bevölkerung durch die örtlichen Eliten - denn praktischerweise hatte die Kolonialregierung die täglichen Geschäfte den örtlichen Aristokraten, den "Regenten" (im Roman Karta Negara, Raden Adipatiüberlassen, beim Generalgouverneur nichts fruchteten, beantragte Douwes Dekker die Entlassung. Es folgte ein unstetes Dasein, das ihn u.a. nach Brüssel führte, wo er in nur wenigen Monaten, 1859, den "Max Havelaar" schuf. Der "Max Havelaar" ist nicht nur heftiger Protest, sondern in Form, Inhalt und Sprache ein neuartiger Roman, der nicht nur in den Niederlanden auf große Zustimmung stieß. Der Untertitel "of de koffij-veilingen der Nederlandsche Handel-Maatschappij" d.h. "oder die Kaffee-Auktionen der niederländische Handelsgesellschaft" macht klar, dass es Douwes Dekker ging um einen breit angelegten Angriff auf den niederländische Staat, wenn man bedenkt, dass über ein Drittel des Staatshaushaltes aus Kaffee-Einkünften aus Indien bestand, eine Tatsache, die den damaligen Lesern wohlbekannt war.

Es gab auch in Deutschland eine Reihe Übersetzungen des "Max Havelaar", man findet den deutschen Text im Internet, z.B. hier:

Max Havelaar

Das Prosa-Gedicht, das ich hier übersetze ist Teil der Geschichte von "Saidjah und Adinda", ein Fragment, das im Übrigen die Spuren der Kolonialzeit auf die niederländische Sprache (wie im Übrigen auch auf Küche, Supermarkt oder Restaurant) illustriert.



Saidjah und Adinda

("Das Lied des Saidjah")



"Ich weiß nicht wo ich sterben werde.

Ich habe das mächtige Meer gesehen an der Südküste, als ich dort war mit dem Vater zum Salz machen.

Wenn ich sterbe auf dem Meer und mein Leichnam geworfen wird in das tiefe Wasser, werden Haie kommen.

Sie werden schwimmen um meine Leiche und fragen: „Wer von uns wird den Leichnam verschlingen, der da im Wasser herunter sinkt?“

Ich werde es nicht hören.

Ich weiß nicht wo ich sterben werde.

Ich sah das brennende Haus des Pa-Ansu, er selber zündete es an, mata-glap* wie er war.


Wenn ich sterbe in einem brennenden Haus, werden glühende Holzstücke auf meine Leiche fallen
Und draußen vor dem Haus werden die Leute Wasser werfen um das Feuer zu töten mit großem Geschrei.

Ich werde es nicht hören.

Ich weiß nicht wo ich sterben werde.

Ich sah wie der kleine Si-unah stürzte aus der Klappa-Palme**, als er eine Klappa-Nuss für seine Mutter pflückte.

Wenn ich stürze aus einer Klappa-Palme, werde ich tot daliegen am Fuße des Baumes im Gebüsch, wie Si-unah.

Meine Mutter wird nicht schreien, denn sie ist tot. Aber andere werden rufen: „Seht, da liegt Saidjah!“ mit lauter Stimme.
Ich werde es nicht hören.

Ich weiß nicht wo ich sterben werde.

Ich sah die Leiche des Pa-lisu, er starb in hohem Alter, denn seine Haare waren weiß.

Wenn ich in hohem Alter sterbe, mit weißen Haaren, werden die Klageweiber um die Leiche stehen
Und sie werden jammern, wie die Klageweiber beim Leichnam des Pa-lisu. Und auch die Enkelkinder werden weinen, sehr laut.

Ich werde es nicht hören.

Ich weiß nicht wo ich sterben werde.

Ich habe viele gesehen zu Badur, die gestorben waren. Man kleidete sie in ein weißes Kleid, und begrub sie in der Erde.

Wenn ich sterbe zu Badur, und man begräbt mich außerhalb der Dessa***, gen Osten am Hügel, wo das Gras hoch ist,

Dann wird Adinda dort vorbei gehen und der Saum ihres Sarongs**** wird leise am Gras entlang streifen...

