Mittwoch, 10. November 2021

Jan Hanlo. Knack. Tschilp!

 



Jan Hanlo (1912-1969)


Ein Grundton in vielen niederländischen bzw. belgischen Gedichten ist 
eine trockene, unsentimentale Sprache, wie z.B.  bei Elsschot, oder van Ostaijen.
So ist auch Jan Hanlos Sprache: Trauer ohne Trara.


HUND MIT SPITZNAMEN KNACK

Gott, segne Knack
Er ist jetzt tot
Zunge und Gaumen waren rot
Sie wurden weiß
Dann war er tot
Gott, segne Knack

Er war ein Hund
Mit Namen Knack
In seinem Balg steckte im Grund
Eine Seele von Hund
Ein ferner Ahne
Ein alter Bund
Gott, segne Knack

aus: Verzamelde Gedichten
Amsterdam, Van Oorschot 2006

Übersetzung Jaap Hoepelman Januar 2017

Knak


Am schönsten findet man diese Vorliebe für Klarheit in "Spatz", auch von Hanlo. Wenn das keine konkrete Poesie ist!

Der Spatz

Tschilp tschilp tschilp tschilp tschilp
Tschilp tschilp tschilp tschilp tschilp
Tschilp tschilp tschilp tschilp tschilp tschilp
Tschilp tschilp tschilp

Tschilp
usw.


--------------------------
Jan Hanlo
aus: Gedichten (1949)

Dem Übersetzer fiel die Vermittlung zwischen den Kulturen in diesem Fall etwas leichter.
Wer auf YouTube geht, findet den nachdenklichen Text in Musik gesetzt

De Mus

Freitag, 22. Oktober 2021

Jeremias de Decker und der Hexenglaube

 



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Rembrandt, Porträt
des Jeremias de Decker 1609-1666

1782 wurde Anna Göldi in Glarus in der Schweiz als letzte Hexe in Europa verbrannt. Das war fast 100 Jahre nachdem in Amsterdam 1691 Balthazar Bekkers "Betoverde Wereld" erschienen war (1693 auf Deutsch als "Die Bezauberte Welt" veröffentlicht)

Ähnliches Foto
Balthazar Bekker
1634 - 1698

Bekkers Fundamentalkritik wurde in ganz Europa eifrig  studiert. Sein Buch wurde ihm aber von der reformierten Kirche nicht in Dank abgenommen. Die Kirche setzte ihn als Prediger ab und schloss ihn vom Abendmahl aus. Der Oberbürgermeister von Amsterdam jedoch, der Mathematiker Johannes Hudde, bestimmte, dass Bekkers Gehalt weiterhin bezahlt wurde, was diesem ermöglichte zu überleben und zu arbeiten.
Noch einmal fast hundert Jahre früher, 1603, fand in der Provinz Holland die letzte Hexenverbrennung statt. Das Gedicht von Jeremias de Decker zeigt, dass Kritik am Hexenglauben sich wenig später allgemein verbreitet hatte. 
De Decker war Händler in Gewürzen und auch der Mennonit Abraham Paling, zu dessen Traktat de Deckers Gedicht die Einleitung darstellte, war ein kleiner Kaufmann. 



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Palings "Maske der Zauberei abgerissen"

Kritik am Hexenglauben hatte es immer schon gegeben, er kam aber von gelehrten Theologen und Doktores der Medizin. Das besondere an de Decker und Palingh (es gibt noch andere, vergleichbare Beispiele) war, dass sie eben nicht zur intellektuellen Elite gehörten, wobei de Decker sich zum durchaus geachteten und erfolgreichen Dichter weitergebildet hatte. Beide waren trotzdem eher gewöhnliche Kaufleute in einer Republik von Kaufleuten, die mit der nüchternen Überprüfung von Rechnungen, Menge und Qualität von Gütern und der Zuverlässigkeit von Atlanten beschäftigt waren - nicht mit Hexengeschichten. Dazu kam, dass die Wissenschaft sich inzwischen sprunghaft entwickelt hatte. Es war die Zeit, dass man anfing, genau wahrzunehmen. Nicht länger nahm man fantastische Geschichten begeistert oder verängstigt hin, sondern man traute sich, einfach hinzuschauen, auch wenn es um Dinge ging, die eng mit Aberglauben und Ängsten verbunden waren. Zu Deckers Zeiten entdeckte Leeuwenhoek mit seinem Mikroskop Samenzellen, sowie Bakterien im Mundschleim und vieles andere mehr, ohne Scheu vor den magischen Eigenschaften der entsprechenden Flüssigkeiten. Auch Leeuwenhoek war "nur" ein Kaufmann, und er entschuldigte sich in Briefen an die Royal Society ausführlich dafür, dass er nur Niederländisch konnte und kein Latein. Die Lage erinnert ein wenig an die Gründung der HBS in 1863.


