Freitag, 29. März 2024

Jan van Nijlen, Antwerpen 1884 - Vorst1965


Dieses mal ein Dichter, der altmodisch unprätentiös war, mit einem leichten Zug ins Ironische, wie alle Romantiker. Er wird nicht mehr viel gelesen, aber wer liest denn überhaupt noch Dichter?

Das Leben des flämischen Dichters Jan (Joannes-Baptista Maria Ignatius) van Nijlen war spektakulär unspektakulär, etwas, das ihm von einigen seiner Biografen fast verübelt wird, denn wie eine packende Biografie schreiben, wenn skurrile Extravaganzen, appetitliche Verhältnisse, politische Fehlgriffe oder dramatische Ausflüge in die experimentelle Dichtung fehlen? Dabei hatte van Nijlen intensive Kontakte insbesondere mit niederländischen Kollegen, auch mit den prominentesten. Wir sehen ihn hier im literarischen Treffpunkt Schloss Gistoux, mit Kollegen Greshoff, Heller und du Perron

An einer Reihe flämischer und niederländischer Zeitschriften und Zeitungen arbeitete er mit. Als élève des Jesuitischen Collège Notre Dame (wo Flämisch sprechen verboten war), war er ein Kenner der französischen Sprache und Literatur, berichtete über französische Neuerscheinungen in der niederländischen Presse und schrieb Monografien. Nach seinem Verbleib in den Niederlanden, wo er bei Freund Greshoff Zuflucht gesucht hatte, als Antwerpen im ersten Weltkrieg unter deutschem Beschuss lag, fand er eine Anstellung als Übersetzer im Brüsseler Justiz-Ministerium, wo er nach und nach ganz regulär aufstieg zum Direktor der Übersetzungsabteilung. 

Dramatisches trug sich in seinem Leben dann doch durchaus zu. Sein Sohn wurde im zweiten Weltkrieg von der Gestapo verhaftet und starb 1945 im Außenlager Ellrich. Neben einer Unmenge Umzügen gibt es, zum Leidwesen der Literaturkritiker, außer dieser Katastrophe tatsächlich wenig zu berichten. Es hat ja auch gereicht. 

Nach einem anfänglich blumig-poetischen Stil in der Tradition der Achtziger entwickelte van Nijlens Sprache sich immer mehr in der Richtung des Parlando, wie es du Perron, Greshoff und Nijhoff betrieben. Bericht an die Reisenden ist dafür ein gutes Beispiel. Van Nijlen legt dar, dass auch der ganz durchschnittliche Mensch, auf ganz normalem Wege zu wunderbarer Poesie geraten kann. Und tatsächlich: Wer von den wenig gelesenen Dichtern hat schon eine der berühmtesten Anfangszeilen der niederländischen Literatur geschrieben, verewigt als Wandmalerei mitsamt dem dazugehörigen Gedicht im Antwerpener Zentralbahnhof, einem der schönsten Bahnhöfe Europas? Wie der Dichter sagt: Es führen viele poetische Wege nach Rom.





An offizieller Anerkennung hat es dann doch nicht gemangelt. Van Nijlen empfing unter anderem den belgischen Staatspreis und den niederländischen Constantijn Huygenspreis. Es kennzeichnet ihn, dass er bei keinem der Ehrungen (es gab mehr als die hier genannten) je persönlich erschien.


Bericht an die Reisenden


Steig' nie in einen Zug ohne Dein Gepäck mit Träumen:

Du schläfst in jeder Stadt in ordentlichen Räumen.


Sitz ruhig und geduldig, lass' das Fenster auf

Du bist ein Reisender, und keinem fällst Du auf.


Finde im Deinem Damals den Kinderblick zurück,

schau  unbestimmt und scharf, traumhaft und verzückt.


Und was Du wachsen siehst, die frische Frühlingsschicht, 

sei überzeugt: Es ist für Dich, für andre nicht.


Und wenn ein Handelsreisender tut seine Meinung kund,

und sei es über Filmzensur: Gott lächelt und wählt die Stund'.


Grüße in seinem Schalter zuvorkommend den Bahnhofsvorstand,

denn ohne seine Pfeife fährt kein einziger Zug ins Land.


Doch fährt der Zug nicht ab, lass' es nicht Schade sein 

um Deine Lust und Hoffnung und Deinen teuren Fahrschein,


behalte ruhig Blut und öffne Dein Gepäck; schöpfe aus dem Befund

und Du wirst spüren: Du verlierst nicht eine Stund'.


Und hält der Zug an einem sonderbaren Ort,

von dem Du nie gehört hast, noch mit keinem Wort,


dann ist das Ziel erreicht, und Du begreifst, was Reisen

heißt für die Verirrten und die wahren Weisen...


