Donnerstag, 23. März 2023

Nijhoff: Het Uur U - Die Stunde Null

 Afbeeldingsresultaat voor willink schilderij


(Carel Willink. De Jobstijding)

"Die Stunde Null"- "Het Uur U", ist Nijhoffs zweites episches Gedicht, nach Awater. Es wurde 1936 geschrieben und erschien in 1942, und danach in verschiedenen Drucken während des Krieges. "Het Uur U" - "Die Stunde Null" ist ein Kriegsausdruck, vergleichbar mit "L'heure H" , "H-Hour", "D-Day", der Augenblick an dem die unwiderrufliche Entscheidung fällt. Kriegsdrohung lag in der Luft in 1936. Aber alles entscheidende Augenblicke gibt es nicht nur bevor ein Krieg ausbricht, sie können auch stattfinden im Leben einer Gesellschaft, einer Straße oder im Leben eines einzelnen Menschen. Es ist, als ob Rilkes Apoll an uns appelliert: "Du musst dein Leben ändern", oder Nijhoffs Soldatin der Heilsarmee in Awater. "Wir leben" sagt sie "unser ganzes Leben falsch.". Die Zeit steht still, man hört Wasser und Strom in den Leitungen...Aber der Moment kommt nicht. Noch nicht. Der Augenblick der Läuterung, der Epiphanie, geht vorbei und der bürgerliche Alltag, mit gedeckten Tischen, Porzellantellern und Servietten kehrt wieder ein. Nur bei den Kindern braucht es etwas länger, bis die Ordnung wieder hergestellt ist. Alles in Ordnung also? Die ungepflanzten Bäume sind wie ein Wald voller ungenutzter Chancen und die Stunde Null endet mit einem Seufzer nach dem unerreichbaren Paradies.

