Montag, 15. April 2024

Slauerhoffs Einsamkeit

Jan Jacob Slauerhoff (1898-1936)

In einem früheren Beitrag schrieb ich über Slauerhoff: "Slauerhoff war einer der wichtigsten Dichter, Novellisten und Romanciers in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Als Schiffsarzt fuhr er auf Reisen nach niederländisch Indien, auf der Japan-China-Linie, auf der Holland-Westafrika Linie und auf dem königlich-holländischen Lloyd nach Süd-Amerika. 1934 eröffnete er eine ärztliche Praxis in Tanger, in der Hoffnung, dass der Verbleib in Nord-Afrika seiner schwachen Gesundheit gut tun würde. Es half nichts, 1936 zog er wieder in die Niederlande, wo er wenige Monate später in einem Pflegeheim verstarb.

Slauerhoff wird beschrieben als Poète Maudit, verlassen, nirgends zuhause, zutiefst pessimistisch, von allen ungeliebt, im Streit mit allen, insbesondere den Kollegen-Schriftstellern. Ein schwieriger Mensch, aber der Kapitän eines der Schiffe auf denen er fuhr nannte ihn den besten Kumpel, den ein Seemann haben könnte; "der Schwarze Chor", die Heizer, nannten ihn die beste Pille mit der sie je gefahren wären."
 
Von der Einsamkeit handelt auch das folgende Sonett:


Briefe auf dem Meer


Gelesen werden sie, die Male ungezählt,

Obwohl der Stoff bekannt und abgenutzt.

Das Leben wird in allen Sprachen gleich erzählt,

Die Zeilen nach und nach bis auf die Worte abgelutscht.


Doch wieder aufgefaltet, beim Abendmahl allein,

Nachts auf der Wache, in der Koje, bei der Beladung,

Er, der verbeißt das ständige Alleinsein, 

Findet in den Buchstaben noch Nahrung.


Zwischen liebster und dich liebende, das was er

Liest bleibt gleich, Kinder, Haus, Dorf und Insel, allein  

Bei Heirat, Geburt und Tod ändert sich die Leier


Nach vielen Reisen ist's als ob ein Schleier

Alles Bekannte an Land umhüllt, man ist allein,

Gehört zum Schiff und bleibt beim Wasser.


J. J. Slauerhoff (1898-1936)

Übersetzung Jaap Hoepelman April 2024

Brieven op zee

Aus: Een eerlijk zeemansgraf (A.A.M. Stols, Rijswijk 1941)

Freitag, 29. März 2024

Jan van Nijlen, Antwerpen 1884 - Vorst1965


Dieses mal ein Dichter, der altmodisch unprätentiös war, mit einem leichten Zug ins Ironische, wie alle Romantiker. Er wird nicht mehr viel gelesen, aber wer liest denn überhaupt noch Dichter?

Das Leben des flämischen Dichters Jan (Joannes-Baptista Maria Ignatius) van Nijlen war spektakulär unspektakulär, etwas, das ihm von einigen seiner Biografen fast verübelt wird, denn wie eine packende Biografie schreiben, wenn skurrile Extravaganzen, appetitliche Verhältnisse, politische Fehlgriffe oder dramatische Ausflüge in die experimentelle Dichtung fehlen? Dabei hatte van Nijlen intensive Kontakte insbesondere mit niederländischen Kollegen, auch mit den prominentesten. Wir sehen ihn hier im literarischen Treffpunkt Schloss Gistoux, mit Kollegen Greshoff, Heller und du Perron

An einer Reihe flämischer und niederländischer Zeitschriften und Zeitungen arbeitete er mit. Als élève des Jesuitischen Collège Notre Dame (wo Flämisch sprechen verboten war), war er ein Kenner der französischen Sprache und Literatur, berichtete über französische Neuerscheinungen in der niederländischen Presse und schrieb Monografien. Nach seinem Verbleib in den Niederlanden, wo er bei Freund Greshoff Zuflucht gesucht hatte, als Antwerpen im ersten Weltkrieg unter deutschem Beschuss lag, fand er eine Anstellung als Übersetzer im Brüsseler Justiz-Ministerium, wo er nach und nach ganz regulär aufstieg zum Direktor der Übersetzungsabteilung. 

Dramatisches trug sich in seinem Leben dann doch durchaus zu. Sein Sohn wurde im zweiten Weltkrieg von der Gestapo verhaftet und starb 1945 im Außenlager Ellrich. Neben einer Unmenge Umzügen gibt es, zum Leidwesen der Literaturkritiker, außer dieser Katastrophe tatsächlich wenig zu berichten. Es hat ja auch gereicht. 