Sei nicht erstaunt, dass Du vorbei an Normwald, auf normalen Gleisen

im stinknormalen Zug, zum Herzen Roms kannst reisen.


Jan van Nijlen

Bericht aan de reizigers

Aus Verzamelde gedichten 1903-1964 

Uitg. v. Oorschot


Übersetzung Jaap Hoepelman März 2024

Dienstag, 12. März 2024

 


Frederike Martine (Fritzi) ten Harmsen van der Beek 1927 – 2009
Auch Fritzi Harmsen van Beek

Guten Morgen? Meine himmlische Frau Ping

Hat Ihnen die sanfte Nacht gefallen, haben die un
gezogenen, geheimnisvollen Pflanzen wie sich's gehört

geduftet und sind hoffentlich keine Euer Gnadens übrigen
Säuglinge an der Beulenpest verendet?

Haben Sie die interessanten, nervigen, gottgefälligen
Vögelein, meine fromme barmherzigende Dame, schon mal

begutachtet, eifrig am Telefon wie: Hallo, hier Pitt,
kommst du auf meinen Ast - oh, die quicken, lebendigen

kleinen Vögel, allesamt allesamt für die brave Katz,
die vielgeplagte traurige Mutter. Ja verdammt,

diese Krankheit, liebe bedauernswerte Dame,
ist ein gnadenloser Schelm und eins ist klar:

soviel kann man gar nicht werfen, wo sogar das
Bestatterwesen, dieser intime Hausfreund, dieser

wohlbekannte Schenker lauwarmer Milch auch,
mit den verlängerten Hinterpfoten mit dem

Unter-die-Erde-bringen kaum noch 
hinterherkommt, nicht wahr, Dame Ping, radarbeschnurrte,

doppelzipfelmützige, damenäugige Miezin?
Besser ist's jetzt zu sitzen ohne Wehmut in

der rohen duftenden Morgenluft, wo die Sonne noch
zärtlich ist und die Vorhänge lebendig im guten,

fröhlichen Wind. O halmluntige vorzügliche,
schau, schweigsame oberdoofe allerliebste,

da krabbelt ein ganz interessantes, ganz kleines aber
außerordentlich schmackhaftes Tierchen zwischen den Kieselsteinen

unter der himmelblauen Hortensie
(An meine traurige Mieze, zum Trost beim Verscheiden ihrer Brut).



In 1954 "kraakte" ("knackte" d.h. besetzte) Fritzi Harmsen van Beek mit Söhnchen Gilles und ihrem Bruder Hein den zerfallenden Landsitz Jagtlust, im Dörfchen Blaricum, in bequemer Reiseentfernung von Amsterdam, lange bevor das Häuserknacken in Amsterdam Einzug hielt, ausgelöst durch die rabiate Modernisierungs (d.h. Zerstörungs) -politik der Gemeinde bei heftiger Wohnungsnot. Es war wohl ein Akt der Verzweiflung nach ihrer gescheiterten Ehe mit dem Französischen Grafensohn Eric de Mareschal le Font St. Margeron de la Fontaine. Weder die französische noch die (finanzstarke) holländische Seite unterstützten sie in ihrer Zwangslage. Nach dem Tod der Eltern verprasste sie dafür das elterliche Kapital in Rekordtempo. Aber Jagtlust mutierte eben so rasch zu einem zentralen Treff der Amsterdamer Künstlerszene. Die Gemeinde Amsterdam (in Gestalt eines Beamten, Vater eines ihrer Dichterfreunde) hatte nämlich Jagtlust zu einem kleinen Preis erworben und Harmsen van Beek als Hausverwalterin angestellt zu einer Jahresmiete von 1,- Gulden mit dem Recht das Erdgeschoss zu vermieten. Das war wie ein zündender Funken für die Amsterdamer Künstlergemeinschaft. Der zerfallende Landsitz, die romantische Umgebung mit echten Bauern, die auf der Scholle ihrem edlen Beruf nachgingen, die großzügige Verwalterin, für die Geld keine Rolle zu spielen schien, die Möglichkeiten mit dem Leben und mit der Kunst zu experimentieren - es war als ob der Propfen der Flasche, in der der Trübsal der Kriegs- und Nachkriegsjahre lange gegärt hatte endlich rausgeflogen war. Zeitweilig hatte es den Anschein, dass das Kulturelle Leben Amsterdams vom Leidseplein nach Blaricum umgesiedelt war. Die Schriftstellerin Annejet van der Zijl führte in ihrem 1998 erschienenen Buch Jagtlust Interviews mit 61 damals noch lebenden Persönlichkeiten des Kulturbetriebs über die Zeit auf dem Landsitz. Eine Art Who-Is-Who der Kunstszene. In dieser Atmosphäre  dichtete und zeichnete Harmsen van der Beek. Der Schriftsteller Hugo Claus meinte sogar, dass ihre Gedichte zu den wichtigsten niederländischen des 20. Jahrhunderts gehörten. Sie veröffentlichte nur wenig, dafür wurde ihr erster Gedichtband "Geachte Muizenpoot en achttien andere gedichten" (1965) unmittelbar zum großen Erfolg. Ihre Leserschaft sehnte sich offensichtlich nach dem Ende der Überlieferung und nach einer Befreiung, wie sie bei Harmsen van der Beek und in der Poesie der Fünfzigern zum Ausdruck kam. Die ungebundene Kolonie in Blaricum war eine Art Vorstufe der eingreifenderen Veränderungen, die dann in den 60-ern stattfanden, wie z.B. auch Leben und Werke der Anna Blaman. Tatsächlich war dieser Prozess 1965 schon weit fortgeschritten. Die Künstlergemeinschaft war älter und reifer geworden und blieb weg, Jagtlust war inzwischen zur reinen Bruchbude verkommen, bewohnt von unzähligen Katzen, wozu Madame Ping vermutlich auch gehörte. Die Gemeinde Amsterdam wollte die Ruine wieder los werden, Harmsen van der Beek sprach dem Alkohol zu sehr zu, ihr Verbleib in Jagtlust war untragbar geworden. 1971 zog sie nach Garnwerd, ein Dorf in der Provinz Groningen, weit weg vom Amsterdamer Trubel, wo Freunde ein kleines Haus für sie gekauft hatten, in dem sie gratis wohnen konnte und wo sie sich immer mehr zurück zog, ihre letzten Jahre überschattet durch den frühen Tod ihres Sohnes und ihres Bruders.