Die Stunde Null

Für St. Storm

Es war Sommertag.
Ausgestorben lag
die Straße, sengend in der Sonnenglut.
Um die Ecke kam ein Mann; ein gutes
Stück weiter auf dem Trottoir
spielten Kinder; winzig wie sie war
spielte die Gruppe keine Rolle,
machte die Straße keineswegs voller;
jetzt erst recht verlassen,
war sie der Sonne gänzlich überlassen.
Sogar solche, die die Natur spazieren
schickt, zu dieser Stunde und hier,
der Student, die Dame, die niemand kennt,
der Lehrer in Rente,
gingen heute nicht den normalen Gang
der vertrauten Straße entlang.
Ja sogar der Grundarbeiter,
arbeitete nach drei nicht weiter
die Grabarbeit im Mittelstreifen
für die Bäume ließ er bleiben,
und den Spaten einsam stehen
um schleunigst sonst wohin zu gehen.
Doch fremder, ja über die Maßen
fremder als dass die Straße
leer war, war das beim schnellen Gang
völlige Fehlen von jeglichem Klang;
dass mit seinem Schritt der Mann,
der jetzt um die Ecke kam
diese Ruhe gar nicht störte,
im Gegenteil, dass tieferes Nicht-Hören
eintrat mit jedem Tritt,
gehend in gestrecktem Schritt.
Kein Dieb und kein Spion beim Schleichen,
übertraf das, was er mühelos erreichte
und das flügelbewährte Leder
von Gott Hermes, auf dem er
von seinem Gipfel pflegte zu reisen
durchkreuzte den Raum nicht so leise
wie es der Mann auf dem Straßenbelag
in normalem Schuhwerk tat.
Er erzeugte auf dem Trottoir
das unheilverkündende aber unhörbar
in den Himmel geschossene Gerücht
eines abgefeuerten Fliegerberichts;
aus einem Wölkchen platzt Licht,
das zum Stern auseinander bricht,
und dem ganzen Frontabschnitt entlang
weiß es nun jedermann:
dies meldet die Stunde Null,
jetzt wird es beginnen, nun
ist vorbei die Unsicherheit
der mir vorgesehenen Zeit,
jetzt ist es für alles zu spät.
Die Stille, die dabei entsteht
ist Stille nicht der Form nach nur,
eine Stille vor dem Sturm,
sondern eine Stille in der man
Dinge hören kann
die das Ohr noch nie vernahm.
So auch hier. Als der Mann kam
und in gestrecktem Pass
voranschritt, fing man an das Gas
in den Rohren unterm Haus
zu hören, und wie Wasser rauscht
in der Kanalisation und einen funkenden Summerton
im Draht zum Radio und Telefon,
als wären Bienen in der Gegend.               
Hinter den Vitragen nichts, das sich regte.
Für gewöhnlich, wenn hier jemand geht,
wird mit großem Interesse gespäht:
Vorsichtig schiebt man mit den Händen
Vorhänge zur Seite, denn
jeder Vorbeigänger ist
hier ein ziemliches Ereignis.
Gab's nichts zu sehen
an ihm? - War es ein Versehen
weil alles schlief,
oder dass er so leise lief,
dass hinter keinem Vorhang einer schaute?
Nein,  nein, jedes Fenster war ein Auge,
war das zugeschobene Augenlid
einer Eule, die auf einem Wipfel sitzt
und regungslos auf ihrem Ast
spähend jede Regung erfasst.
Diese absolute Stille dann,
fing wie Musik zu zittern an.
Panik ist ein großes Wort,
aber es beschreibt, wie dort
in diesem Augenblick die leere Straße
ein ungenannter Schrecken erfasste.
Ein träges Wölkchen; eine im
Blauen entfaltete Insel am Himmel
bedeutete die Offensive, die
bevorstand; jetzt oder nie.
Hätte einer ein Fernglas erhoben
säh' er im Azur weit oben
einen Kreuzer, feuerbereit.
Freund oder Feind?
Nicht auszumachen, weil
Flaggen gehisst auf dem Schiff waren keine.
So trug auch dieser Mann nicht das kleinste,
womit man sonst den einen Mann
vom anderen unterscheiden kann.
Und auch die Musik sang weiter, sie
wurde zur großen, schweigenden Polyphonie.
Denn seitdem Wasser und Gas
und das Summen die Stimme besaß
der elektrischen Spannung,
hatten auch Herzklopfen, und Erwartung,
und Gähnen und stille Hoffnung,
und Kreislauf, und Verzweiflung,
kurzum das immer Überstimmte,
in die ferne Hymne eingestimmt,
die, ob man wollte oder nicht,
immer klarer im Klang sich
aus der Stille heraussang.
Sehnsucht, erdrückt im Würgestrang,
ein Kind, im Brunnen erstickt,
ruft, wenn es plötzlich erschrickt
nach Spielkameraden in der Not.
Denn was tot ist, ist tot,
doch was ermordet ist, lebt fort,
lebt fortan ungestörter fort
als der, der unbehelligt weiterlebt.
Die Tat, nicht abgelegt,
verursacht Schaden mehr, als die vollbrachte Tat.
Als Gestorbener zu sterben, nach getaner Tat,
ist Gnade, doch wehe dem, der
Leben und Sterben
zugleich erleidet in doppelter Agonie:
Nichts überbrückt für ihn die Schlucht, die
Tod und Leben trennt.
Er ging, wie einer, der fast rennt
der Mann, aber nicht schnell genug,
als dass nicht jede Scheibe mit einem Hauch beschlug,
dem Atemhauch aus seinem Mund,
den er aufriss bis zum Schlund,
den er aufriss, sperrangelweit.
Doch Worte kamen nicht; zu gleicher Zeit
mit diesem unbenannten Pein
stellte mit der Musik sich ein
- wohlgemerkt, in einer Straße, die, wenn
es geht, den eigenen Kummer nicht erwähnt,
die, im Gegenteil, sich lustvoll breitmacht über Leid,
das das Leben anderen bereitet, -
wohlgemerkt, in einer solchen war's gerade,
wo hinter Fenstern und Fassaden
gesammeltes Stammeln sich
höllisch erhob, - zum x-ten
Male, jeder Schrei war geschmort -
als dieser höllische Akkord
dort in der heißen Luft vibrierend stand,
so, dass wer sich an diesem Ort befand
wohl ähnlich vorgegangen wäre,