Ich werde es hören.“


Multatuli, (Eduard Douwes Dekker) aus „Max Havelaar“, 1859.

Übersetzung Jaap Hoepelman, 2014


Auf Youtube wird der ursprüngliche Text gelesen und gezeigt:

Saidjah en Adinda

Für die ganz mutigen gibt es hier den vollständigen Text auf Niederländisch:


Max Havelaar, niederländisch.


Das "New York Times Magazine" nannte den Max Havelaar "The Book That Killed Colonialism" (ein netter Aufsatz, der es aber mit den statistischen Daten nicht übertrieben genau nimmt).

Andere Texte von Multatulti habe ich hier, hier, hierhier und hier übersetzt.

*      mata-glap: Maleisisch "Finsteres Auge" - wahnsinnig.
**    Klappa: Kokos 
***  Dessa: Dorfgemeinde
****Sarong: Wickelrock

Erklärungen von mir (JH). Dem niederländischen Publikum waren die Wörter geläufig.  

Montag, 25. September 2023

Resterampe

 


e
           Gerrit Kouwenaar (1923-2014)


Resterampe


Es ist spät, wie jedes Jahr, die Zeit

steckt fest im jetzt, das Heut

ist jedes Mal gewesen


so stecke das Licht an

das die Zukunft noch ausspart, sprich

das Brot an, das noch nicht taub ist, mache

die Sprache wahr hinter den Zeichen, lese

das Fleisch, stell die Zeit still, lebe ein wenig -



Rebuut

Gerrit Kouwenaar

Aus: een geur van verbrande veren (1991)

Samstag, 23. September 2023

Gerrit Kouwenaar. Musik beim Einschlafen


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Gerrit Kouwenaar (Amsterdam 1923 – 2014)

Der Tod, schon wieder? Es ist nun mal so, dass die besten Gedichte von ihm eingegeben werden (und von der Liebe. Das Thema hatten wir ja schon).
Gerrit Kouwenaar wuchs auf in einer Journalistenfamilie und seine eigenen ersten Versuche brachten ihn ins Gefängnis wg. Veröffentlichungen in illegalen Blättern während des Krieges. Nach dem Krieg war er tätig als Kunstredakteur für verschiedene Zeitungen, zuletzt als Redakteur der sehr einflussreichen Kulturzeitschrift "De Gids" ("Der Leifaden"). Kouwenaar wird mit der Künstlergruppe der Fünfziger und mit der Gruppe "Cobra" in Verbindung gebracht, wo er mit dem Maler Corneille zusammenarbeitete.

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(Corneille, Tribut IV)

 Seine Poesie entwickelte sich von sozial-kritisch und ziemlich hermetisch zu einer leichteren Zugänglichkeit, eher in Richtung Andreus und Vroman. Seine besten und beliebtesten Gedichte sind eben die, die sich gegen Ende seines Lebens mit dem nahenden Tod auseinandersetzen.


"Musik beim Einschlafen"

Es spielte Musik, als sie ihn fand
was spielte hatte sie später vergessen, hatte sie
abgelegt, zugedeckt oder verschluckt mit seinem Leben

sie hoffte, dass es strawberries gewesen war
süßrotes Summen auf kühlerer Höhe
und nicht die neunte kleine immer wieder
endgültig unvollendete

aber am liebsten das mit dem fliehenden Vogel
der nie sagen konnte wohin er unterwegs war
und unter dessen Federn ruhen konnte, einwohnen -


In "Het bezit van een ruine" 2013

Übersetzung Jaap Hoepelman 
15.08.2018

Gerrit Kouwenaar: "weißer als lesbar".

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Im Niederländischen gibt es keine Groß- Kleinschreibung. Natürlich schon in den üblichen Fällen, Eigennamen, Satzanfänge usw. Aber nicht zwischen Substantiven und dem Rest, wodurch das Lesen eines deutschen Satzes sich manchmal anfühlt, wie Radfahren auf belgischem Kopfsteinpflaster.
Kouwenaar schrieb "total weißes zimmer" als Teil eines Bündels mit dem gleichen Namen, den er schrieb aus Trauer über seine verstorbene Frau. Sie litt an Alzheimer, und das totale Weiß sehe ich nicht nur als Wunsch noch einmal zusammen neu anzufangen, das Zimmer als tabula rasa, auch nach ihrem Tod, sondern auch als Symbol für die entstandene Leere, und als vollkommene Voraussetzung für den Neuanfang, ohne störende Details und Inhalte. Dieses flache, leergewischte Etwas kann auch im Deutschen keine Groß - Kleinschreibung brauchen. "weißer als lesbar"... ist das nicht ein fantastisches Bild?