Nach einem anfänglich blumig-poetischen Stil in der Tradition der Achtziger entwickelte van Nijlens Sprache sich immer mehr in der Richtung des Parlando, wie es du Perron, Greshoff und Nijhoff betrieben. Bericht an die Reisenden ist dafür ein gutes Beispiel. Van Nijlen legt dar, dass auch der ganz durchschnittliche Mensch, auf ganz normalem Wege zu wunderbarer Poesie geraten kann. Und tatsächlich: Wer von den wenig gelesenen Dichtern hat schon eine der berühmtesten Anfangszeilen der niederländischen Literatur geschrieben, verewigt als Wandmalerei mitsamt dem dazugehörigen Gedicht im Antwerpener Zentralbahnhof, einem der schönsten Bahnhöfe Europas? Wie der Dichter sagt: Es führen viele poetische Wege nach Rom.





An offizieller Anerkennung hat es dann doch nicht gemangelt. Van Nijlen empfing unter anderem den belgischen Staatspreis und den niederländischen Constantijn Huygenspreis. Es kennzeichnet ihn, dass er bei keinem der Ehrungen (es gab mehr als die hier genannten) je persönlich erschien.


Bericht an die Reisenden


Steig' nie in einen Zug ohne Dein Gepäck mit Träumen:

Du schläfst in jeder Stadt in ordentlichen Räumen.


Sitz ruhig und geduldig, lass' das Fenster auf

Du bist ein Reisender, und keinem fällst Du auf.


Finde im Deinem Damals den Kinderblick zurück,

schau  unbestimmt und scharf, traumhaft und verzückt.


Und was Du wachsen siehst, die frische Frühlingsschicht, 

sei überzeugt: Es ist für Dich, für andre nicht.


Und wenn ein Handelsreisender tut seine Meinung kund,

und sei es über Filmzensur: Gott lächelt und wählt die Stund'.


Grüße in seinem Schalter zuvorkommend den Bahnhofsvorstand,

denn ohne seine Pfeife fährt kein einziger Zug ins Land.


Doch fährt der Zug nicht ab, lass' es nicht Schade sein 

um Deine Lust und Hoffnung und Deinen teuren Fahrschein,


behalte ruhig Blut und öffne Dein Gepäck; schöpfe aus dem Befund

und Du wirst spüren: Du verlierst nicht eine Stund'.


Und hält der Zug an einem sonderbaren Ort,

von dem Du nie gehört hast, noch mit keinem Wort,


dann ist das Ziel erreicht, und Du begreifst, was Reisen

heißt für die Verirrten und die wahren Weisen...


Sei nicht erstaunt, dass Du vorbei an Normwald, auf normalen Gleisen

im stinknormalen Zug, zum Herzen Roms kannst reisen.


Jan van Nijlen

Bericht aan de reizigers

Aus Verzamelde gedichten 1903-1964 

Uitg. v. Oorschot


Übersetzung Jaap Hoepelman März 2024

Dienstag, 12. März 2024

 


Frederike Martine (Fritzi) ten Harmsen van der Beek 1927 – 2009
Auch Fritzi Harmsen van Beek

Guten Morgen? Meine himmlische Frau Ping

Hat Ihnen die sanfte Nacht gefallen, haben die un
gezogenen, geheimnisvollen Pflanzen wie sich's gehört

geduftet und sind hoffentlich keine Euer Gnadens übrigen
Säuglinge an der Beulenpest verendet?

Haben Sie die interessanten, nervigen, gottgefälligen
Vögelein, meine fromme barmherzigende Dame, schon mal

begutachtet, eifrig am Telefon wie: Hallo, hier Pitt,
kommst du auf meinen Ast - oh, die quicken, lebendigen

kleinen Vögel, allesamt allesamt für die brave Katz,
die vielgeplagte traurige Mutter. Ja verdammt,

diese Krankheit, liebe bedauernswerte Dame,
ist ein gnadenloser Schelm und eins ist klar:

soviel kann man gar nicht werfen, wo sogar das
Bestatterwesen, dieser intime Hausfreund, dieser

wohlbekannte Schenker lauwarmer Milch auch,
mit den verlängerten Hinterpfoten mit dem

Unter-die-Erde-bringen kaum noch 
hinterherkommt, nicht wahr, Dame Ping, radarbeschnurrte,

doppelzipfelmützige, damenäugige Miezin?
Besser ist's jetzt zu sitzen ohne Wehmut in

der rohen duftenden Morgenluft, wo die Sonne noch
zärtlich ist und die Vorhänge lebendig im guten,

fröhlichen Wind. O halmluntige vorzügliche,
schau, schweigsame oberdoofe allerliebste,

da krabbelt ein ganz interessantes, ganz kleines aber
außerordentlich schmackhaftes Tierchen zwischen den Kieselsteinen

unter der himmelblauen Hortensie
(An meine traurige Mieze, zum Trost beim Verscheiden ihrer Brut).