- will sagen: fortgegangen wäre -
wie der Mann, der stehen ließ den Spaten,
der die Löcher hatte gegraben,
doch die Bäume nicht gepflanzt,
- als dort die Dissonanz
immer schrillere Spiralen schrieb
zur schuldlosen Wolke, die oben blieb,
schwimmend im unbewegten Meer, -
brachte die Musik noch viel mehr
mit sich (denn so ist Musik: sie spielt):
während mittlerweile das Bild
des unentwegt schreitenden Fremdlings
an den Häusern weiterging,
wurde jedem Sterblichen, der zugegen war
eine Vision gewahr
einer schier himmlischen Euphorie.
Da war einmal der Arzt, der die
Praxis in der Straße
erst dann angefangen hatte,
seit er als junger Assistent
ein grundlegendes Experiment
nicht weiter machte,
weil es höchstens trocken Brot einbrachte, -
ihn führte die wilde Musik
in das stille Klinikum zurück,
und er sah, wie er dort stand:
Gummihandschuhe, weißen Kittel an,
im Regal entlang der Wand
aus Glas, Glasur, Email, Metall, allerhand
klirrende, glänzende Sachen
die eine bessere Zeit versprachen. -
Auch der Richter hat sich wiedererkannt,
er trug nicht das Amtsgewand,
keine Robe, kein Barett und kein Jabot - nur
mit seinem Rechtsgefühl als Richtschnur,
getreu dem richterlichen Eid,
im Namen der Gerechtigkeit
hat er mit erhobener Hand
sich zur eigenen Schuld bekannt
und wen ungesühnt verbrochen
hatte, von der Sünde freigesprochen.
Die Dame wiederum, die niemand kennt,
das Luder, wie man sie auch nennt,
sah, wie sie wie Diana stand
ohne Bluse, nackt im Wald.
Und ein Hirsch ging für sie in die Knie,
als er kniete, kniete auch sie:
ihr bebte die Hand und ihr Auge strahlte,
als sie am lebendigen Wasser sich labte.
So gab es für jeden was,
für den dies, für die das.
Doch das reine Glück, das man erfuhr
dauerte Sekunden nur,
und wurde sofort wieder zerstört.
Gewissermaßen war man an Bord
eines rostigen Seelenverkäufers gelandet.
Im Wirbelsturm gestrandet
blickt man dem abgedrehten Rettungsboot
verzweifelt hinterher, so dass man in der Not,
wie es der Glauben gebietet,
Öl auf die Wellen gießt:
Einen Moment tritt Ruhe ein, Ruhe ungekannt:
das Schiff liegt regungslos, doch schon schlägt übers Want
die schwere See, mit Öl vermischt,
die Ölverseuchte Gischt
gerät ins Feuer, explodiert, das Wrack
voll faulem Wasser sackt
wie ein schlammgefüllter Prahm.
So sank, an jedem Fensterrahmen,
ein Mensch dem Spiegelbild
entgegen, dem eignen rettungslosen Bild.
O, das Öl war zwar vergossen
aber keineswegs vergeudet!
Einen Moment lang hat der Geist
in fernen Gestaden umhergeschweift
und war um dorthin zu gelangen
wie ein Kamel durchs Nadelöhr gegangen.
Und kam an in welchem Land?
Auf Erden.- Er war im eigenen Land gelandet. -
Wie ein Mond war die Hand, die sich träge
über die schweißnasse Stirn bewegte;
auch das glasige Auge blinzelte nicht,
dem Mond gleich, nicht dem Sonnenlicht.
Doch bald, ein Sturzbach, sich vom Eis 
befreiend, schoss das Blut,
schon schwamm hinweg auf dieser Flut
- wie nach Gewitter auf einem Fluss ein Baum
davonschwimmt - der Traum
über das eigene Geschick
fort aus dem Blick,
und atmete man auf, befriedigt,
wie nach dem Amen einer Predigt.
Der Geist, als er herunterstrich
aus diesem leeren Alles oder Nichts
und wiederkehrte in den Sarkophag
von Brot und fester Arbeit jeden Tag,
war froh, dass dieser Tod
ihm endlich Raum zum Atmen bot.
Er war, zurück im Fleische, müde zwar,
mehr als nur müde gar,
aber platt gesagt heilfroh dar-,
über, schwach wie es war:
Kein so großes Manko in der Kasse,
das in der Schlussbilanz nicht passte,
das man dem dämlichen Kollegen
nicht an die Backe könnte kleben.-
Doch schau her, der Kumpel saß
und schwitzte schon am Arbeitsplatz,
so dass der Geist, beschämt hinunter schauend
zu ihm zu gehen sich nicht traute,
ohne verräterische Tränen zu verdrücken.
Dieser aber wollte keinen Stuhl verrücken,
und blickte stur auf die Belege
ohne den Schreibstift aus der Hand zu legen.
Länger zu bleiben hatte keinen Sinn,
somit flog der Geist wieder hin
zum Ballungsort, azurn und leer
zwischen der Sonne und unserem Planeten.
Kurz schaute noch der Kompagnon
dem Reumütigen nach im Flug,
sann, sah in der Luft
eine Wolke, und dass da ging
noch immer dieser Eindringling,
noch immer dieser Mann
in der Straße, wo sein Lauf begann.
Es ist aber wohl ersichtlich,
- denn allmählich kam man wieder zu sich
aus dem tiefen, hypnotischen Bann,
und der Mann kam flott voran -
dass man ihn jetzt auf den Rücken
sah. Man war nicht unbedingt entzückt,
will heißen:
er wurde nicht gerade willkommen geheißen;
und wieso hätte man auch sollen?
Aber Gott sei Dank schien er weiter zu wollen.
Es hatte immer mehr den Anschein,
man würde ihn bald los und von ihm erlöst sein.
Und als er fortschreitend Land nahm,
und die Wahrscheinlichkeit zunahm,
gab die ganze Straße, allesamt und jeder alleine
- bis auf einen,
für den Aufmerksamen ist klar,
dass es der Richter war, -
gab, ausgenommen der Richter, dem Mann,
die ganze Straße alsdann,
- sit verbo venia, dieses Wort mag erlaubt sein, -
das heilige Kreuz beherzt hintendrein.
Aber wie so oft zuvor
pries man den Tag bevor
es Abend war -
wofür dann Lehrgeld zu entrichten war.
Der Mann hatte ja die Straße