                                                    
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Der Arzt Swammerdam analysierte mit Hilfe des Mikroskops die Anatomie der bis dahin als wenig interessant betrachteten Insekten, entdeckte die roten Blutkörperchen (Blut! Der Ganz Besondere Saft!), Ovarialfollikel, Kontraktion des Froschmuskels usw., usw.,


Bildergebnis für swammerdam



während Huygens als kühler Physiker die Ringe des Saturns, des Planeten der Alchimisten und Magier, beobachtete und den Mond Titan entdeckte, womöglich mit von Spinoza geschliffenen Linsen. Auch entwickelte er die Pendeluhr, unerlässlich für die genaue Wahrnehmung in naturwissenschaftliche Experimente und für genaue Positionsbestimmungen auf See.

                         Ã„hnliches Foto                             Bildergebnis für huygens pendeluhr

Hudde, wie wir sahen, war Mathematiker. Er half seinem ehemaligen Kommilitonen Johan de Witt, dem "Raadspensionaris" (Premier) der Niederlande, mithilfe von Logarithmentafeln neuartige Tabellen für die Lebensversicherung zu entwickeln. Auch bestimmte er Methoden, die optimale Zuladung der VOC-Schiffe zu berechnen. Kurzum: Es waren keine guten Zeiten für den Hexenglauben.
Die Geschichte von Balthazar Bekker und der reformierten Kirche zeigt aber, dass noch ein langer Weg zu gehen war, auch in Holland.




Auf Abraham Palinghs
"Die Maske der Hexerei abgerissen"


Warum verliert die Zauberei
Die verfluchte Raserei
An den Orten ihre Macht,
Wo der Glauben hingebracht,
Und nicht Menschenfirlefanz
Will verdunkeln seinen Glanz,
Zwingt Vernunft und Schrift zu schweigen
Und zu tanzen nach Roms Reigen?
Weil der Deibel flieht die Klarheit
Der neu hergestellten Wahrheit,
Und den blendendhellen Tag
Sein Auge nicht ertragen mag?
Oder ist es, weil am Tiber
Man mit Aberglaubenfieber
Blendende Geschäfte macht und dreist
Träufelt in den schlichten Geist
Einfacher Laien ohne Schrift
Ständig ein das Zaubergift,
Damit die Traum- und Lügenlehre
Man beständig hält in Ehre?
Ja, das ist es, das der Grund,
Dass in Rom zu jeder Stund'
Man ständig mit Papisten eifert,
Ständig gegen Hexen geifert,
Foltert, mordet außer Rand und Band!
Wenn doch nur Richter mit Verstand
Würden ernsthaft überlegen:
Nichts davon kann man belegen!
Und anstatt von Pfaffenthemen
Die Vernuft als Richtschnur nehmen;
Und nicht länger rasend schänden
Ihr Gewissen, ihre Hände;
Befleckten sich in blinder Wut
Mit Strömen von unschuld'gem Blut!
Ihr schrägen Richter am Gericht
Glaubt Ihr denn die Wahngeschicht',
Díe Märe, dass ein armes Weib
Mit weichem Herz und schwachem Leib,
Ängstlich Schrecken meidend, Grauen,
Sich wohl tollkühn würde trauen
Sich mit dem Teufel einzulassen,
Erlauben ihm sie anzufassen
Und sie wäre dann im Stande
(Welch' verleumderische Schande!
Wie sie gottloser nicht sein kann!)
Zu bewirken, was nur Gott kann?
Wem, ja wem um alles in der Welt
Solcher Kinderkram gefällt?
Doch warum weilet Ihr noch hier?
Sucht Bescheid bei Johan Wier,
Oder Scots gelehrte Bände
Nehmt einmal in eure Hände,
Nicht Spinäus, nicht Bodin:
Wendet euch zum Palingh hin,
Der der faulen Zaubergeschicht'
Die Maske reißt vom Angesicht;
Den ganzen Irrsinn zerrt ins Licht;
Der mit dem Aberglauben bricht,
Der im Gekrös' von Opfertieren,
Im Vogelflug und Tirilieren,
Und in den Linien der Hand
Nie ein Quentchen Wahrheit fand;
Der hirnverbrannte Ceromanten,
Hydromanten, Geomanten,
Das ganze Wünschelrutenpack
Steckt in den großen Lügensack.
Der Amuletten, Salben, Zauberbrei
Entlarvt als Mumpitz, Augenwischerei,
Und die Magier der Ahnen,
Dardanos, Zalmolxis, zeigt als Scharlatane.
Du Zauberrichter, wenn Du dieses liest,
Dein Tun Dich trotzdem nicht verdrießt,
Du Dich noch immer nicht bekehrst,
Stur deinen Stiefel weiter fährst,
Willst immer noch den Deibel fangen
Mit Feuer und mit Folterzangen,
Dann sei Dir sicher und gewiss,
Dass der Fürst der Finsternis,
Der Dich spornt mit scharfen Sporen,
Dich fester hat bei Hals und Ohren,
Tiefer hockt in Deinen Eingeweiden,
Als die, die Deinen Feuertod erleiden.

