Donnerstag, 27. Juni 2019

Erinnerung an Holland

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Hendrik Marsman (1899-1940)

 Laut einer Umfrage hat Hendrik Marsman das beliebteste Gedicht der Niederlande geschaffen: "Erinnerung an Holland". Es ist kein Gedicht, das uns in die Abgründe der Metaphysik führt (Gottseidank, hätte ich fast gesagt), es ist eher schlicht, aber die Vision einer unendlich weiten, friedlichen Landschaft gepaart mit der unterschwelligen Angst vor der Drohung des Wassers hat einen niederländischen Nerv getroffen. Der weitgereiste Marsman schrieb es in Frankreich (deswegen "Erinnerung"), wo er 1936 bis 1940 lebte. Nach Kriegsausbruch versuchte er Juni 1940 mit seiner Frau auf dem Dampfer Berenice nach Falmouth zu entkommen, das Schiff wurde aber torpediert. Marsman war nicht unter den Überlebenden.

Afbeeldingsresultaat voor denkend aan holland




1936

Erinnerung an Holland

Denkend an Holland
seh' ich breite Gewässer
träge durch endloses
Flachland gehen,

Reihen unfassbar
hingehauchte Pappeln
wie hohe Fahnen
in der Ferne stehen;

und in der gewaltigen
Weite versunken
die Bauernhöfe
verteilt übers Land,

Baumgruppen, Dörfer,
gekappte Türme,
Kirchen und Ulme
in grandiosem Verband.

Der Himmel hängt tief,
die Sonne ist langsam
in grau-bunten
Schwaden verschwommen,

und in jeglichem Landstrich
wird die Stimme des Wassers
und sein ewiges Unheil
mit Bangen vernommen

Herinnering aan Holland

Übersetzung Jaap Hoepelman Dezember 2017

Andere Dichter haben das Gedicht gerne parodiert und als Anlass genommen, Holland aus verschiedenen Blickwinkeln sehr kritisch unter die Lupe zu nehmen. In den siebzigern spielten die Affären um Pieter Menten und Cornelis Verolme eine große Rolle. Menten hatte während des Krieges in Polen ein Vermögen zusammen geraubt, Verolme war ein Schiffsbauer, der in die Kritik geriet wegen Geschäften mit der süd-afrikanischen Apartheidsregierung.
Die parlamentarische Behandlung der beiden Affären, war, gelinde gesagt, unbefriedigend.
Gerrit Komrijs Parodie verwandelt die holländische Idylle in eine sarkastische Kritik an der bleiernen Zeit der siebziger Jahre.
Das Thema der verlogenen Kanzelmoral ist ein fester Topos, mindestens seit Multatuli.

Gerrit Komrij (1981)

Hollands innerster Kreis

Denkend an Holland
seh' ich Wertpapiere
schnell durch begierige
Finger gehen,

Reihen auf Handel
geile Bataver
als Sittenapostel
auf der Kanzel stehen;

und in den gewaltigen
Bankkatakomben
den Tankerdollar
und den Krügerrand,

Tafelpapiere
bigotte Mores,
Menten, Verolme,
in grandiosem Verband.

Der Himmel hängt tief
und der Geist wird allmählich
in parlamentarischen
Suaden geschmort,

und in allen Bereichen
kommt die Stimme des Kaufmanns,
seine ethischen Krämpfe,
am meisten zu Wort.

Herinnering_aan_Holland
Aus: Onherstelbaar verbeterd
Uitgeverij  C.J. Aarts, 1994

Übersetzung Jaap Hoepelman, Juni 2019


Die Zeiten ändern sich, und die Gründe für Kritik ändern sich mit ihnen.
Wie man sieht, hat sich an Hollands lieblicher Landschaft (und nicht nur daran) einiges geändert:


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August Agasi (2017)

Erinnerung an Holland

Denkend an Holland
seh' ich begradigte Flüsse
gelangweilt durch neuparzelliertes
Flachland gehen,

Endlose Reihen Windturbinen
Als irre Druiden
Das Schicksal beschwörend
In der Ferne stehen

und in der überbevölkerten
Ferne versunken
die Neubauviertel
verteilt übers Land.

Gewerbegebiete,
Megaställe, Kreisverkehre
planmäßig geordnet
in grandiosem Verband.