In 1954 "kraakte" ("knackte" d.h. besetzte) Fritzi Harmsen van Beek mit Söhnchen Gilles und ihrem Bruder Hein den zerfallenden Landsitz Jagtlust, im Dörfchen Blaricum, in bequemer Reiseentfernung von Amsterdam, lange bevor das Häuserknacken in Amsterdam Einzug hielt, ausgelöst durch die rabiate Modernisierungs (d.h. Zerstörungs) -politik der Gemeinde bei heftiger Wohnungsnot. Es war wohl ein Akt der Verzweiflung nach ihrer gescheiterten Ehe mit dem Französischen Grafensohn Eric de Mareschal le Font St. Margeron de la Fontaine. Weder die französische noch die (finanzstarke) holländische Seite unterstützten sie in ihrer Zwangslage. Nach dem Tod der Eltern verprasste sie dafür das elterliche Kapital in Rekordtempo. Aber Jagtlust mutierte eben so rasch zu einem zentralen Treff der Amsterdamer Künstlerszene. Die Gemeinde Amsterdam (in Gestalt eines Beamten, Vater eines ihrer Dichterfreunde) hatte nämlich Jagtlust zu einem kleinen Preis erworben und Harmsen van Beek als Hausverwalterin angestellt zu einer Jahresmiete von 1,- Gulden mit dem Recht das Erdgeschoss zu vermieten. Das war wie ein zündender Funken für die Amsterdamer Künstlergemeinschaft. Der zerfallende Landsitz, die romantische Umgebung mit echten Bauern, die auf der Scholle ihrem edlen Beruf nachgingen, die großzügige Verwalterin, für die Geld keine Rolle zu spielen schien, die Möglichkeiten mit dem Leben und mit der Kunst zu experimentieren - es war als ob der Propfen der Flasche, in der der Trübsal der Kriegs- und Nachkriegsjahre lange gegärt hatte endlich rausgeflogen war. Zeitweilig hatte es den Anschein, dass das Kulturelle Leben Amsterdams vom Leidseplein nach Blaricum umgesiedelt war. Die Schriftstellerin Annejet van der Zijl führte in ihrem 1998 erschienenen Buch Jagtlust Interviews mit 61 damals noch lebenden Persönlichkeiten des Kulturbetriebs über die Zeit auf dem Landsitz. Eine Art Who-Is-Who der Kunstszene. In dieser Atmosphäre  dichtete und zeichnete Harmsen van der Beek. Der Schriftsteller Hugo Claus meinte sogar, dass ihre Gedichte zu den wichtigsten niederländischen des 20. Jahrhunderts gehörten. Sie veröffentlichte nur wenig, dafür wurde ihr erster Gedichtband "Geachte Muizenpoot en achttien andere gedichten" (1965) unmittelbar zum großen Erfolg. Ihre Leserschaft sehnte sich offensichtlich nach dem Ende der Überlieferung und nach einer Befreiung, wie sie bei Harmsen van der Beek und in der Poesie der Fünfzigern zum Ausdruck kam. Die ungebundene Kolonie in Blaricum war eine Art Vorstufe der eingreifenderen Veränderungen, die dann in den 60-ern stattfanden, wie z.B. auch Leben und Werke der Anna Blaman. Tatsächlich war dieser Prozess 1965 schon weit fortgeschritten. Die Künstlergemeinschaft war älter und reifer geworden und blieb weg, Jagtlust war inzwischen zur reinen Bruchbude verkommen, bewohnt von unzähligen Katzen, wozu Madame Ping vermutlich auch gehörte. Die Gemeinde Amsterdam wollte die Ruine wieder los werden, Harmsen van der Beek sprach dem Alkohol zu sehr zu, ihr Verbleib in Jagtlust war untragbar geworden. 1971 zog sie nach Garnwerd, ein Dorf in der Provinz Groningen, weit weg vom Amsterdamer Trubel, wo Freunde ein kleines Haus für sie gekauft hatten, in dem sie gratis wohnen konnte und wo sie sich immer mehr zurück zog, ihre letzten Jahre überschattet durch den frühen Tod ihres Sohnes und ihres Bruders.