J. de Decker.
1659


Übersetzung Jaap Hoepelman August 2019.


Ceromantie - Wahrsagerei mittels Würfeln.
Hydromantie- Wahrsagerei aus der Bewegung von Wasseroberflächen.
Geomantie - Wahrsagerei aus Sandfiguren.
Zalmolxis wurde von den Thrakiern als Gottheit verehrt. Sein Ehrendienst
ging einher mit einer Prozedur, die darin Bestand, dass ein Bote mit verschiedenen Bitten zum Zalmolxis (der sich im Verborgenen hielt) geschickt wurde. Danach wurde der Bote in dazu aufgestellte Speere geworfen. Starb er, war er ein guter Bote gewesen. Starb er nicht, war er ein schlechter Bote und musste deswegen sterben. Die Ähnlichkeit mit der Wasserprobe für Hexen ist offensichtlich und wird auch de Decker nicht entgangen sein.
Dardanos war der mythische Vater der Trojaner. er soll sich in einen Magier
verwandelt haben. Unter dem Titel "Schwert des Dardanos" war eine Anleitung
bekannt zur Herstellung magischer Amulette.
Spiräus, Bodin: Zwei fanatische Hexenjäger.
Johannes Wier, Reginald Scot kämpften gegen den Hexenglauben bereits im 16. Jahrhundert.

Afgeruckt Momaensicht







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Sonntag, 8. August 2021

Antoine de Kom und Anton de Kom. "Wir Sklaven von Suriname" auf Deutsch erschienen.

Gedichte machst du nicht

sie sind im Raum und liegen angekettet

und wenn es stürmt

dann gehen sie über Bord


(De lieve geur van zijn of haar. Querido. 2008)



Am 23 Januar  2021 schrieb ich einen Post über den Dichter und Psychiater Antoine de Kom, mit einer Übersetzung seines Gedichts "Mein Opa ist so Nackt".  Dazu schrieb ich einige Zeilen zur Erklärung der Hintergründe des Gedichts, ohne die es in Deutschland schwer verständlich sein wird. Antoine de Kom ist ein Enkel von Anton de Kom, des Aufklärers über das Schicksal der Sklaven in Suriname, an der Nordküste Südamerikas. 1934 erschien dessen Manifest "Wij slaven van Suriname" - "Wir Sklaven von Suriname" in Amsterdam. Das Buch wurde zuerst zensiert und dann verboten. Erst 1980 erschien es in den Niederlanden in vollständiger Form, dann aber mir großem Erfolg. In meinem Post berichtete ich, dass es bald eine deutsche Übersetzung geben würde. Inzwischen ist es soweit: "Wir Sklaven von Suriname" ist auf Deutsch erschienen. Es gehört zur großen Aufklärungsliteratur über den Kolonialismus. Eine ausgesuchte Gelegenheit diesen Post mit Antoine de Koms eindrucksvollem Gedicht zu wiederholen.