Der Himmel hängt tief,
die Sonne ist langsam
von Schwaden von Gülle
und Feinstaub benommen

und in jeglichem Landstrich
wird der Ruf nach mehr Asphalt
nach limitlosem Fahren
gelobt und vernommen.

Agassis herinnering

Übersetzung Jaap Hoepelman Februar 2018

Samstag, 1. Juni 2019

Simon Carmiggelt: "Die Abstinenzler haben Recht, aber nur die Trinker wissen warum."

Ähnliches Foto

Simon Carmiggelt
1913-1987


Seit 1946 schrieb Simon Carmiggelt unter dem Pseudonym "Kronkel" über 10.000 Kolumnen in der ehemaligen Widerstandszeitung "Het Parool". Carmiggelt gehörte zu den Gründern der Zeitung und war nach dem Krieg Leiter der Kunstredaktion. Er war eine feste Instanz in der Zeitungslandschaft: Ohne Unterbrechung erschienen seine Beiträge, sechsmal die Woche, links oben auf der dritten Seite in Kursivdruck, weswegen sie "cursiefjes" genannt wurden. Der Schriftsteller Willem Elsschot, mit dem Carmiggelt befreundet war und den er sehr bewunderte sprach von einem "Zwergenzug". Einmal jährlich erschien dann eine Auswahl der besten "Kronkels", die Carmiggelt zu einem der am meisten gelesenen Schriftsteller der Niederlande machten. Um einen Eindruck zu geben: Mein Opa, als er uns besuchte, hatte häufig die Zeitung dabei um ein besonders gelungenes "cursiefje" vorzulesen. Ich verstand zwar nicht alles, aber schön war es  trotzdem...
Erstaunlich: Unter den "Zwergen" gibt es nur sehr, sehr wenig schwache Beiträge. Meistens sind es perfekt gelungene Miniaturen, häufig über Amsterdam, seine Kneipen (in denen Carmiggelt gerne Notizen machte) und seine schrägen Typen. Anfänglich eher als kurze Sketche geschrieben, komplett mit Pointe, wechselte Carmiggelt nach und nach zu melancholischen Stimmungsbildern. In den kleinen Stücken wird er gerne mit Tsjechow verglichen (auch diesen bewunderte er sehr), und wie dieser war er auch für das Theater aktiv, insbesondere mit Texten für das Kabarett. 
Kein Gedicht, aber an einem "Kronkel" aus dem Band "Kroeglopen II"(Kneipengänge II) wollte ich mich dann doch versuchen :





Blick auf einen Heringmann                                                              Ã„hnliches Foto                                                                              