Landsitz Jagtlust

Veröffentlichungen ter Harmsen van der Beek


Übersetzung Jaap Hoepelman März 2024

Donnerstag, 7. März 2024

De Haan. Zwischen allen Stühlen


            Jacob Israel de Haan
                    1881-1924



Über Jakob Israel de Haan gibt es viel zu berichten. Er war ein kontroverser Schriftsteller und Dichter, der zu seinem Unglück vieles versuchte, bis er 1924 erschossen wurde.
In 1904 veröffentlichte er, 22-jährig,  den Roman "Pijpelijntjes"*, der seine homoerotische Freundschaft mit dem Arzt und Schriftsteller Arnold Aletrino zum Thema hat. 
Obwohl Aletrino in einer Aufsehen erregenden Studie aus 1897 Homosexualität als normal und gesund beschrieben hatte, war er dermaßen schockiert, dass er, zusammen mit de Haans Ehefrau, Johanna van Maarseveen, versuchte die ganze Auflage aus dem Markt zu kaufen. De Haan selber verlor umgehend seine Mitarbeit an der sozial-demokratischen Zeitung "Het Volk" und seine Anstellung als Grundschullehrer. Mit charakteristischer Kompromisslosigkeit schrieb er 1908 den Nachfolgeroman "Pathologieen: de Ondergangen Van Johan Van Vere de With"(Auch übersetzt - "Pathologien: Der Untergang des Johan Vere de With"), in dem er beschreibt, wie ein junger Mann an einem sadistisch-homosexuellen Verhältnis zerbricht. 


In einer jüdisch-orthodoxen Großfamilie aufgewachsen (Eine Schwester de Haans war die Schriftstellerin Carry van Bruggen, die zum Kanon der niederländischen Literatur gehört), gab er den orthodoxen Glauben auf, wurde Sozialist, studierte Jura und promovierte zum Thema "Rechtskundige Significa" **, (Juristische Signifik).

de Haan als Jura-Dozent 
an der Uni Amsterdam

 In 1912-1913 besuchte de Haan als Jurist verschiedene russische Gefängnisse für jugendliche Straftäter, gewappnet mit einem Brief der niederländischen Königin Wilhelmina. Er war entsetzt über die dort herrschende Rohheit, Rechtlosigkeit, den Willkür und das unaufhörliche, unverfrorene Lügen. Er war gleichermaßen entsetzt über den herrschenden Antisemitismus. Seine Beobachtungen veröffentlichte er im Buch "In Russische Gevangenissen" (1913).


Mit Zustimmung zitiert de Haan aus Ignotus' (Pseud. des P.J. Kromsigt) "Russische toestanden" ("Russische Zustände"): "Die russische Regierung hat immer gelogen; sie belog und belügt ihre Untertanen, sie belog und belügt das Ausland, die ihr hörigen Zeitungen lügen, ihre Minister lügen. Sie und ihre Akolythen lügen mit Absicht und mit Berechnung und mit Unverfrorenheit."
Man reibt sich die Augen und schaut nach, ob das Datum der Veröffentlichung tatsächlich 1912 ist.

De Haans Erfahrungen führten dazu, dass er sich dem Sozialismus zuwendete (wir sind noch in der Zarenzeit, und die große Hoffnung war, dass die Missstände sich durch den Sozialismus ändern würden) und mit seiner üblichen Begeisterung und Naivität zusammen mit Frederik van Eeden und Henriette Roland Holst ein Komitee gründete zur Unterschriftsammlung um die damaligen Verbündeten Russlands, Frankreich und Großbritannien, dazu zu bewegen gegen diese Übel zu protestieren.
Später kehrte er zurück zur Orthodoxie und wurde Mitglied der religiösen Fraktion des niederländischen Bundes der Zionisten. Seine im Zarenreich gemachte Erfahrungen mit dem Antisemitismus bewegten ihn, 1919, in das britische Mandatsgebiet Palestina zu emigrieren. Dort angekommen fühlte er sich immer mehr angezogen zum Agudat Israel, der Organisation der streng-religiösen Haredim unter der Leitung des Rabbiners Joseph Chaim Sonnenfeld, die einen säkularen Staat Israel ablehnten. De Haan unterrichtete an der rechtswissenschaftliche Fakultät in Jerusalem, schrieb als Journalist Berichte für niederländische Zeitungen und nahm als Sprecher der orthodoxen Bewegung eine nicht unbedeutende Stellung ein. Die Lage im britischen Mandatsgebiet war, gelinde gesagt, so chaotisch wie die von den Briten gemachten widersprüchlichen Versprechungen. De Haans Versuche, die Briten auf die Agudat als eigenständige Stimme im Jewish Agency aufmerksam zu machen, sowie seine Kontakte mit dem Emir von Trans-Jordanien und seine Plädoyers für Verhandlungen zwischen Zionisten und Arabern wurden zunehmend als störend bis bedrohlich empfunden. 