Antoine de Kom 1956 - 


Antoine de Kom ist Psychiater, Dichter und Schriftsteller, Enkel des surinamisch/niederländischen Nationalisten und Widerstandskämpfers Anton de Kom, des Autors der Anklageschrift "Wij slaven van Suriname" ("Wir Sklaven Surinames", 1934), der "Opa" des hier übersetzten Gedichts.

 

        Wij slaven van Suriname

 

 Leben und Werk von Anton de Kom werden in den Niederlanden erst in letzter Zeit, lange nach der Unabhängigkeit Surinames, gewürdigt. Ein Platz in Amsterdam Süd-Ost wurde nach ihm benannt und ein Denkmal errichtet. Manchmal wird de Koms Rolle für Suriname mit der des Multatuli für niederländisch Indien verglichen. De Kom wurde, als erster Surinamer, aufgenommen im Kanon der niederländischen Geschichte und jetzt, nach 86 Jahren, steht "Wij slaven van Suriname" auf der Liste der Bestseller. 

Das Gedicht "mijn opa is zo bloot" ("mein Opa ist so nackt"), das ich hier übersetzt habe, ist sehr gut, meine ich. Aber es ist nicht leicht zu verstehen. Schon gar nicht für nicht-niederländische Leser, die mit den Hintergründen noch weniger vertraut sind, als die Niederländer es sind, oder sein wollen. Dieser Blog wäre aber nicht der richtige Ort für eine ausführliche Geschichte des niederländischen Kolonialismus in Südamerika und der Karibik, angenommen ich wäre dazu überhaupt imstande. Ich kann nur versuchen, schwer verständliche Verse zu erläutern, denn ich sehe das Gedicht als einen Ansturm ohne Punkt und Komma von Gefühlen, Gedanken, Erinnerungsstücken, Motiven, Mosaikfragmenten, die ein formvollendetes Gedicht unmöglich machen und die trotzdem ein Bild ergeben, das in der zerbröckelten Form mehr aussagt als ein glattgestrichenes Gemälde. Womit wir schon bei der Form des Gedichtes, des Gegenstandes und der Rezeption wären. Denn "zerbröckelt" ist nicht nur das Gedicht, "zerbröckelt" nennt der Dichter auch das Denkmal für den Opa und "zerbröckelt" sind die Meinungen über das Kunstwerk.

Der Dichter T. S. Eliot schrieb: "Genuine poetry can communicate before it is understood". Geben Sie Antoine de Koms Gedicht zunächst die Gelegenheit, sich mitzuteilen. Anschließend werde ich versuchen an Hand von einigen "schwierigen" Passagen etwas über den Hintergrund zu erklären.


Antoine de Kom - mein Opa ist so nackt


mein Opa ist so nackt

so ganz arg nackt auf ganz dem eigenen Platz

er möchte keine Kleider an

doch wie kann ich ihm zeigen

dass man nackend vornehm angezogen

gehen kann im Anzug plus Krawatte Aktenmappe

und noch viel mehr als mehr trotzdem ein wenig nackt?

die Sklaven waren oft schon so so hieß es so sich selbst

dabei mit einem Schlag die vorgemachten Kleider los an dem einen

oftmals schwer versehrenden Moment

unter dem Folterzeug das schneller rennt als du

auch als du ungekürzt vollwertig auf holländisch frei sein wolltest

mit Hut und Binder und mit Ledermappe oh

darin im Krieg kaum mehr

als angedätschte Wörter unbezwingbar

"staatsgefährlich" allerdings

doch selbst bist du noch ungeschunden & noch heil

gerad' noch sicher in der Haager Tram

die dank meines Zutuns hält und hält 

dieweil Seyss-Inquart leichblass starrend

auf deinen Platz sich fragt

ob du ihm nackig und zerbröckelt lieber bist?


[Aus: die lieve geur van zijn of haar (2008)]


Antoine de Kom "mijn Opa is zo bloot"

Vertaling Jaap Hoepelman, Januar 2021


Denkmal für Anton de Kom auf dem Anton de Kom plein, Amsterdam

"mein Opa ist so nackt

so ganz arg nackt auf ganz dem eigenen Platz"                

Hier sieht man das Denkmal für Anton de Kom, der "Opa" des Antoine de Kom. Das Denkmal hat den ganzen Platz, der nach de Kom benannt wurde ganz für sich allein, und es ist nackt. Ganz nackt. Diese Nacktheit hat zu heftigen Kontroversen geführt. Klar ist es eine Statue in der besten Tradition der Darstellung der Freiheitshelden, oder der Freiheit an sich - wie Delacroix's "La Liberté Guidant le Peuple"


oder auf dem Nationaldenkmal der Niederlande, der nackte Widerstandkämpfer:



Solche Helden wollen selbstverständlich nicht angezogen werden und es heißt dementsprechend "er möchte keine Kleider an". Viele halten dagegen, dass Anton de Kom darauf Wert legte, einwandfrei und stilvoll gekleidet zu sein, mitsamt Anzug, Krawatte und Aktenmappe. 