Gerrit Kouwenaar (1923-2014)
(2006)

total weißes zimmer

Laßt uns noch einmal das zimmer weiß machen,
noch einmal das total weiße zimmer, du, ich

dies spart keine zeit, doch noch einmal
das zimmer weiß machen, jetzt, nie mehr später

und dass wir dann fast das makellose aufsagen
alsob es gedruckt steht, weißer als lesbar

also, noch einmal das zimmer, das für immer totale
wie wir da lagen, liegen, liegen bleiben
weißer als, gemeinsam -

Aus: Gerrit Kouwenaar, Totaal witte kamer.
Amsterdam: Querido, 2002

totaal witte kamer

Übersetzung Jaap Hoepelman, März 2018

Kouwenaar: Man muss.

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Gerrit Kouwenaar (1923 - 2014)

man muss

Man muss seine Sommer noch zählen, sein Urteil
noch fällen, man muss seinen Winter noch schneien

man muss seine Geschäfte besorgen bevor das Dunkel
nach dem Weg fragt, schwarze Kerzen für im Keller

man muss die Söhne noch ermutigen, den Töchtern
einen Harnisch anmessen, Eiswasser kochen lernen

dem Fotografen noch die Blutlache zeigen
das Haus entwöhnen, sein Farbband erneuern

man muss noch eine Grube graben für einen Falter
den Augenblick tauschen für seines Vaters Uhr -



Gerrit Kouwenaar (1923-2014)
Aus: Gerrit Kouwenaar, Helder maar grijzer: gedichten 1978-1996.
Amsterdam: Querido, 1998


Men moet

Übersetzung Jaap Hoepelman März 2018

Donnerstag, 14. September 2023

Van Maerlant. Die Wunder der Natur. Von fremden Ländern und Menschen.

 



Jacob van Maerlant, um 1230 - 1290

Van Maerlant war der erste Großdichter in niederländischer Sprache. Er schuf ein riesiges pädagogisch-didaktisches Oeuvre für seine gräflichen Auftraggeber. "Der Naturen Bloeme" ("Blume der Natur", oder "Blütenlese der Natur") ist davon ein Teil. In diesem Abschnitt erweitern wir mit van Maerlants Hilfe unseren Blick auf fremde Länder und Völker.

Mehr über van Maerlant findet man hier.
Van Maerlants Text in der "DBNL" findet man hier.
In "Der Naturen Bloeme" blättern kann man hier



Amazonen


Jakob von Vitry berichtet eloquent 


über ein Gebiet im Orient.


Ein Volk befindet sich im Land,


in vielen Büchern wird's genannt,


das hat wahrlich fremde Sitten.


Von Flüssen wird das Land durchschnitten.


Es ist als Amazonien bekannt.


Nur Frauenzimmer wohnen in dem Land.


Hier gibt es keine Mannspersonen,


es dürfen hier nur Frauen wohnen,


gar mehr als 1000 mal 200 Frauen.


Selten, dass sie einen Mann anschauen.


Wenn sie vom Schlachtfeld wiederkehren,


und sammelten als Kriegerinnen Ehren,



dann werden alle sich verneigen


und lassen willig sich besteigen.


Einmal jährlich sind sie so beim Mann.


Empfangen sie ein Kindlein, dann


bleibt ein Knäblein 7 Jahr' am Ort,


dann muss der Bub zum Vater fort.


Die kleinen Mägdlein bleiben bei


der Mutter und die Gegend Männerfrei.


Kein Mann darf in dem Landstrich sein:


Sie haben mit den Frauen nichts gemein.



Nackte Weisen


Will man zu den Amazonen reisen,

trifft man das Volk der nackten Weisen.