immerhin noch nicht verlassen.
Flach an der Scheibe, das Vitrage-Netz
blutrot, tief in die Stirn gepresst,
konnte man noch sehen wie er ging.
Als auf einmal etwas vor sich ging,
das der Straße die Sprache verschlug
und Schaudern in die Herzen trug.
Kochend vor Wut, die Faust geballt und leichenblass
schaute man auf das Entsetzliche, das
da unten vor sich ging.
Der Mann, der unbeirrt weiterging
hatte das Grüppchen auf dem Bürgersteig,
die Kinder, die dort spielten, erreicht. -
Oft ist es gar nicht, was es scheint,
was die Kinder im Spiel vereint:
Oft stehen sie ja nur herum
und geht es um
die Wörter selbst, und das Vergnügen,
Wörter einfach zusammen zu fügen.
Dass von der kleinen Viererschar
eins ein kleines Mädchen war,
war etwas das erst auffiel
wenn der Blick darauf fiel,
ihr Matrosenhemdchen, wie beim Schotten,
weitete sich zum Faltenrock.
Einer der Buben stand voller
Stolz auf einem Roller
und er zeigte, dass dieser sogar
mit Richtungsanzeigern versehen war.
"Das macht es nicht zum Automobil" sprach klug
der größte, der einen Knickerbocker trug.
"Von Autos gesprochen", meinte
er noch mitleidig, "habt ihr denn etwa keines?" -
Das Mädchen legte das Bein mit einem Schlenker
über den vernickelten Lenker,
- alles an ihr war Natur:
die Haare und die Bubifrisur,
ihr Stupsnäschen leicht gebogen -
ein Kind, noch nicht zum Benimm verbogen,
"das ist mir bei meinem nie geglückt",
sprach sie und schwang das Bein zurück.
Die Hände, fachmännisch hinterm Rücken versteckt
- im Badeanzug, wo hatte er sie hingesteckt? -
rief der kleinste: "Klingelt die Klingel?"
Die Klingel klingelte.
Und er: "Na also,
Klingeln gibt es nicht am Auto."
Der Besitzer aber wurde nicht müde
und ließ mit erstarrten Zügen
die Richtungsflügel auf- und zugehen.
Einem Wunder kann keiner widerstehen.
Alle blieben schweigend stehen, etwas betreten,
dann aber kam der Mann herbei getreten.
Es gibt ein viel geliebtes Spiel
von Kindern, die
es nennen "schattentreten".
Es geht ein Mann. Auf seinen Schatten treten
Kinder. Für gewöhnlich machen sie zwei
Schritte, und er einen.
Es ging durch Mark und Bein,
Es war herzzerreißend, in einer Reihe
das Grüppchen auf dem Steig
mit dem Fremden gehend
davon hüpfen zu sehen.
Es schnitt, schnitt einem durch die Seele.
Knickerbocker und Matrosentracht
tanzten, wie ein junges Paar, einträchtig
Seite an Seite,
haltend an den beiden Seiten
die beiden anderen an der Hand:
Der Badeanzug kam ohne Schuh gerannt
und ohne zweiten wohl auch bald
aber der Matrose im Faltenrock half,
während neben dem Knickerbocker
der Besitzer vom abgestellten Roller
soviel er konnte sich beeilte.
Es war höchste Zeit: Kein weiteres Verweilen
bis dies nicht ein Ende nahm.
Aus den Häusern kam
der scharfe Klang
von Klopfen auf Scheiben den Fassaden entlang,
als riefen aufgedrehte Hennen die Küken zurück in den Stall.
Die Kinder hörten nicht. Was war der Fall?
Gerade war etwas vor sich gegangen
und hielt sie für den Augenblick gefangen.
Der Schatten hielt ein. Sie blickten auf
und nahmen unverzagt den Fremden auf.
Ernst schaute er von wo er stand,
der Kopf ihnen halb zugewandt.
Verdutzt waren sie nicht,
aber hielten an den Händen sich
tapfer fest. Wie Däumlinge standen die Kleinen
und schauten auf die Kieselsteine.
Es war eine Minute vielleicht,
aber sie dauerte eine Ewigkeit.
Dann tat der Mann noch einen Schritt
mit seinem sonderbar gestreckten Tritt
und in wenigen Sekunden
war er um die Ecke verschwunden.
Sofort öffneten die Fenster sich
weit, weiter ging ja nicht.
Man wusste nun Bescheid:
Es war um die Essenszeit.
Denn was gab es dort zu sehen?
Man sah gedeckte Tische stehen.
Und was nahm man wahr?
Suppenterrinen und Silberware
in der Mitte des Tisches platziert.
Servietten fein säuberlich drapiert,
die Porzellanteller daneben
waren von Silberbesteck umgeben.
Aus geöffneten Vordertüren
stürzten jetzt die Mütter,
Kindernamen rufend, beinahe schreiend,
in die Hände klatschend herbei.
Doch von anderer Seite
kam jetzt ein Flattern, leiser.
Es waren Spatzen und Meisen,
Amsel, Möwe, Fink und Star,
es kam von oben her. Die ganze Schar
flatterte von First und Rinnen
zum Tirilieren, Zwitschern, Singen
aus voller Brust, mit zitterndem Schnabel
ein Trillern, Pfeifen, Krächzen, Schlagen
bis hinunter auf den gleichen Gleisen,
worauf sich die Elektrische beeilte
um gut zu machen die Verzögerung
nach einer kürzeren Ablaufstörung,
folge von einem Kurzer im Netz
und die nun, rappelvoll besetzt,
versuchte so schnell es eben ging
Zeit zur Endhalte zu gewinnen.
Doch Kinder sind, einmal gegangen,
(so sind sie, sogar hier) nur mühsam einzufangen.
Es brauchte eine gute Viertelstunde,
bevor die Servietten vorgebunden
und alle ordentlich am Tisch
gesessen waren. An der Türe und auf dem First,
von niemandem gestört
wurde ein Bettelliedchen gehört
von einem Vogel, der aufgeweckt,
den kleinen Schnabel hochgestreckt,
am Fenster sang ein kleines Gedicht.
Nur in den Bäumen nicht.
Nein, in den Bäumen nicht,
die standen ja noch nicht.
Aber wie schön, ach welche Pracht
sind sonst Blüten und Blätterdach. -
Wie schön? Der Himmel weiß wie.
Doch wissen kann man nie....