de Haan, gekleidet als Araber

In 1923 forderten Studenten der Universität Jerusalem sogar seinen Rücktritt. Auch de Haans homosexuelle Beziehungen in arabischen Kreisen waren bestimmt nicht hilfreich, kurz: Er hatte sich konsequent unmöglich gemacht und zwischen allen Stühlen gesetzt.
Am 30. Juni 1924 wurde er, vermutlich durch ein Mitglied der zionistischen Organisation Hagana, erschossen.

Seine Verzweiflung, oder, sagen wir, einige seiner Verzweiflungen hat er in Vierzeilern zusammengefasst. Hier davon drei:


Jakob Israel de Haan,
 18811924

Unrast

Der, der zu Amsterdam oft sprach "Jeruschalajim"
und nach Jerusalem getrieben kam,
der sagt mit Sehnsucht in der Stimme
"Amsterdam, Amsterdam".


Das Gedicht als Inschrift auf dem 
Jacob Israel de Haan Denkmal,
gegenüber vom Rembrandthaus in Amsterdam


Zweifel

Auf was, als ich in dieser Abendstunde
die Stadt im Schlaf durchwandert habe
und an der Tempelmauer Platz gefunden,
warte ich? Auf Gott? Oder den Marokkanerknaben?

...


Dass ich ein Lüstling war, ein wildes Biest,
Der bitter genießt und daran zerknirscht zerbricht,
Man wird es wissen, solange man Holländisch liest,
Aber länger nicht.


Aus: Jakob Israel de Haan,  Kwatrijnen, 1924.

Übersetzung Jaap Hoepelman, 05.07.2018

* Nach dem damals noch gar nicht yuppi-mässig entwickelten Amsterdamer Arbeiterviertel "de Pijp" ("das Rohr")

** "Significa" ist der in den Niederlanden benutzte Begriff für die von Lady Welby gegründete Theorie der "Significs". Lady Welby erhoffte sich eine Klärung von Missverständnisse und Misstrauen durch genaueres Studium der Gebrauch der Sprache. Mitglieder der in 1917 errichteten niederländischen Signifischen Bewegung waren u.m. der Arzt und Schriftsteller F. van Eeden, die Mathematiker L. E. J Brouwer und G. Mannoury, der Sprachwissenschaftler J. van Ginneken und der Sinologe, Journalist und Schriftsteller Henri Borel.




Donnerstag, 8. Februar 2024

Anna Blaman. Auftakt zu den 60ern.



Anna Blaman (Johanna Vrugt)

1905 -1960



Die Spinne


Der silbern wogende Schoß,

mein Liebes, das jungfernhaft heile Netz,

das grauenhaft schöne Trauungsbett

das Fanggespinst des Todes -

ich hab' es gesponnen zwischen den Bäumen,

zwischen Sonne und Erde gestreckt

und überall, wo ich entdeckte

deine süß-summenden Sucherträume. 

Ich fange dich auf im wiegenden Bett

Oh Wunde in meinem Jungfernnetz,

Oh Liebes, verloren in meinem Schoß,

Oh Klammergriff in Liebesnot -

ich wickle dich ein in Seidengewalt,

ich halte mit tausend Armen dich umkrallt,

ich ersticke dich im Kokon aus Glut,

ich trinke dein sanftes weißes Blut,

das rinnend schwallt und schreit -


und sattgetrunken auf der Nabe

meines zerrissenen Totenrades

ich lieg' gerädert und befreit.