Landsitz Jagtlust

Veröffentlichungen ter Harmsen van der Beek


Übersetzung Jaap Hoepelman März 2024

Donnerstag, 7. März 2024

De Haan. Zwischen allen Stühlen


            Jacob Israel de Haan
                    1881-1924



Über Jakob Israel de Haan gibt es viel zu berichten. Er war ein kontroverser Schriftsteller und Dichter, der zu seinem Unglück vieles versuchte, bis er 1924 erschossen wurde.
In 1904 veröffentlichte er, 22-jährig,  den Roman "Pijpelijntjes"*, der seine homoerotische Freundschaft mit dem Arzt und Schriftsteller Arnold Aletrino zum Thema hat. 
Obwohl Aletrino in einer Aufsehen erregenden Studie aus 1897 Homosexualität als normal und gesund beschrieben hatte, war er dermaßen schockiert, dass er, zusammen mit de Haans Ehefrau, Johanna van Maarseveen, versuchte die ganze Auflage aus dem Markt zu kaufen. De Haan selber verlor umgehend seine Mitarbeit an der sozial-demokratischen Zeitung "Het Volk" und seine Anstellung als Grundschullehrer. Mit charakteristischer Kompromisslosigkeit schrieb er 1908 den Nachfolgeroman "Pathologieen: de Ondergangen Van Johan Van Vere de With"(Auch übersetzt - "Pathologien: Der Untergang des Johan Vere de With"), in dem er beschreibt, wie ein junger Mann an einem sadistisch-homosexuellen Verhältnis zerbricht. 


In einer jüdisch-orthodoxen Großfamilie aufgewachsen (Eine Schwester de Haans war die Schriftstellerin Carry van Bruggen, die zum Kanon der niederländischen Literatur gehört), gab er den orthodoxen Glauben auf, wurde Sozialist, studierte Jura und promovierte zum Thema "Rechtskundige Significa" **, (Juristische Signifik).

de Haan als Jura-Dozent 
an der Uni Amsterdam

 In 1912-1913 besuchte de Haan als Jurist verschiedene russische Gefängnisse für jugendliche Straftäter, gewappnet mit einem Brief der niederländischen Königin Wilhelmina. Er war entsetzt über die dort herrschende Rohheit, Rechtlosigkeit, den Willkür und das unaufhörliche, unverfrorene Lügen. Er war gleichermaßen entsetzt über den herrschenden Antisemitismus. Seine Beobachtungen veröffentlichte er im Buch "In Russische Gevangenissen" (1913).


Mit Zustimmung zitiert de Haan aus Ignotus' (Pseud. des P.J. Kromsigt) "Russische toestanden" ("Russische Zustände"): "Die russische Regierung hat immer gelogen; sie belog und belügt ihre Untertanen, sie belog und belügt das Ausland, die ihr hörigen Zeitungen lügen, ihre Minister lügen. Sie und ihre Akolythen lügen mit Absicht und mit Berechnung und mit Unverfrorenheit."
Man reibt sich die Augen und schaut nach, ob das Datum der Veröffentlichung tatsächlich 1912 ist.