 
Mit Ehefrau Petronella Borsboom
Anton de Kom 1898-1945

Also Freiheit hin, Freiheit her - musste das Denkmal für Anton de Kom unbedingt einen nackten  schwarzen Mann in seiner ganzen Nacktheid darstellen?
Der Dichter scheint eine Art Kompromiss zu suchen, indem er seinen Opa indirekt darauf anspricht:

"doch wie kann ich ihm zeigen

dass man nackend vornehm angezogen

gehen kann im Anzug plus Krawatte, Aktenmappe

und noch viel mehr als mehr trotzdem ein wenig nackt?"

Ein nackter Held kann perfekt angezogen sein und viel mehr als das: Blume im Knopfloch, Hut, Einstecktuch - und trotzdem nackt, wie es sich gehört für einen Freiheitshelden. 

Woher kommt übrigens dieses "plus"? Hätte ein "und" nicht gereicht? In Suriname war de Kom Diplom-Buchhalter geworden. Dieses "plus" und die "Aktenmappe" passen gut nicht nur zur Genauigkeit, die er als Buchhalter brauchte, sondern auch zum Aktenstudium, betrieben für seine Geschichte der Sklaverei. 

Jetzt tritt ein anderes Motiv auf den Plan: Das Vorurteil, oder sagen wir lieber: Die Lüge. Hieß es nicht, dass die Sklaven sich eigentlich so ohne Kleider..., wie soll man's sagen, so...so richtig sich selbst fühlten? Dann wiederum weiter gedacht: Wie die Sklaven sich fühlten, spielte es nicht ohnehin keine Rolle? Wer ausgepeitscht wurde, war die Kleider, die nur "vorgemacht" waren sowieso los mit einem Schlag. Schwerste, versehrende Folter war das Mittel mit dem die vielen Sklaven von den wenigen Sklavenhältern in Schach gehalten wurden.  Die Sklaven versuchten häufig zu flüchten um sich als "Marrons" in den unzugänglichen Urwäldern zusammen zu tun. Aber so schnell die Flüchtlinge auch rannten, oft war die Folter schneller als sie. Die Strafen waren bestialisch. 

"die Sklaven waren oft schon so so hieß es so sich selbst

dabei mit einem Schlag die vorgemachten Kleider los an dem einen

oftmals schwer versehrenden Moment

unter dem Folterzeug das schneller rennt als du"

(Nebenbei zur Verstechnik: In "an dem einen", "oftmals schwer" ersetzen auf einmal Anapeste,           ◡◡—, wie Peitschenhiebe, die bis dahin ziemlich konsequent durchgehaltenen Jamben. Vielleicht kann man als Päon, ◡◡◡—, noch "unter dem Folterzeug" als besonders schweren Hieb dazurechnen.)

In einem einzigen Schlüsselwort werden Hauptmotive des Gedichtes gebündelt: Das Denkmal, die Flucht, die Folter, die Sehnsucht nach Freiheit, der Krieg und die Besatzung: 1933 wurde de Kom, der als Aktivist und Berater für Kontraktarbeiter tätig war, als "staatsgefährlich" in die Niederlande deportiert. Er versuchte wieder Fuß zu fassen, "ungekürzt" und "vollwertig". Als "vollwertiger" Holländer, mit allen Rechten eines Holländers. So weit, so verständlich, aber "ungekürzt"? Das hier benutzte niederländische Wort heißt "onbeknot". Einmal bedeutet das etwa "frei", "uneingeschränkt". In einer anderen Bedeutung werden wir an die Kopfweide, "knotwilg",  erinnert. Der gekürtzte, "geknotte", Weidenbaum, von dem die Äste abgeschlagen worden sind. Geflüchtete, wieder gefangengenommene Sklaven wurden häufig "geknot" - ihnen wurde eine Hand, ein Fuß oder Bein abgeschlagen, oder auch eine Achillessehne durchtrennt (ich will hier nicht sonstige Gräuel auflisten). Auch an de Koms Denkmal scheinen Hände und Füße zu fehlen. Ein Hinweis, der nicht von allen Betroffenen gemocht wurde.