Anna Blaman (1906-1960)
aus: Anna Blaman over zichzelf en anderen (1963)

Übersetzung Jaap Hoepelman, Februar 2024

De Spin


Ich hab mal über Pieter Cornelis Boutens geschrieben und seine Angst, sich zu dem zu bekennen, was er war. Er verneinte lebenslänglich vehement der Autor der offenherzigen  "Nachgelassenen Strophen des Andries de Hoghe" zu sein, aus denen ein Fragment an einige Zeilen  der "Spinne" erinnert:

"...
Und andre mittlerweil', wie finstre Schemen,
Augen hinter Schattenlarve schwelend,
schleichen und gleiten durch das dichteste Gewühle,
und oft mir nähert sich unmerklich eine Geste
dem dumpfen Grienen gleich: "Du bist einer wie wir"-
und von den Lippen tropft heiseres Geflüster,
Sprache in der ein Mensch nicht singen kann,
 ..."

Auf gleichgeschlechtliche Liebe lag zu Boutens Zeiten noch ein schweres Tabu.  In 1930 verweigerte die Regierung Boutens eine königliche Auszeichnung, aufgrund von hartnäckigen "Gerüchten", obwohl Boutens zu den prominentesten Dichtern der Niederlande zählte. Der Schriftsteller und Arzt Aletrino, obwohl Autor einer aufgeklärten Studie aus 1897, in der Homosexualität als gesund und normal beschrieben wird, versuchte panisch, zusammen mit de Haans Ehefrau, die Auflage des Romans "Pijpelijntjes" von Jacob Israel de Haan aus dem Markt zu kaufen.  Pijpelijntjes hat als Thema die homoerotische Beziehung zweier Freunde, die leicht als de Haan und Aletrino zu erkennen sind. De Haan verlor über die Affäre seine Anstellungen. Der Dichter Kloos tauchte ab in einer Scheinehe, Couperus ebenso, de Haans Ehe wird als "Verstandsehe" beschrieben, Gezelle war sowieso Priester. Gerrit Komrij mit seiner  Sottise "Jeder Künstler der Neues bringt, jeder Avant-Garde-Dichter, ist Homo. Das Umgekehrte gilt nicht"  lag nicht weit daneben. In den Kriegsjahren wurde die Lage richtig bedrohlich. Das (etwas kostengünstig geratene) "Homomonument" in Amsterdam erinnert an die Verfolgung Homosexueller weltweit. 


Es dauerte bis zu den 60ern, bis die Herrschaft der Tabus in vielen Bereichen sich langsam zu lösen anfing. Der Krieg war vorbei, das Kolonialreich hatte sich aufgelöst, die Autoritäten, die kläglich versagt hatten, wurden in Frage gestellt, gegen den Krieg in Vietnam und die Regimes in Spanien und Portugal wurde demonstriert. Eine Art fröhlicher  Anarchismus, die "Provo-Bewegung" ("Provo" wie "Provokation"), fand großen Anklang. Das Umweltthema kam auf, "Witte fietsen", "Witkarren" (weiße Fahrräder und weiße Wägelchen für alle) wurden ausprobiert, die Kirchen verloren rapide an Ansehen. Der Schriftsteller Gerard Reve bekannte sich offen zu seiner Homosexualität, trat paradoxerweise trotzdem in die katholischen Kirche ein,  beschrieb in seinem Roman "Nader tot U" ("Näher zu Dir") seine Vorstellung sich mit Gott "in Gestalt eines einjährigen, mausgrauen Esels" zu vereinigen und gewann den darauf folgenden Prozess,  der 1966 wegen Blasphemie gegen ihn eröffnet wurde. Es war ein ziemliches Durcheinander. Das Königshaus wurde mit manchmal nicht ganz feinen Mitteln angegriffen, so wurde Königin Juliana in einer Karikatur als Schaufensterhure zum Lohn von 5,2 Millionen Gulden (die Zulage des Königshauses) dargestellt. Interessanterweise wurde der Zeichner nicht verurteilt, was in dialektisch versierten Kreisen als besonders perfide Form der repressiven Toleranz aufgefasst wurde.
Anna Blaman starb zu früh für diese Minirevolution, aber sie hatte wichtige Weichen gesetzt: Sie arbeitete als Dramaturgin und Übersetzerin am Theater in Rotterdam, sie lebte ihre Sexualität als etwas selbstverständliches und sie arbeitete das Selbstverständliche in ihre Werke ein, z.B. im Roman Eenzaam Avontuur (Einsames Abenteuer) aus 1948, der ein großer Erfolg war und viele Auflagen kannte. Obwohl Homosexualiteit unter Frauen in Kirche und Gesellschaft nicht so rabiat verfolgt wurde wie unter Männern und enge Beziehungen unter Autorinnen in den Niederlanden wohlbekannt waren, wie die von Betje Wolff und Aagje Deken, 