Ihnen sind die Mächtigen egal,

demütig, nackt und arm sind sie zumal.

In Höhlen harren diese Menschen aus,

kein Weiser baut sich je ein Haus.

Noch Saal, noch Kemenate bauen sie,

Frauen und Kinder sind beim Vieh.

Nie kämpfen sie, nie gibt es Streit.

Es kam einmal, vor langer Zeit,

der große Alexander in ihr Land,

wo er das Volk in Armut fand.

Barmherzig sprach darum der Held:

Fragt was ihr wollt, wie's euch gefällt.

Sie sprachen: Eine Bitte lediglich,

Unsterblichkeit, mehr ist es nicht.

Der Hegemon sprach daraufhin:

 Ich, der ich ein Gewaltiger bin,

hab' keine Gewalt über's ewige Leben,

kein Sterblicher kann euch das geben.

Die Weisen haben dann gefragt:

Warum, wenn Dein Verstand Dir sagt,

 dass Du musst ohne Zweifel sterben,

 bringst Du den Tod nur und Verderben?


Brahmane


Ein weises Volk, das ich beschreiben muss,


gibt es am mächtigen Gangesfluss.


Der Name Brahman wird dem Volk gegeben.


Bemerkenswert, wie diese leben,


denn ist es nicht ein wundersames Ding:


Bevor der Gottessohn den Leib empfing,


schrieben vom Vater und vom Sohn


sie an Iskander, dem großen Hegemon


und ihre Worte wurden offenbart


wie wenn das Christentum gelehret ward.



Selbstverbrenner



Andere Leute wohnen daneben, 


die sehnen sich nach ewigem Leben,


das sicher folgt dem Hier und Heuer,


darum verbrennt man sich im Feuer.



Elternfresser



Und Leute die des Wahnsinns sind,

sie sind wie wir der Eltern Kind.

Wenn diese müde sind und alt

Erschlägt man sie, man macht sie kalt.

Als Festmahl werden sie geschlachtet,

wer das nicht mitmacht, wird verachtet.



Riesen 



In dieser Gegend gibt's ein Land,


für seine Riesen ist's bekannt,


12 Cubitus! Gigantenhaft!



Zwerge



Dem Zwergvolk dort fehlt es an Kraft,


nur klägliche 2 Ellen misst es,


das heißt: 3 Fuß und kleiner ist es.



Frauen, die grauhaarige Kinder gebären



Frauen gibt's dort, hör' ich sagen,


die einmal nur ein Kindlein tragen.


Grauhaarig werden die geboren,


doch das Grauhaar geht verloren,


schwarzes Haar sprießt nach dem grauen.

 

Frauen mit kurzlebigen Fünflingen 

Im gleichen Landstrich leben Frauen,

die immerzu fünf Kinder gebären.

 Acht Jahre, dass die kurzen Leben währen.



Ein Volk, das von rohem Fisch lebt



Andere Leute leben dort so:


Sie essen ihre Fische roh,


und trinken aus dem salzigen Meer.



Volk mit verdrehten Händen



Völker gibt es dort vermehrt,


bei denen stehen die Hände verkehrt.


An den Füßen, so wird uns gelehrt,


zählen die Zehen zwei mal vier



Ein Volk mit Hundeköpfen und Krallen



Beim einem Volk, so hören wir,


stehen die Füße falsch herum


(ich zitier' Sankt Hieronimum).


Auch haben wir bei ihm gefunden,


hat es Köpfe wie von Hunden


und Hundekrallen, lang und krumm.


Und was werfen sie sich um?


Sie kleiden sich in rohen Fellen.


Ihre Sprache klingt wie Bellen.



Leute mit einem winzigen Mund



Hier gibt es seltsame Gesellen


deren Mund ist winzig klein.


Nur ein Trinkhalm, dünn und fein,


hilft den Leuten überleben.



Menschenfresser



Und ein Volksstamm lebt daneben,


der frisst Menschen, wird gesagt.


Die werden nach Geruch gejagt,


so wie ein Schweißhund jagen muss,


man treibt sie dann an einen Fluss


und erschlägt ihnen den Leib,


egal von wem, ob Mann, ob Weib.



