Sonntag, 28. Januar 2018

Schrecken der Romantik

 Afbeeldingsresultaat voor piet paaltjens de zelfmoordenaar

Der Selbstmord war ein beliebtes Thema in der Romantik, so auch bei Paaltjens. Sogar der doppelte Selbstmord, besonders gerne in Verbindung mit verschmähter Liebe, wie im Blog vom 27.01.2018.
Auch im nächsten Gesang geht es um den Suizid. Aber wo ist die verschmähte Liebe? Wo ist die Geliebte und wer ist sie? Fragen über Fragen, aber bei genauerem Hinsehen werden alle Fragen beantwortet.

Der Selbstmörder

Es war dunkel im Wald
- Zudem Herbst und sehr kalt -
Und ein Herr irrt' umher ganz alleene.
Ach sein Blick war so so stumpf!
Seine Kleider zerlumpt!
Und er mahlte und knirschte die Zähne.

„Ha!“ so rief er erregt,
„Hab' 'ne Natter gehegt,
„Nein, schlimmer, an der Brust hier ein Untier!“
Und er schlug sich ans Paletot
Und in den Matsch trat er so,
Dass es spritzte ihm an den Hals schier.

Und jetzt suchte sein Blick
Einen Eichenast, dick
Genug um den Körper zu tragen.
Danach, mit Geschick,
Knüpfte er einen Strick
Und kein Schlick spritzte mehr bis zum Kragen.

Es ward still nun im Wald
Und noch zehnmal so kalt,
Denn der Winter kam näher und näher.
Und inzwischen am Ast
Ganz entspannt, ohne Hast,
Hing der Herr, zum Erstaunen der Häher.

Und der Winter ging hin
Denn der Frühling erschien
Daraufhin war der Sommer gekommen.
Zu der Zeit – es war warm –
Ging ein Paar Arm in Arm
Durch den Wald. Und ihm wurde der Atem genommen!

Als sie gingen, ganz zärtlich,
Dachte kosend das Paar sich,
Dass unter dem Baum wär' gut knutschen.
Und genau zu der Zeit
War ein Stiefel bereit
Vom gehangenen Schenkel zu rutschen.

„Ach du gütiger Himmel! Woher
Kommt denn der Stiefel?“ so
Starrte das Pärchen empor.
Und es sah mit Entsetzen
Diesen Herrn; aus zerschlissenen Fetzen
Stach bleich ein Gerippe hervor.

Auf dem grinsenden Kopf
Stand der Hut wie ein Topf,
Denn es fehlte der Rand. Alles Linnen
War zerfressen und grau,
Durch ein Loch schau-
ten Käfer und Würmer und Spinnen.

Seine Uhr stand längst still,
Und ein Glas seiner Brill'
War zerbrochen, das and're beschlagen.
Und am Kamm seines Beckens
befand sich 'ne Schnecke,
Eine schleimige Schnecke, und nagte.

Doch die Lust sich zu lieben
war auf ein Mal vertrieben
Nicht ein Sterbenswort sprachen die beiden.
Und vor Schreck kreidebleich
Sah das Paar geistergleich
Aus wie Laken gebleicht auf der Weide.

Piet Paaltjens 1852

zelfmoordenaar

(Übers. Jaap Hoepelman April 2017)

Samstag, 27. Januar 2018

Tod, Liebe und Humor

Afbeeldingsresultaat voor piet paaltjens

Wenn Praxis und Melancholie auf einander treffen, entsteht sardonischer Humor. Ein anderer Pfarrer-Dichter, Piet Paaltjens (Pseudonym von François HaverSchmidt (1835 – 1894)) versteckte, man kann auch sagen verstärkte seine Melancholie durch die Zusammenführung beider Bereiche, bis die Melancholie die Überhand gewann und er sich umbrachte. Der Tod, der Selbstmord und selbstverständlich die gescheiterte Liebe sind wiederholte Themen schon in seiner Studentenpoesie, versteckt hinter virtuosem Spott. Ob dazu beitrug, dass François einwohnte bei einem Leichbitter sei dahin gestellt:

Immortelle XCVI

    Als ik een bidder zie lopen,
    Dan slaat mij ’t hart zo blij,
    Dan denk ik, hoe hij weldra
    Uit bidden zal gaan voor mij. 


Aus Immortellen, 1850-1852.


Wenn ich den Leichbitter sehe
Dann freut meine Seele sich
Dann denke ich wie er demnächst
auch bitten wird für mich.