Übersetzung J. Hoepelman Oktober 2017




Samstag, 4. März 2023

Nijhoff: Awater



 Bildergebnis für nijhoff

Der Niederländer Martinus Nijhoff (1894-1953) war gleich alt wie der Belgier van Ostaijen, aber ihre Werke könnten unterschiedlicher nicht sein. Der erste Weltkrieg hatte in Belgien verheerend gewütet, während die Niederlande verschont geblieben waren. Van Ostaijen und Nijhoff waren beide Meister der Umgangssprache, aber van Ostaijen legte nach den Erfahrungen des Krieges die traditionelle Verstechnik ab (siehe z.B. seine kabarettreife Alpenlieder, oder Singer). In den Niederlanden setzte sich dieser Umschwung erst nach dem zweiten Weltkrieg bei den "Fünfzigern" so richtig durch (z.B. Lodeizen). Nijhoff legte somit noch großen Wert auf die traditionelle geschliffene Verstechnik. Eines seiner bekanntesten Gedichte, ist "Awater", eines der wichtigsten der niederländischen Dichtkunst des 20. Jahrhunderts: Unter einer leicht leserlichen Oberfläche verstecken sich dermaßen viele Bilder und Symbolen, dass ganze Bibliotheken mit Interpretationen dieses Versepos vollgeschrieben wurden.
Der Name "Awater" an sich war Anlass unzähliger Interpretationsversuche, sogar so geistlose, wie dass es nur eine Abkürzung sei für die Zeile 36, die das ganze Gedicht zu beherrschen scheint: "Lees maar, er staat niet wat er staat..." (Lies nur, da steht nicht, was da steht"). ..."wat er staat" - "waterstaat". Waterstaat is der Sammelbegriff für alle Struktur- und Sicherheitsmaßnahmen im Bereich Wasser und Verkehr. Also vielleicht auch für die Niederlande insgesamt, die bestimmt ein "Waterstaat" sind. Nijhoff, der Mystifizierungen mochte, hat selber darauf hingewiesen, dass "A" an sich schon "Wasser" bedeutet, und "Awater" also "Wasserwasser". Niederländischer geht nicht. Bei so viel Freiheit erlaube ich mir auch einen Versuch."Awater" erinnert unmittelbar an "Avatar", ein Begriff, der in unserer IT-Gesellschaft neu in Mode gekommen ist. Aber er ist alt, sehr alt sogar. Im Hinduismus ist der Avatar (Sanskrit "avatara", der Hinabsteigende) die Inkarnation oder Erscheinung einer Gottheit. Im Gedicht weisen einige Stellen darauf hin:

"Sei hier anwesend, allererster Geist,
der Du am Anfang über den Gewässern streichst."

"Auf einmal Awater; er tritt aus einem Korridor hervor.
Ich sehe, wie blinzelnd er herunter kommt."

Kann Nijhoff den Begriff gekannt haben? Nun, er war ein belesener Mensch und kannte z.B. die anglo-amerikanische Literatur sehr gut. Ungefähr zur gleichen Zeit nimmt T.S. Eliot in seinem "Waste Land" ausführlich Bezug auf die Upanischad. Nijhoff war außerdem befreundet mit dem Dichter Johan Andreas dèr Mouw, pseudonym "Adwaita", der als Kenner des Sanskrit, (und des lateinischen und griechischen) zweifellos mit dem Begriff vertraut war. Zumindest klanglich sind "Adwaita" und "Awater" nicht weit aus einander entfernt. Wenn es jetzt ans Wortspielen geht: "Er staat niet, wat er staat": "niet wat er staat": "niet wat er". Das griechische aber auch das Sanskrit- Präfix für "un", "niet" oder "nicht" ist "a-". "Awater", "Avatar", "A-dwaita" - "Nicht-Zweiheit" eben. Eine schöne Mystifikation. Und so wahr: "Er staat niet wat er staat" - "Da steht nicht, was da steht".
Im Übrigen kommt "Awater" in den Niederlanden und in Deutschland als ganz gewöhnlicher Nachname vor.
Die Abschnitte des "Awater" reimen sich meistens nicht, dafür hat Nijhoff das Gedicht in durchgehender Vokalharmonie geschrieben: Der erste Vers in "-ee-", der zweite und dritte in -aa-, der vierte in -oo- usw. In der Übersetzung habe ich versucht, diese Tonalitäten beizubehalten.
Nijhoff war auch ein großer Übersetzer. Die Auszeichnung für Übersetzungsarbeit ist sogar nach ihm benannt. Eine Übersetzung hat er in Awater versteckt, das 250. Sonnet aus Francesco Petrarcas Canzoniere:

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Petrarca

"Stets hat sie mich getröstet, stets hat sie, als ich schlief
mit ihrer Ankunft sich gesorgt um mich
die Angebetete; doch heute kommt sie und zerbricht
den letzten Halt, der im Verlust mir blieb.
Ich seh sie vor mir, wie sie kniet danieder
in tiefem Kummer, angstvermischt;
ich hör', wie sie vom Glauben spricht,
doch Freude oder Hoffnung bringt's nicht wieder:
"Erinnerst du dich an den letzten Abend, als ich dich verließ,
ersparen wollt' ich dir die Tränen im Gesicht
als ohne Abschied ich die Welt verstieß?
Ich konnte nicht, ich wollte nicht dir melden den Bericht,
dass du begreifen musst, wie unser Urteil hieß:
Zu sehen hier auf Erden mich je wieder - hoffe nicht."

(Übersetzung aus Nijhoffs "Awater", J. Hoepelman 2018)


Sonnetto 250

Solea lontana in sonno consolarme
con quella dolce angelica sua vista
madonna; or mi spaventa et mi contrista,
ne di duol ne di tema posso aitarme;
che spesso nel suo volto veder parme
vera pieta con grave dolor mista,
et udir cose onde 'l cor fede acquista
che di gioia et di speme si disarme.
"Non ti soven di quella ultima sera
dice ella " ch'i' lasciai li occhi tuoi molli
et sforzata dal tempo me n'andai?
I' non tel potei dir, allor, ne volli;
or tel dico per cosa experta et vera:
non sperar di vedermi in terra mai".