Arismaspi, d.h. Zyklopen



Dann gibt es Leute in dem Land

Die werden Arismaspi genannt

oder Zyklopen auf Latein,

Augen haben die nur ein,

das durch ein Loch der Stirneshaut

unverwandt nach vorne schaut.


Sonnenschirmfüssler

                                       


 Ein Volk worüber ich berichten muss

Ist ausgesprochen schnell zu Fuß

Nicht zwei Füße, sondern ein.

Wollen sie im Schatten sein

So heben sie das eine Bein

Gegen den heißen Sonnenschein

Und liegen so im kühlen Schatten

Von diesem Fuß, vom großen platten.


Kopflose Inder

                                                 



In Indien, dass ihr's mir glaubt,

Da gibt es Leute ohne Haupt

Die Augen sind im Schlüsselbein

Zwei Löcher gehen in die Brust hinein

Für die Nase und den Mund.

Ein Anblick grässlich wie ein Hund



Ein Volk, das von Apfelduft lebt



Es wohnen Leute gleich daneben,


die nur vom Duft von Äpfeln leben


und von keiner anderen Speise.


Geht dort einer auf die Reise,


trägt er Äpfel für die Not,


sonst wäre es für ihn der Tod,


umwehte ihm ein böser Hauch.



Wilde Männer mit 6 Fingern



Wilde Männer gibt's dort auch


mit je 6 Fingern an der Hand



Frauen in Silberrüstung



Frauen wohnen in dem Land,


die man vornehm heißen muss.


Sie leben dort in einem Fluss,


darum besitzen sie kein Eisen. Nein,


ihr Rüstzeug muss aus Silber sein.



Frauen mit Bart



In Indiens Tälern gibt's mitunter


Frauen mit Bärten zum Busen herunter,


die als Kleidung Häute tragen.


Sie ernähren sich durch Jagen.


Leoparden halten sie sich,


Löwen und Tiger fehlen nicht,


die können sie zum Jagen zähmen.



Volk, das am Fluss lebt



Manchmal kann man auch vernehmen,


dass dort Leute, Mann und Weib,


leben ohne Kleid am Leib,


dafür am Körper rau behaart.


Es ist dieser Leute Art,


wenn zu ihnen Fremden gingen,


dass sie in das Wasser springen.


Jeder lebt, so wie er leben muss,


und so lebt dieses Volk am Fluss.



Wilde Leute mit Schweinsborsten



Wilde Leute gibt es dort auch heuer


kräftig, groß und ungeheuer.


Sie haben Borsten wie vom Schwein,


vom Büffel könnt' ihr Schnauben sein.



Frauen mit Hundegebiss



In einem Fluss dort wohnen Weiber,


die haben wunderschöne Leiber,


nur leider haben sie im Mund


das Gebiss von einem Hund.



Pygmäen



"Pygmäen" gibt's in diesem Land,


will sagen "klein wie die geballte Hand".


Man findet sie in Indiens Bergen.


Drei Jahre dauert's bei den Zwergen,


dann zeugen sie und tragen Kinder.


Das kleinste Volk - es geht nicht minder.


Nach acht Jahren, immer wieder,


ringen Kraniche sie nieder,


die wollen ernten ohne Säen


die Frucht der Arbeit der Pygmäen.



Leute mit einem Schwanz



Auch gab es Leute in den alten Tagen,


die haben einen Schwanz getragen.



Wilden



Gleichsam im Orient bekannt


wilde Leute in einem wilden Land.


Einst hat man einige gefangen,


mit ihnen unters Volk gegangen.


Ihrem Los sind sie entkommen:


Keine Nahrung haben sie genommen


und ausgehungert starben sie alsdann.



Männer mit Kerzenaugen



In Indien gibt's manchen Mann,


dessen Aug' strahlt nachts so klar


wie eine Kerze, das ist wahr.



Volk isst nur rohes Fleisch und wilden Honig



Ihre Schönheit preist man sehr,


dieses Volk wohnt nah am Meer.


Alles Fleisch essen sie roh


und saugen Honig ebenso.