Übers. Jaap Hoepelman, Jan. 2018


Der Zusammenstoß zweier Welten kann katastrophal ausgehen und zu den Spaltprodukten gehört bissiger Spott mit den romantischen Klischees. Auf alle Fälle gehört "An Rika" zu den ersten niederländischen Gedichten, in denen der Zug eine Hauptrolle spielt. Für mich ist überraschend, dass schon in einem Gedicht aus 1850 die Rede ist von einem "Schnellzug", wobei die erste Bahnlinie in Holland erst gut zehn Jahre zuvor fertiggestellt worden war. Vergleichbare Verkehrsprojekte brauchen heute länger.

Afbeeldingsresultaat voor trein arend prent
An Rika

Nur einmal hab ich Dich gesehen. Du warst
gesessen in einem Schnellzug, der den Zug
in dem ich saß, passierte in voller Fahrt.
Der Augenblick war wahrlich kurz genug.

Trotzdem, er dauerte so lang, dass ich
den langen Lebensweg mit mattem Lachen
nur verfolgen kann. Ach! Seit ich Dich
sah, kann nichts mir Freude machen.

Warum nur hast Du dieses blonde Haar,
das sonst den Engeln eigen ist? Und dann,
Warum die blauen Augen, wundertief und klar?
Du wusstest wohl, dass ich die nicht ertragen kann!

Und warum bist Du denn an mir vorbeigeflogen,
Und hast nicht, wie der Blitz, die Türe aufgerissen,
Und hast mich nicht an Deine Brust gezogen,
Und meinen Mund bedeckt mit Deinen heißen Küssen?

Du hattest Angst vielleicht um den Betriebsablauf?
Doch, Rika, könnt' ich höh're Seligkeit erreichen
Denn, unter höllischem Gestampfe und Geschnauf,
Mit Dir zerquetscht zwischen den Weichen?

Piet Paaltjens 1852


Rika

Übersetzung Jaap Hoepelman 2017

Donnerstag, 25. Januar 2018

de Génestet und die Zeit um 1860

Ähnliches Foto

Peter de Génestet
(1829-1861)


Endlich, um 1860, kam Bewegung in der Erstarrung, die aufgetreten war nach der napoleonischen Zeit und dem sinnlosen belgischen Feldzug. Die Industrialisierung fand in Belgien statt, während die Niederlande durch die üppigen Erträgen des "cultuurstelsels" (Zwangsanbausystems) und des Opiumhandels in Indonesien in der Entwicklung stecken blieben. Der Streit zwischen den "Gomaristen" und den "Arminianern" war immer noch lebendig. Noch 1851 war das große Auditorium der Amsterdamer Universität durch eine Trennwand geteilt in einen Teil für die streng-calvinistischen oder "gomaristischen" Professoren und einen Teil für die übrigen (Mennoniten, Lutheraner, liberale "Arminianer"), mit, im Übrigen, bedeutend mehr Platz für die gomaristischen Professoren. Die Anfänge des hartnäckigen Streits habe ich in den Posts über Vondel und Revius beschrieben. Sogar die ersten Eisenbahnlinien (die erste 1839, Amsterdam - Haarlem, siehe "An Rika") dienten als Streitmaterial in der Frage der Prädestination (weil im Widerspruch zur Göttlichen Vorsehung, wie die Impfung auch). Aber durch die wissenschaftlichen und technischen Fortschritte (nicht zuletzt eben der Eisenbahn) hatte eine Entwicklung angefangen, die nicht umkehrbar war. 1850 schrieb der junge Student der Theologie, Petrus Augustus de Génestet einen Spottvers auf die Trennwand "Het Schotje" - "Das kleine Schott", "die (lächerliche) kleine Trennwand", mit solchen schönen Versen wie

Den Lutheraan, den Remonstrant,
Bij zulk een feestgenotje,
Die schuift en dringt men op elkaêr,
Als uitschot – achter ’t Schotje!

(Aus dem Amsterdamsche studenten-almanak voor het jaar 1850)

Den Lutheraner, Remonstrant,
Bei solchem Festgenuss
schiebt und drängt man aufeinander
Hinter das Schott als Ausschuss

(Übers. Jaap Hoepelman)

Die Stimmung im Lande hatte sich gewandelt und nach dem Erscheinen des Gedichts ließ das Kuratorium die Trennwand entfernen.

De Génestet war ein liberaler, aufgeklärter Pfarrer, Arminianer eben und seine Epigrammen, die häufig Spott und Zweifel erkennen ließen waren meilenweit entfernt von den Reimen der übrigen Pfarrer-Dichter, wie sie von Cornelis Paradijs gnadenlos parodiert wurden.