Es war früh am Morgen und ich kaufte mir einen Hering an einem schönen hochbeinigen Karren an einer Amsterdamer Gracht.
"Zwiebel?" fragte der Mann im weißen Kittel.
Er war kräftig und breitschultrig mit graumeliertem Haar - ein Fussballadept könnte man meinen, einer, der jeden Sonntag im Stadion verbringt.
"Nein danke, keine Zwiebel", antwortete ich.
Noch zwei Kunden standen am Karren, zwei Blaumänner, die zusammen gehörten.
"Es gibt solche, die nehmen sie mit Zwiebeln und solche mit ohne" stellte der eine großzügig fest.
Der Heringmann nickte.
"Ich, zum Beispiel, würde nie Gurke dazu nehmen", sprach der andere in kokettem Ton, wie ein junges Mädchen, das einen kleinen harmlosen Liebreiz erwähnt.
"Geben Sie mir bitte noch einen", sagte ich.
Der Heringmann schnitt ihn in drei Teile und steckte seine glitzernde Hand in die Schüssel mit kleingeschnittenen Zwiebeln.
"Nein, nein, keine Zwiebeln", rief ich.
Er lächelte entschuldigend.
"Ich war kurz in Gedanken", sagte er.
Die Blaumänner nahmen auch noch einen und fingen einen Streit über eine Belanglosigkeit an, in dem keiner nachgeben wollte.
Ich sah, dass sie noch vollauf damit beschäftigt waren, nachdem ich schon bezahlt hatte und mich in einem Café direkt gegenüber dem Karren, an einen Fenstertisch setzte.
Für Holländer gestikulierten sie heftig. Ein Bauer erzählte mir einmal: "Wenn frühmorgens der erste Hahn anfängt zu krähen, machen alle anderen ihn nach, nur um noch lauter zu sein."
Das Leben der meisten Männer besteht aus nichts anderem.
"Was darf ich bringen", fragte das alte Fräulein des Cafés.
"Kaffee."
Während sie zurück zur Theke schlurfte, kam eine dicke, schlampige Frau herein, 
die ihre Haare vor Monaten strohgelb hatte färben lassen, aber später ein starkes Verlangen nach dem eigenen Braun verspürt hatte, so dass sie jetzt einen zweifarbigen Schopf mit sich herum trug.
"Hast du es gehört?" rief sie.
"Was?"
"Der Sohn des Heringmanns von drüben ist gestern mit dem Roller gegen die Straßenbahn gefahren", fuhr sie fort.
"Mausetot. Die Ärzte im Krankenhaus konnten ihn nicht retten. Man hat es ihm gerade gesagt."
Das alte Fräulein stellte mir den Kaffee hin.
"So was aber auch...", meinte sie.
Ich schaute nach drüben.
Die sich streitenden Blaumänner waren fort. 
Der Heringmann, breit und kräftig, putzte seine Fische mit mechanischem Geschick.
"Siebzehn Jahre war der Junge", sagte die Dicke. "Er lernte Konditor. 
Er hatte noch den dritten Preis gewonnen beim Konditorwettbewerb, mit einem Schokoladenschloss."
"Scheißdinger sind's", sagte die Alte.
Das Gesicht des Heringmanns drückte überhaupt nichts aus. Weder Schmerz, noch Entsetzen, noch Verzweiflung, noch Trauer.
Er bediente jetzt eine junge Frau, die einige Heringe zum Mitnehmen einkaufen musste, die er in Papier verpackte.
"Die Jungen wollen immer angeben auf den Dingern", sagte die Dicke, "aber die Tram weicht nicht aus."
Drüben überreichte der Heringmann der Frau ihr Wechselgeld. Dann fing er wieder an Fische zu putzen. "Die Menschen sind voller Geheimnisse", schrieb Kollege Wittkampf.
Während mir dieser Satz einfiel, erinnerte ich mich auf einmal daran, dass er
beim zweiten Hering und den Zwiebeln, mit einem Lächeln sagte: "Ich war kurz in Gedanken".

Aus "Kroeglopen II, 1962".


Übersetzung Jaap Hoepelman, Juni 2019.

Unter dem Pseudonym "Karel Bralleput" erschienen drei Bände mit Gedichten von seiner Hand. Gegen Ende seines Lebens trug er seine "Kronkels" auch im Fernsehen vor, mit charakteristischem traurigem Augenaufschlag.
Wie andere Autoren auch, die für "Het Parool" tätig waren neigte Carmiggelt zu "Gebrauchspoesie" und wurde von der Welt der Höheren Literatur nach den Fünfzigern nicht immer ganz für voll genommen.
Nichtdestotrotz wurde er vielfach geehrt, auch mit der wichtigsten Auszeichnung, dem "P.C. Hooft Prijs".

Lauter Trauer 

Wie ist mir trübe! Ei! Was kann ich tun?
Ein flacher Geist nimmt jetzt den Flachmann.
Ich aber bin Poet und dichte, wenn ich kann,
und will die Wehmut jetzt in ein Gedichtlein tun.

Das ist der Vorteil meiner Gabe.
Der Bürger weiß nicht, wie sich auszudrücken,
ich aber lasse locker meine Mücken
wie Pferdchen vor dem Sonnenwagen traben.

Ist es erledigt, fühl' ich mich erleichtert.
Ich habe Schönheit aus dem Schmerz gewrungen.
Mein braver Stift hat schön gesungen.
Ich steig ins Bett. Die Sammlung ist bereichert.

Und liest man später das Gedicht
in "Güldnen Ähren" oder in "Der Musen Hortus"
dann sagt der Lehrer bei dem Opus:
"Schaut Kinder, leicht hatte sein 'lyrisch Ich' es nicht".


Louter droefheid

Übersetzung Jaap Hoepelman Mai 2019

Focquenbroch. Ein böser Bub aus dem 17. Jahrhundert, oder Fumus Gloria Mundi

     Willem Godschalck van Fockenbroch  1640-1670 Dichter sind Außenseiter. In diesem Blog haben wir sie kennengelernt: Piet Paaltjens , de ...