Volk mit Januskopf



Diesen Fluss nennt man Brixant,


er fließt in Indien bis ins Land.


Das Volk ist groß in diesem Reich, 


ihre Haut ist mehr als bleich


und ihr Antlitz zweigeteilt.


Wunder habe ich mit Euch geteilt


und getreulich hier beschrieben.


Bände hat man vollgeschrieben.


Wunder gibt es viele an Indiens Gestaden.


Hört zu! Zu mehr will ich Euch laden!



Frauen, die eine Kröte gebären



In Europa gibt's ein Land,


Jakobus von Vitry hat es genannt.


Gebärt dort eine, so sagt sein Bericht,


kriecht allererst ein Kröterich ans Licht.


Kommt allerdings die Kröte nicht,


und kommt kein Kröterich in Sicht,


so sieht man es der Mutter an:


Das Kind ist nicht von ihrem Mann.


Aberwitz! Phantasterei!


Sie geistern in der Lombardei.



Alpenländler mit Kropf



Jenseits der Alpen, im Burgunderland


leben viele, es ist wohlbekannt,


die in den Alpentälern wohnen,


und Kröpfe tragen wie Melonen,


diese haben sie am Hals.



Französische Hermaphroditen



In Frankreich gab es jedenfalls,


denn so will es uns erscheinen,


Leute, zeigend  zwischen beiden Beinen,


 das Gemächt von Frau und Mann.




Die Zyklopen von Sizilien



Geht man nach Sizilien, dann,


im Wald beim Berg der brennt


und den man meistens Ätna nennt,


gibt es Leute, die ein Aug' nur tragen


und jeden Baumstamm überragen.


Mit einer Zunge wie ein Schild


sind sie fürchterlich und wild.


Fleisch und Blut sind ihre Nahrung.



Zwergfrau mit Stirnwunde



In Westende, in der Brandung,


wurde eine Frau gefunden,


auf der Stirne trug sie Wunden.


Die Strömung trieb sie an die Küste;


niemand, der Genaueres wüsste.


Purpurfarben war ihr Kleid.


Die Größe aber dieser Maid,


so heißt es, war ein Cubitus,


das heißt eineinhalber Fuß.



Herkules


In der Marge das Schwert des Herkules.



Anders die Größe des Herkules,


von dem nicht blieb der kleinste Rest,


kein anderes Wunder reicht heran,


nichts gibt's, das man vergleichen kann.


Er hat zwar Völker fast vernichtet,


doch hat man Zeichen ihm errichtet.


Siegessäulen stehen im Land


der Spanier, als Denkmale am Strand:


Bis hier hat er das Land bekriegt,


Riesen und Sonne hat der Held besiegt.


Doch Siegesstrecken enden mal,


das Schicksal trifft uns allemal:


 Ein Gifthemd. Schmerzen ungeheuer,


zur Löschung warf er sich ins Feuer,


wo er zu Pulver ist verbrannt.


Seine Länge ist uns nicht bekannt.




Der Teutonenschädel




Sichere Zeichen kann man finden,


dass einem alle Zweifel schwinden.


In Deutschland wohnte ein Gigant,


Teuto wurde er genannt.


Teutschland sagten viele Leute, 


Deutschland heißt das Land noch heute.


In Österreich am Donaustrand,


als Sankt Stephanus bekannt,


liegt ein Ort, der 60 Meter misst,


dort, wo die Gegend wendisch ist.


Wer sich dorthin begeben mag,


findet bis zum heutigen Tag,


Knochen, größer als man glauben kann,


auch einen Schädel findet man.


Albertus Magnus sagt uns sonnenklar,


dass einer es versuchte und fürwahr,


dass in diesen Schädelkasten


Griff und Knauf von zweien Schwertern passten.


Dazu hat Bruder Albert noch belegt,


wurde das Gehilz im Schädel frei bewegt.


Die Zähne waren, wie Albertus fand,


doppelt breit wie eine Hand.





















Herzog Jan

Herzog Jan I von Brabant 1252-1294 Aus den  Brabantse Yeesten   von  Jan van Boendale   (1440-1450) Dass das bemerkenswerte Verhältnis zwisc...