Awater


"ich suche einen Mitreisenden"


Sei hier anwesend, allererster Geist,
der Du am Anfang über den Gewässern streichst.
Dein gutes Auge möge über dieser Arbeit weiden,
die wüst und leer ist, der Welt in soweit gleich.
Sie will nicht wie die letzte Ära sein,
vor Trümmerbergen stehend von Schönwetter leiern,
denn Singen, das ist Leidenschaft, die eitert,
was anfangs war, konnten nie Trümmer sein.
Nicht lange liegen bleibt der erste Stein.
Erneuert wird die Stille, die das Wort entzweit.
Das, was geschieht, kann nur erstmalig sein.
Gepriesen! Noah baut die Arche, aber keine zweite
und Jona predigt, doch zu Ninive für keinen.

Ich habe einen Mann gesehen. Der Mann hat keinen Namen.
Gib ihm auf einmal unser aller Namen.
Sohn einer Frau und eines Vaters.
Sobald die Sonne rot ist aufgegangen
geht er vorbei an meinem Fenster in die Stadt
und kehrt erst wieder, blau ist der Abend schon gefallen.
Er schafft in einem Büro, heißt dort Awater.
Schaut auf ihn. Bekleidet ist er mit Kamelhaar,
geheftet durch die Nadel. Sein Leib ist mager,
Heuschrecken und Honig sind ihm Nahrung.
Niemand hat je das, was er ruft verstanden.
Es ist Wüste, wo er Gebärden macht.
Mönchisches, Soldatisches haftet ihm an,
doch es wird nicht gebetet, nicht geblasen,
wenn man im Büro das Hauptbuch aufmacht.
Wie in einem Tempel sitzt man an der Tafel,
man schreibt auf Italienisch und Arabisch.
In Ziffern, niederrieselnd grau wie Asche,
steigen die Zahlenreihen in Orakelsprache.
Ruhe kehrt ein, das Thermometer steigt im Saal.
Dünn und salzig weht das ratternde Metall.
Die Schreibmaschine grübelt Irrensprache.
Lies nur, da steht nicht, was da steht. Was steht da?
"Mutter, niemals wirst den Pelz du tragen
wofür du jeden Pfennig hast gespart,
und nie mehr gehe ich an freien Tagen
mit einem Strauß zum Hospital,
sondern bringe Rosen dir zur Friedhofsgasse..."
Das ist es, was da steht; Awaters Züge sind erstarrt
als seine Rührung rührungslos verharrt.
Wie spät ist es? Awaters Müdigkeit macht sich bemerkbar.
Das Telefon schläft auf dem Schreibpult seinen Schlaf.
Teetassen werden emsig eingesammelt.
Die Uhr tickt, tickt, schlägt, bis es schlägt sechs minus halb.
Dann werden ausgedreht die grünen Lampen.

Heute, als ich die Fensterblumen goss
ist mir das Vorhaben gekommen,
Awater abzuholen im Büro.
Ich habe, seit mein Bruder starb, auf Reisen keinen mitgenommen.
Wenn ich einen Gefährten suche, bin ich's gewohnt
zu sehen, ob es passt, dass ist doch üblich so.
Heut' Abend folge ich Awaters Spur also,
ich schau mal, wie der Hase läuft, so sagt man wohl,
und morgen dann, geht alles gut, stell' ich mich vor.
So steh' ich vor der hohen Treppe, und ich scheue noch.
Es schlägt halb sechs. Die Zeit wird grenzenlos.
Passanten ziehen durch die Straße in einem dichten Strom.
In jedem Schatten wird nun Licht verstromt,
im Nebel suchen Umrisse die Form.    
O Bruder, du im Himmel, schau hervor.
Beschütze mich, damit kein Licht in meinem Schatten wohnt.
Lasse mich bitte ohne Bild und Ton. 
Auf einmal tritt Awater aus einem Korridor hervor.
Ich sehe, wie blinzelnd er herunter kommt.
Nicht Sterbliche, noch Stadt, noch Abendrot
gibt es für ihn. Er sputet sich von oben,
Stufen aus Sandstein entlang, vorbei an Schlangen Kupferrohr.
Es ist, als ob er einen Saum sieht, einen Horizont,
aus dem ohn' Unterlass ein Wetterleuchten glost,
als hätt' er das, von dem er träumt, im Ohr
und sieht den Ort, wo er's zu finden hofft.
So sputet er an mir vorbei - ich fühle mich durchbohrt.
Er hastet in die Eingangshalle vor.
Er steckt den Schlüssel in das vorbestimmte Schloss.
Vor ihm steht ausgedorrt ein Distelstock,
er nimmt den Stock, er wandelt pfeifend fort.
Er hat bedeckt, doch ich entblöße jetzt den Kopf:
Sei hier, noch einmal, Du, der Du in Höhen wohnst
so unbewohnbar wie Calvario.

Der Asphalt auf den Straßen ist einer Decke gleich.
Ich merke, dass der Widerhall, der mich begleitete
in der gefliesten Eingangshalle, draußen schweigt.
Die Stadt verleiht dem Fuß Unhörbarkeit.
Autos schieben, wie Karawanen aufgereiht,
mit leisem Lederknarzen sich an uns vorbei.
Awater hat sich, scheint's, beeilt.
Ja, doch, der Schein trügt nicht, er will auf Reisen.
Vor einem Modeladen hält er ein.
Er sieht, was eine Gruppe Puppen 
scheint
mit Plaid und Fernglas für die Reise,
die am gelben Strand des Nils verweilt,
Palme und Pyramide zeigen es zweifelsfrei.
Awater, was du dir überlegst, ich glaube, dass ich's weiß.
Beim Bild der Schifffahrtslinie, etwas weiter,
auf dem ein Beduine ein Schiff willkommen heißt,
das weiß am Horizont erscheint,
und beim Palast der Bank, noch etwas weiter,
gibt eine Liste über den Wechselkurs Bescheid.
So zieh'n wir beide weiter, am Schein der Schaufenster vorbei.