De Kom war noch vor dem Krieg mit Frau und Kindern nach Den Haag umgezogen. Während des Krieges, trotz der Problematik der niederländischen Kolonialgeschichte, engagierte er sich im Widerstand, weil er sah, dass die halbwegs überwundene Vergangenheit ersetzt wurde von einer Zukunft, die ihn weitaus schlimmer "kürzen" würde. Seine Aktenmappe war inzwischen wahrscheinlich "angedätscht", wie auch seine Schriften, weil er in der Mappe vielleicht "Wir Sklaven..." mit sich herumtrug, das sich nicht gut verkaufte, oder in Mitleidenschaft gezogene Aufsätze für die Widerstandspresse, "beurs""angedätscht" eben. Aber er selber blieb unbezwingbar.

"auch als du ungekürzt vollwertig auf holländisch frei sein wolltest

mit Hut und Binder und mit Ledermappe oh

darin im Krieg kaum mehr

als angedätschte Wörter unbezwingbar

"staatsgefährlich" allerdings"

Der Dichter hält die Haager Tram in der sein Opa sitzt so lange an, wie es nur geht. Sein Opa ist der alten Folter entgangen, er ist ungeschunden und heil - gerade noch, denn was für die Sklaven die Flucht war ist jetzt die Deportation geworden und Opa de Kom wird die neue Folter nicht überleben. 1944 wird er von der Gestapo verhaftet und nach KZ Neuengamme-Sandbostel verfrachtet, wo er 1945 stirbt. Der österreichische Reichskommisar für die Niederlande, Seyss-Inquart, ein Teufel von Sklavenhalter, schaut zu und überlegt sich, ob ihm anstatt eines Anzugträgers ein nackter, zerbröckelter Neger nicht doch lieber wäre:

"doch selbst bist du noch ungeschunden & noch heil

gerad' noch sicher in der Haager Tram

dieweil Seys-Inquart leichblass starrend

auf deinen Platz sich fragt

ob du ihm nackig und zerbröckelt lieber bist?"

Schon alte Abolitionisten, wie  John Gabriel StedmanMarten Douwes Teenstra,  Julien Wolbers oder auch Nicolaas Beets hatten die Zustände in Suriname beschrieben und scharf verurteilt. Ab und zu wurde tatsächlich ein Täter (oder eine Täterin, Frauen ließen sich nicht unbezeugt) verurteilt, aber das Interesse der Obrigkeit war lau, die Strafen läppisch. Es dauerte noch bis 1863 - in der Realität bis 1873; die Sklavenhälter mussten noch "entschädigt" werden während die Sklaven weiterhin schufteten -, dass die Sklaverei in Suriname abgeschafft wurde. Aber das Gefühl der Minderwertigkeit hatte sich verfestigt, auch bei den ehemaligen Sklaven, und stellte ein riesiges Hindernis bei der Entstehung einer eigenen Nation dar. Das zu überwinden ist das eigentliche Thema von de Koms "Wir Sklaven von Suriname".


2014 bekam Antoine de Kom den VSB-Poesie-Preis für seinen Gedichtband Ritmisch zonder string.  

Anfang 2021 wird die deutsche Übersetzung von "Wij slaven van Suriname" erscheinen.*



*Bemerkung 8.7.2021: Das ist inzwischen geschehen. Siehe die Einleitung zu diesem Post.