De Haans Erfahrungen führten dazu, dass er sich dem Sozialismus zuwendete (wir sind noch in der Zarenzeit, und die große Hoffnung war, dass die Missstände sich durch den Sozialismus ändern würden) und mit seiner üblichen Begeisterung und Naivität zusammen mit Frederik van Eeden und Henriette Roland Holst ein Komitee gründete zur Unterschriftsammlung um die damaligen Verbündeten Russlands, Frankreich und Großbritannien, dazu zu bewegen gegen diese Übel zu protestieren.
Später kehrte er zurück zur Orthodoxie und wurde Mitglied der religiösen Fraktion des niederländischen Bundes der Zionisten. Seine im Zarenreich gemachte Erfahrungen mit dem Antisemitismus bewegten ihn, 1919, in das britische Mandatsgebiet Palestina zu emigrieren. Dort angekommen fühlte er sich immer mehr angezogen zum Agudat Israel, der Organisation der streng-religiösen Haredim unter der Leitung des Rabbiners Joseph Chaim Sonnenfeld, die einen säkularen Staat Israel ablehnten. De Haan unterrichtete an der rechtswissenschaftliche Fakultät in Jerusalem, schrieb als Journalist Berichte für niederländische Zeitungen und nahm als Sprecher der orthodoxen Bewegung eine nicht unbedeutende Stellung ein. Die Lage im britischen Mandatsgebiet war, gelinde gesagt, so chaotisch wie die von den Briten gemachten widersprüchlichen Versprechungen. De Haans Versuche, die Briten auf die Agudat als eigenständige Stimme im Jewish Agency aufmerksam zu machen, sowie seine Kontakte mit dem Emir von Trans-Jordanien und seine Plädoyers für Verhandlungen zwischen Zionisten und Arabern wurden zunehmend als störend bis bedrohlich empfunden. 


de Haan, gekleidet als Araber

In 1923 forderten Studenten der Universität Jerusalem sogar seinen Rücktritt. Auch de Haans homosexuelle Beziehungen in arabischen Kreisen waren bestimmt nicht hilfreich, kurz: Er hatte sich konsequent unmöglich gemacht und zwischen allen Stühlen gesetzt.
Am 30. Juni 1924 wurde er, vermutlich durch ein Mitglied der zionistischen Organisation Hagana, erschossen.

Seine Verzweiflung, oder, sagen wir, einige seiner Verzweiflungen hat er in Vierzeilern zusammengefasst. Hier davon drei:


Jakob Israel de Haan,
 18811924

Unrast

Der, der zu Amsterdam oft sprach "Jeruschalajim"
und nach Jerusalem getrieben kam,
der sagt mit Sehnsucht in der Stimme
"Amsterdam, Amsterdam".


Das Gedicht als Inschrift auf dem 
Jacob Israel de Haan Denkmal,
gegenüber vom Rembrandthaus in Amsterdam


Zweifel

Auf was, als ich in dieser Abendstunde
die Stadt im Schlaf durchwandert habe
und an der Tempelmauer Platz gefunden,
warte ich? Auf Gott? Oder den Marokkanerknaben?

...


Dass ich ein Lüstling war, ein wildes Biest,
Der bitter genießt und daran zerknirscht zerbricht,
Man wird es wissen, solange man Holländisch liest,
Aber länger nicht.


Aus: Jakob Israel de Haan,  Kwatrijnen, 1924.

Übersetzung Jaap Hoepelman, 05.07.2018

* Nach dem damals noch gar nicht yuppi-mässig entwickelten Amsterdamer Arbeiterviertel "de Pijp" ("das Rohr")

** "Significa" ist der in den Niederlanden benutzte Begriff für die von Lady Welby gegründete Theorie der "Significs". Lady Welby erhoffte sich eine Klärung von Missverständnisse und Misstrauen durch genaueres Studium der Gebrauch der Sprache. Mitglieder der in 1917 errichteten niederländischen Signifischen Bewegung waren u.m. der Arzt und Schriftsteller F. van Eeden, die Mathematiker L. E. J Brouwer und G. Mannoury, der Sprachwissenschaftler J. van Ginneken und der Sinologe, Journalist und Schriftsteller Henri Borel.




Focquenbroch. Ein böser Bub aus dem 17. Jahrhundert, oder Fumus Gloria Mundi

     Willem Godschalck van Fockenbroch  1640-1670 Dichter sind Außenseiter. In diesem Blog haben wir sie kennengelernt: Piet Paaltjens , de ...