Er biegt auf einmal in eine Nebengasse ein.
Es klingelt eine Klingel. Da drinnen muss er sein.
Auf einem Schild: Rasieren, Haareschneiden.
Ein kleiner Raum, Schränke an beiden Seiten,
scheint durch den starken Duft von allerlei
Parfums und Wässerchen noch kleiner.
Awater - in der Drängelei
muss ich gestehen, wär' er mir fast enteilt -
sitzt in einem Umhang aus gestärktem Leinen
vor einem porzellanen Becken, blütenweiß.
Der Friseur macht seine Arbeit, ich setze mich derweil
als einer der bald dran ist auf einen Stuhl zur Seite.
Awater sah ich nie von so dicht bei,
wie jetzt im Spiegel; nie schien er mir dabei
so weit entfernt zu gleicher Zeit.
Zwischen den Flaschen, glitzernd wie Splittereis,
seh' ich, dass er im Spiegel einem Eisberg gleicht,
an dem entlang die glatte Schere seinen Schnabel streicht.
Doch es wird Frühling, und während breit
der Nebel hängt des Regengusses, der vorüber treibt,
pflügt durch durchwühltes Haar der Kamm die Scheitel.
Awater nimmt dann Abschied und zieht weiter
und ich verlasse das Geschäft als zweiter.

Der Zufall nimmt zum Ziel oft eine Kürzung.
Zufall, dass Awater an der Stelle landen musste
im gleichen Kaffeehaus, das ich mit meinem Bruder oft besuchte?
Kein Zufall, dieser Tisch war meistens frei für uns.
Ich setze mich woanders hin. Platz gibt's genug.
Der Kellner kennt mich. Zweimal schon hat er den Tisch geputzt,
was kann er sonst noch für mich tun?
Er zögert noch, in seiner Hand das weiße Tuch
und schweigt jetzt lange, neben meinem Stuhl.
"Die Zeiten sind vorbei" sagt er. Es ist ein Spruch nur,
aber ich verstehe, er denkt an meinen Bruder,
den Hund bei Fuß, und wie er mit dem Hut
keck auf dem Hinterkopf in das Lokal hineinfuhr
und wie der Wind es füllte mit einem kleinen Aufruhr.
Der gleiche Sand wie damals liegt noch auf der Flur,
Die gleiche Taube gurrt im Käfig den immer gleichen Ruf.
Hui, ruft der Wind, fort, fort! Jetzt ist es gut.
Und wer ist das? frag' ich, weil ich was sagen muss.
Er hat sofort das Richtige vermutet:
"Ein Kunde, der zum ersten Mal dieses Lokal besucht"
Dann zieht er hinter sich das Tresengitter zu.
An der Spüle wird das Spültuch jetzt benutzt. 
Was ist es, das Awater jetzt in seiner Tasche sucht?
In Maroquin gebunden, ein kleines, grünes Buch.
Ein Schachspiel für die Tasche, so könnte man vermuten.
Die Hand, die trommelt auf den Tisch, schöpft Mut
für die Vision, die hinter seiner Stirn sich auftut:
Schneeflocken schwirren zwischen Tropfen Blut.
Das Spiel wird neu gefügt zur nie gewesenen Figur.
Das Glas steht unberührt im Zigarettendunst,
der kerzengerade steigt; ein Rosenstock mahlt an der Decke Blumen.
Er sitzt allein, ein Mensch, der in sich ruht.
Er hat, was ein Planet hat, oder eine Blume,
den innerlichen Trieb, der ruht auf tiefem Grund.
Er leert das Glas und schließt das Buch.
Still vor sich schauend wird er von Traurigkeit besucht.
Er schaut in meine Richtung, so dass ich fast vermute,
dass er nach mir ruft, als er den Kellner ruft.
Doch nein, er rechnet ab, ich bitte um die Rechnung
und bald ziehen wir weiter zusammen durch's Gewusel.