Vor beißendem Spott auf das eigene Land schreckte de Génestet nicht zurück (es wird in den Niederlanden noch immer mit Zustimmung gelesen):

P.A. de Génestet
Nov. 1851

Boutade

O Land von Mist und Nebel, von fiesem, kaltem Regen,
    Durchnässtes Handbreit Grund, nasskalter Tau in frösteligen Schwaden,
Von knöcheltiefem Schlamm auf matschbedeckten Wegen,
    Von Gicht und Regenschirmen, Zahnschmerz, Krämpfe in den Waden!

O strunzlangweil'ger Sumpf, Erbhof des Überschuhs,
    Der Böhnhasen, der Frösche, Baggerleute und des fetten Tones,
Der Rinder groß und klein, beide im Überfluss,
    Empfange jetzt das Herbstweh Deines verschnupften Sohnes!


Dein feuchtgetränktes Klima verwandelt mir das Wort im Mund
    In Schlamm; Ich habe weder Lied, noch Hunger, Sünde oder Sitte.
Zieh Überzieher über, du, den Vätern heil'ger Grund,
    Du, abgetrotzt den Wogen, doch nicht auf meine Bitte.

Übersetzung J. Hoepelman November 2017

 1860 veröffentlichte er den Band "Leekedichtjes" (kleine Gedichte für (oder von einem) Laien") und wurde damit zu einem der am Meisten gelesenen Dichtern der Periode. Einige habe ich hier übersetzt und meine sogar Anklänge an Spinosa zu hören:

Zwei Koryphäen

"Verrückt ist einer von uns zwei",
Ein Theologe sprach zum anderen.
"Denn was wir glauben streitet ohne Zweifel miteinander:
Dies ist evident für Sie, das ist's für mich -
Also, eines ist nur möglich: Sie oder ich..."
Oder beide, dachte einer sich und - ging vorbei.

Rauswerfen
(Unseren Ketzerjägern)

"Weit", ruft ihr, "werft sie aus der Kirche raus",
Weitet ihr lieber eure Kirche aus!

Artenvielfalt

Sprecher, Hörer, Denker, Täter
findest du mühelos, je nun,
Selten findest du vereinigt
Sprechen, hören, denken, tun

Dualismus

Meine Wissenschaft und mein Glauben,
Sie leben zusammen im Zwist,
Weil die eine Seite denkt, dass was die andere denkt
Und tut ausgemachter Schwachsinn ist.
Inzwischen, beide hab' ich lieb,
Gleichsam treu und innig
Und doch so meine ich - bin ich

Weder unredlich noch schwachsinnig.

Idealismus

Mache ich die Augen zu,
Dann mag ich's gerne glauben;
Mache ich sie wieder auf
Schwimmt wieder Zweifel obenauf

(nahmenlos)
"Sei dich selbst!" sagte mir einer;
Er konnte nicht, denn er war keiner.


Aus Leekedichtjes De Gids. 1857.


In 1859, nach 7-jähriger Ehe starb de Génestets Ehefrau an Tuberkulose und einen Monat später sein einjähriger Sohn. Génestet schrieb das fast sardonische Epigramm:

Trauerklage

Gott hat dich schwer geprüft - schon klar,
Ein Trostgrund nur: Ich weiß, dass Er es war.

(Übersetzungen Jaap Hoepelman, Januar 20019)

Zwei Jahre später verstarb auch de Génestet an Tuberkulose.



Die Zeiten änderten sich, und immer mehr Zweifeln kamen auf. Zweifel am kolonialen Imperium - 1859, erschien mit der "Max Havelaar" von Multatuli die erste grundlegende,  literarisch revolutionäre Kritik des "cultuurstelsels" - und Zweifel an der Religion. Das "Gebet eines Unwissenden" von Multatuli war eine Sensation in seiner Zeit - ich werde es in einem anderen Post übersetzen.
1863 wurde die Schulreform durch Minister Thorbecke eingeleitet. Die Niederlande waren in die Neuzeit angekommen.







Emanzipation und praktischer Sinn im Mittelalter


 Afbeeldingsresultaat voor heer halewijn


 Ich sagte schon, dass die Dichtung in den Niederlanden (wenn ich ab jetzt "Niederlande" schreibe, meine ich Belgien, insbes. Flandern und die Niederlande im heutigen Sinne, also zusammen die "Niederen Lande", aber wer sagt das noch) häufig eine gewisse Nüchternheit ausstrahlt. Auch schon im Mittelalter, wohin wir jetzt zurückkehren. Für die Ballade "Herr Halewein"  braucht man einen etwas längeren Atem, aber dafür lernt man, dass die Emanzipation schon im dreizehnten Jahrhundert voranschritt. Aus den letzten Zeilen der Ballade geht hervor, dass die Niederländer schon damals einen Sinn für praktische Lösungen hatten.