führte Einsames Abenteuer zu gewaltiger Erregung in konservativen Kreisen. "Miserabel", "schmierig", "extravagant", "zusammenhangslos", "schwachsinnig", urteilten einige Kitiker. Es wurde sogar quasi im Scherz ein Büchertribunal errichtet, das Blaman sehr betroffen machte (und womit die Organisatoren unbewusst daran erinnerten, dass Frauen als Homosexuelle vielleicht weniger verurteilt wurden, dafür in der Vergangenheit als Hexen um so mehr und zwar im Wesentlichen aus dem gleichen Grund).
Die Anerkennung für ihre Werke aber wuchs und Anna Blaman wurde mit wichtigen Auszeichnungen geehrt, darunter der Prosapreis der Stadt Amsterdam (1956) und der P.C. Hooft-Preis, der wichtigste Literaturpreis der Niederlande (1957). In Rotterdam wurde ein Denkmal für sie errichtet in Form eines silbernen Motorrades.  


Anna Blaman fuhr Motorrad eben mit der gleichen Selbstverständlichkeit mit der sie über Homosexualität schrieb - Sensationen in den 40ern und den 50ern.


Die königliche Anerkennung, die Boutens - auf Betreiben der Regierung - verweigert wurde, wurde Anna Blaman dann doch zuteil, wie eine Art verspätete Wiedergutmachung: Sie traf sich mit Königin Juliana während des Bücherballs 1958.



Mittwoch, 17. Januar 2024

Gerrit Komrij. Dichter des Vaterlandes.

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Gerrit Komrij
1944-2012

Gerrit Komrij war Dichter, Theaterschriftsteller, Kritiker, Übersetzer und vieles mehr. Seine Beiträge erwartete man gespannt mit jeder neuen Zeitungsauflage. Als Dichter war er ein strenger Vertreter der vollendeten Form und der perfekten Beherrschung des Handwerks. Er hatte nur wenig übrig für die freien Formen der Fünfziger.

Um der Tradition der niederländischen Dichtung wieder zu mehr Wertschätzung zu verhelfen, gab Komrij drei Bände heraus mit einer persönlichen Auswahl aus 10 Jahrhunderten Poesie, später bekannt unter dem Namen "Der Große Komrij".

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Komrij hatte eine gewisse Vorliebe für Außenseiter und Außenseiterliteratur und er verfügte über einen reichhaltigen Fundus. Sein Standardwerk in dieser Hinsicht ist die enzyklopädische "Kakafonie" in der Nachfolge des Josef Feinhals. 

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Auch die unten stehende "Patentuhr" zeigt diese Vorliebe. Zu monieren wäre höchstens, dass Komrij in der "Patentuhr" nicht, Feinhals zu Ehren, die in höheren Kreisen gerne benutzte Cohiba, sondern eine Gouda-Kerze genommen hat.
Die Literatur, die sich mit dem Hintern und dessen elementaren Funktionen beschäftigt, ist, kann man sagen, überwältigend. Die "Patentuhr" befindet sich in der guter Gesellschaft von beispielsweise Tomi Ungerer 

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und Wolfgang Amadé Mozart

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Auch die Komödien des Römers Plautus kamen nicht ohne einen erheiternden Flatus aus. Dagegen wurde mit dem Tode bestraft, wer während eines Gelages des Kaisers Caracalla einen streichen ließ, womit die ganze Bandbreite der Rezeption von Ungehörigkeiten dargestellt wäre. 
In der frühen Aufklärung der Niederlande des 17. Jahrhunderts veröffentlichte Adriaan Beverland einige Schriften zur Sexualität. 


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Adriaan Beverland und eine Partnerin.
Das provokant gezeigte Buch ist das 
verabscheute "Peccatum Originale".