Das Licht blitzt unaufhörlich den Schriftzug in Kopie
des Etablissements, wo Doppelreihen von Besuchern, wie
PKWs im Stau den Türwarter passieren,
der an der Eingangstüre die Glasmühle bedient.
Wir treten ein und es erklingt Musik.
Awater ist, so scheint's, kein unbekannter hier.
Wo er sich hin bewegt, drehen die Köpfe sich.
"Wie?" so sagt einer "kennen Sie Awater nicht?
"Ich meine, dass er so etwas wie Accountant ist.
Ich kenne ihn, aber intim nicht wirklich.
Welche sagen, abends liest er Griechisch,
andere behaupten, es sei Irisch..." -
bis plötzlich Ungewöhnliches geschieht:
Auf dem Podest erhebt ein Herr sich,
der Awater seinen Platz anbietet.
"Ich spreche" sagt er "im Namen aller hier.
In unserer Mitte ist ein überragender Artist."
Awater, zeigend auf das Tischgeschirr,
deutet an, dass er zu speisen vorzieht
und dass ihm lieber wär', wenn man ihn ließe.
Nicht oft passiert's, dass man am Billard eine Serie unterbricht.
Es tritt totenstille ein. Oben verdrängt man sich
an der Brüstung der Etage, voller Neugier.
Langsam drehen sich die Ventilatorschwingen.
Dann erhebt Awater sich und singt sein Lied:
"Stets hat sie mich getröstet, stets hat sie, als ich schlief
mit ihrer Ankunft sich gesorgt um mich
die Angebetete; doch heute kommt sie und zerbricht
den letzten Halt, der im Verlust mir blieb.
Ich seh' sie vor mir, wie sie danieder kniet,
in tiefem Kummer, angstvermischt;
ich hör', wie sie von Glauben spricht,
doch Freude oder Hoffnung bringt es nicht:
"Erinnere dich an diesen letzten Abend, als ich dich verließ,
ersparen wollt' ich dir die Tränen im Gesicht,
als ohne Abschied ich die Welt verließ.
Ich konnte nicht, ich wollte nicht dir melden den Bericht,
dass du begreifen musst, wie unser Urteil hieß:
Zu sehen hier auf Erden mich je wieder - hoffe nicht."
Awater schweigt. Er 
ist erstarrt zur Säule aus Granit.
Man applaudiert, wirft bunte Serpentinen.
Awater, steif wie eine Puppe, die
nicht trägt die eigene Mechanik,
wankt nun dem Ausgang zu, 
und sieht die Menge nicht.
Von seinem Rücken flattert noch Papier,
ein schmaler Streifen. Ich folge ihm von hier.

Ich versuche - still ist es in dieser Gasse -
jeden von Awaters Schritte zu erfassen.
Er merkt es, wenn ich einen nur verpasse.
Meine Bedenken lassen nicht mehr nach:
die Post war da, ich hab' der Putzfrau, dass
ich auf Reisen gehen könnte, gar nicht gesagt,
das Fenster angelehnt, das Feuer im Kamin ist an,
ich habe nichts dabei, und überhaupt - was soll das,
auf Reisen gehen. - An einer Schnur taumelt der Drache
und die Bedenken steigen, aber bei jedem Umschlag
hellt die Besorgnis auf: Egal! Es ist mir doch egal!
Ich führe das Gespräch mit mir als Diskutant,
den Kopf geduckt, den Kragen aufgeschlagen.
Die Straße weitet sich. Es tropft aus den Platanen.
Vor uns, gerade aus, verläuft die Eisenbahn.
Wird hier, um Mitternacht, ein Meeting abgehalten?
Der Platz ist proppenvoll. Von flackernden Fackeln
angeleuchtet, auf dem Podest aus Latten
steht eine junge Frau, sie trägt die Tracht
der Heilsarmee. Touristen, rucksackbepackt,
Kinder, Frauen, Arbeiter im Blaumann
gehören der Besuchermenge an.
"Wir leben" sagt sie "unser ganzes Leben falsch."
Awater, 
seine Schritte innehaltend,
dreht sich zu mir um, als hätte er mich immer schon gekannt.
Woher? In der Theaterpause? In der Straßenbahn?
Im Blick, womit er mich betrachtet liegt die Frage,
während er - weil's kräftig weht - den Hutrand
festhält. 
Der Wind, der spielt mit ihrem Haar
legt eine goldne Schleife auf den Ärmel der Soldatin.
"Der Liebe" sagt sie, "traut man sich nie vergebens an."
Awater bleibt, ich gehe fort, ich haste,
als eilte ich zu einem Zug, als ob ich den verpasste.

Schaufelweise wirft der Heizer Kohle in den heißen Schlund,
der Maschinist hält Ausschau durch das Augenrund
und vor der Überdachung, über den Gleisfiguren,
fangen die Signale an mit dem Präludium.
Die Uhr springt von Minute zu Minute.
Wieder ruft die Lokomotive, ununterbrochen ruft sie,
rufend, dass der Plan keine Verspätung duldet.
Die Seufzersäule wird zum Wolkendutt.
Doch glaube ja nicht, dass der Orient Express sich kümmert darum,
wie es dir geht; er teilt nicht deinen Jubel
wenn du die Namenschilder siehst einer Kultur,
die dich mit Klang von Abenteuern ruft.
Sein Fahrplan kennt nicht die Berufung.
Verschiebst du, oder hegst du eine Hoffnung -
egal. Noch einmal: Ihm ist es egal. Auch für den Selbstbetrug
eines Gefährten ist er immun.
Dass du, alleingelassen, in seinem Luxus
beengt dich fühlst, und an der Fensterscheibe kurbelst
und zurückschaust auf den Bahnsteig; oder dass du
das größte Glück erfährst, das für das Individuum
bereit liegt: Zu wissen, dass gelenkt ich wurde,
umsonst war's nicht, ich war wohl nicht der Dumme, -
Gepriesen! - Ihm ist es egal. Er glänzt Azur,
klirrende Kettenglieder formen seine Rüstung.
Die Lokomotive singt, sie hebt das Knie, gibt nach dem Druck.
Der Zug fährt ab zur festgelegten Stunde.


Martinus Nijhoff

1934


Übersetzung Jaap Hoepelman
Januar/August 2018


Awater NL

Focquenbroch. Ein böser Bub aus dem 17. Jahrhundert, oder Fumus Gloria Mundi

     Willem Godschalck van Fockenbroch  1640-1670 Dichter sind Außenseiter. In diesem Blog haben wir sie kennengelernt: Piet Paaltjens , de ...