Herr Halewein


Herr Halewein sang ein Liedekein
Jede, die es hörte wollt' bei ihm sein

Des Königs Tochter hört' das Lied
Sie war so schön und so beliebt

Vor ihrem Vater stellt sie sich
"Zum Halewein, Vater, lässt du mich?"

"Ach nein, du Tochter, nein, du nicht:
Denn gehst du hin, du kehrest nicht"

Vor ihrer Mutter stellt sie sich
"Zum Halewein, Mutter, lässt du mich?"

"Ach nein, du Tochter, nein, du nicht:
Denn gehst du hin, du kehrest nicht"

Vor ihrer Schwester stellt sie sich
"Zum Halewein, Schwester, lässt du mich?"

"Ach nein, du Schwester, nein, du nicht:
Denn gehst du hin, du kehrest nicht"

Vor ihrem Bruder stellt sie sich
"Zum Halewein, Bruder, lässt du mich?"

"Es ist mir gleich wohin du gehst
Wenn du wohl die Ehre hegst
Und die Krone mit Würden trägst!"

In ihrem Zimmer zog sodann,
Sie ihre besten Kleider an

Was trug sie an ihrem Leibe?
Ein Hemdchen feiner als Seide

Was zog sie an? Ein Leibchen steif,
mit goldenen Bändern fest umreift

Was zog sie an? Den roten Rock
An jeder Naht ein güldner Knopf

Was zog sie an? Ein Überkleid:
Perle an Perle aufgereiht.

Was stellte sie auf den blonden Schopf?
Schwer wog die Krone auf ihrem Kopf

Dann ging sie in des Vaters Stall
Und wählte das beste Ross von all

Im Sattel sitzend wie ein Mann,
Ritt sie im Walde mit Sang und Klang.

Und im allertiefsten Tann,
Fand sie Halewein sodann.

Er band sein Pferd an einen Stamm,
Die Maid war voller Angst und Scham.

"Grüß dich, sprach er, du schöne Maid,
Grüß dich, sprach er, Braunauge klar,
Komm, setz dich hin, entbind dein Haar."

So entband sie manches Strähnchen
So kam geflossen manches Tränchen

Sie ritten mit einander fort
Und unterwegs fiel manches Wort.

Sie kamen an einem Galgenfeld;
Manch Weibsbild war dort aufgehängt.

Dann hat Herr Halewein gemeint:
"Weil Ihr die schönste Jungfer seit
Wählt Ihren Tod! noch habt Ihr Zeit"

"Nun, wenn ich denn hier wählen werd',
So wähle ich den Tod durchs Schwert,

"Zuerst zieht aus das Oberkleid
Denn Jungfernblut, das spritzt so weit,
Sie zu bespritzen tät mir leid.“

Das Kleid kaum ausgezogen war,
Lag schon der Kopf vor den Füßen dar;
Die Zunge noch diese Worte sprach:

"Geht weiter drüben ins Korn,
Blast dort auf meinem Horn,
Dass all meine Freunde es hören!"

"Ich werde nicht gehen in dein Korn,
Noch werde ich blasen in dein Horn"

"Geht hinüber zum Galgen
holt mir den Topf mit Salbe
Streicht das auf meinen roten Hals!"

"Unter den Galgen geh' ich nicht,
Den roten Hals bestreich' ich nicht,
Den Rat des Mörders tu' ich nicht."

Sie nahm den Kopf beim langen Haar,
und wusch ihn in dem Brunnen klar.

Im Sattel sitzend wie ein Mann,
Ritt sie im Wald mit Sang und Klang

Und als sie war auf halbem Wege
Kam Haleweins Mutter ihr entgegen:
"Jungfer bist du meinem Sohn begegnet?"

"Ihr Sohn, Herr Halewein, ist beim Jagen,
Und kommt nicht wieder in Ihren Tagen.

Ihr Sohn, Herr Halewein, ist tot
Ich hab' den Kopf auf meinem Schoß
Vom Blut ist meine Schürze Rot."

Sie kam beim Tor des Vaters an,
Und blies das Horn so wie ein Mann

Und als ihr Vater das vernahm,
Freute er sich, dass sie wieder kam,

Dann gab es einen großen Schmaus,
Den Kopf stellte man auf der Tafel aus.

Übers. Jaap Hoepelman Januar 2018

Halewijn     

                              

Focquenbroch. Ein böser Bub aus dem 17. Jahrhundert, oder Fumus Gloria Mundi

     Willem Godschalck van Fockenbroch  1640-1670 Dichter sind Außenseiter. In diesem Blog haben wir sie kennengelernt: Piet Paaltjens , de ...