In diesen griff er Spinozas Gedanken auf, dass die Bibel ein Werk von Menschen für Menschen sei  und schloss, dass die biblischen Gebote und Verbote betreffs der Fleischeslust ebenso Menschenwerk seien. Beverland trat offen ein für die Gleichheit und Gleichwertigkeit von männlicher und weiblicher Lust und er lebte seine Überzeugung. Es war ein unerhörter Affront für die calvinistische Gesellschaft. Beverland wurde aus den Niederlanden verbannt und er verbrachte den Rest seines Lebens im Exil in London.* Noch 1930 verweigerte die niederländische Regierung dem berühmten Dichter P. C. Boutens eine königliche Auszeichnung, wegen "Gerüchten", obwohl Boutens seine Autorschaft der notorischen "Strophen des Andries de Hoghe" vehement leugnete.
Komrij aber wurden 70 Jahre später viele und wichtige Ehrungen zuteil und gegen Ende seines Lebens wurde er sogar Dichter des Vaterlandes. Spinozas Aufklärungswille hatte sich in den Niederlanden dann doch erhalten, wenn auch manchmal unterschwellig. 

Spaßdichtung und Obszönität sind aber nur Nebensache in der "Patentweckuhr". Sie sind die Maske, hinter denen ein romantischer Dichter seine Melancholie verbirgt, wenn er leicht spöttisch einen Jüngling beschreibt, der begeistert wie ein junges Fohlen losspringt bei jeder blödsinnigen Idee. Er selbst? Komrij mochte Gefühlswallungen nicht und mied das lyrische "ich". Das distanzierte "du" war ihm lieber. Manchmal auch sicherte ein schöner Ausrutscher ins Absurde den nötigen Distanz. 




Komrijs Patentweckuhr

I

Du hattest immer leise den Verdacht
Dass du im Herzen trugst den Funken des Genies.
Du erfandest dauernd Neues, Tag und Nacht.
(Denn du erwarbst das Reifezeugnis

Ja nicht vergebens, nicht umsonst, oh nein.)
In hundertsiebenzehn Patenten warst du drin.
Du konntest Heil und Segen sein
Der Menschheit; fast wie eine Heilssoldatin.

Doch dann fiel dir der Wecker ein, der kann
"Es" ohne Lärm - ein Weilchen ist es her. Jedoch
Bedarf es eines Bleistifts oder Kreidestücks, sodann
Die gute Kerze, zum Schluss das eigne Arschloch.

2

So könnte man es nennen: Göttliche Simpelheit!
Form folgt Funktion! Beinahe kostenlos!
Dazu poetisch! Nicht länger kam die Zeit
Giftig und blechern scheppernd aus der Dose.

Zuerst mit Bleistift machtest du zehn Striche
Rundum der Kerze; Eine für jede Stunde in der Nacht,
Die du normalerweise schliefst. Kerben ging auch, statt Striche.
Dann schobst du sie, sanft strahlend, mit Bedacht

Hinein in die Rosette, senkrecht: Sechs Striche tief,
Hattest du vier Stund' zu schlafen vor;
Acht tief, zwei Stunden Schlaf; So einfach lief
Es: Die Stunden, die du schliefst lugten hervor.

3

So ruhest du mit einem Feuerchen am Darm.
Und wenn die Zeit zum Aufsteh'n wieder da ist
Berührt das treue Flämmchen sanft und warm
Ganz zärtlich deinen Ausgang, bis du wach bist.

Du tänzelst aus der Bettstatt, frisch und pumperlgsund
(Besorg' dir aber Kerzen einer guten Qualität
Damit das Wachs dir nicht den Arsch verklumpt)
Wonach es fröhlich pfeifend an die Arbeit geht.

Vor kurzem wolltest du früh raus, und triebst
Die Uhr wohl sieben Strich um Strich zutiefst
Hinein. Bis dir ein Furz die Flamme ausblies
Und du dich unberührt verschliefst.

4

Nochmal, dein Wecker ist ja fast perfekt.
Der Nachteil, klar, du liegst auf deinem Bauch
und schläfst voll nackt, den Hintern hochgestreckt.
Das kalkulierst du mit, dann funktioniert es auch.

Du hast erneut Patent beantragt. Warum nicht?
Denn während Weckuhren der alten Sorte
Verlässlich sind, so wie ein Netz winddicht,
Glost deine Uhr, die Nacht erleuchtend, fort.

Und jeden Morgen, siehe: Schon schmort der Stopfen;
Man hüpft vom Bett in edelster Gesinnung
Geht auf die Straße, bittend generös zu opfern
Für die Laken- und die Daunendeckeninnung.

Übersetzung Jaap Hoepelman Mai 2019

Komrij liest "De Patentwekker"


*Jonathan Israel

Slauerhoffs Einsamkeit

Jan Jacob Slauerhoff (1898-1936) In einem früheren Beitrag schrieb ich über Slauerhoff : " Slauerhoff war einer der wichtigsten Dichter...