Mittwoch, 28. Juli 2021

Jan Kal und der Mont Ventoux

                               Jan Kal 1946 - 

Nach dem Krieg  machte es für viele Dichter  (wie LodeizenKouwenaarLucebertAndreus) keinen Sinn, die althergebrachten Formen weiter zu betreiben. Andere (wie M. Vasalis und Gerrit Achterberg) blieben bei der Tradition und wurden auch weiterhin geschätzt. Trotzdem machte die Beherrschung des Handwerks in dieser Zeit oft einen etwas verschämten Eindruck und versteckte sich gerne unter der Maske der Spaßpoesie. In den Siebzigern aber gewannen Dichter, die Wert legten auf die Beherrschung des Metiers wieder an Selbstvertrauen, nicht zuletzt durch den Einfluss von Gerrit Komrij. Das Sonett (war es nicht immer ein Gipfel der Dichtkunst gewesen?) fand wieder Beachtung. Auch das letzte Gedicht des Hans Andreus, geschrieben auf dem Sterbebett, ist ein Sonett. Elemente der Spaßpoesie hatten aber ihren Einzug gehalten, darunter welche des Sports, der in akademischen Seminaren mit Verachtung bestraft wird. Sport findet man z.B. bei Scheepmaker und bei Jan Kal, dessen erstes Bündel Gedichte sogar eine Sportart im Titel trägt. Kal hat als Student der Medizin angefangen und sich dann aus romantischen Gründen aufs Dichten verlegt, romantisch wie Piet Paaltjens, an wie er mich irgendwie erinnert. Kal schreibt sogar fast ausschließlich Sonette. Schon sein erstes Gedicht, "Mont Ventoux", hierunter mein Versuch einer Übersetzung, ist ein Sonett:


                                                                             Der Mont Ventoux
        

                                                                         

                                                                                 

Jan Kal


Mont Ventoux

Dichten ist radeln auf dem Mont Ventoux,

hier steckte Tommy Simpson damals auf.

Todmüde in dem tragischen Verlauf

quälte sich der Weltmeister dem Endstrich zu.


An diesem Col sind viele abgehängt,

erste Kategorie, seitdem tabu.

Es riecht nach Tannenduft, Sunsilk Shampoo,

das braucht man, wenn man an den Abstieg denkt.


Es macht unendlich müde, alles was man tut;

der Mont Ventoux ist wohl die schlimmste Schinderei,

also, man überlege wohl, eh' man beginnt.


Doch schaffe ich, sogar in dieser Glut,

den Gipfel dieser kahlen Wüstenei:

Eitelkeit und Haschen nach dem Wind.


Übersetzung Jaap Hoepelman, Juli 2021.


Aus: Jan Kal, Fietsen op de Mont Ventoux: (1974) Uitgeverij de Arbeiderspers



                        Denkmal für Tommy Simpson


                                                                                      Mont Ventoux: Höhenprofil


Dichtung, Sport, Leichtigkeit und Ernst lassen sich also sehr wohl mit einander in Verbindung bringen. Nicht umsonst hat Jan Kal als Thema für sein erstes Sonett den Aufstieg auf den Mont Ventoux gewählt: Petrarca, der Vater der Kunst des Sonetts hat 1336 die  Erstbesteigung des Mont Ventoux beschrieben und passend dazu aus den Bekenntnissen des Augustinus zitiert:

"Da gehen die Menschen, die Höhen der Berge zu bewundern und die Fluten des Meeres, die Strömungen der Flüsse, des Ozeans Umkreis und der Gestirne Bahnen, und verlieren dabei sich selber."

Das Sonett schließt, wie es sich gehört für einen niederländischen Dichter, mit einem Zitat aus Prediger 1,12 in dem man die Themen des Gedichtes gebündelt wiederfindet:

"Solch unselige Mühe hat Gott den Menschenkindern gegeben, dass sie sich damit quälen sollen.

Ich sah an alles Tun, das unter der Sonne geschieht, und siehe, es war alles eitel und Haschen nach Wind." 


Ich nehme an, dass es Jan Kal gefallen würde zu vernehmen, dass seine Gedanken auch in höchsten philosophischen Kreisen Zustimmung finden:

Sloterdijk: So um die zweieinhalb Stunden. Man muss wissen, dass der Mont Ventoux eine sehr bizarre abweisende Aura hat. Wenn man die Vegetationsgrenze erreicht, ist man plötzlich in einer lunaren Landschaft. Die Rennradfahrer spüren davon natürlich nicht viel, weil sie vor Anstrengung blind sind. Wir Amateure waren am letzten Aufstieg so phänomenal langsam, dass man ständig diese todeszonenhafte Stimmung des Gipfelbereichs gespürt hat. Wenn man dann auch noch an dem Denkmal für den armen Simpson vorbeifährt, der da 1967 kurz vor dem Gipfel verendete, ist man schon ziemlich demoralisiert und denkt für ein paar Sekunden über die Sinnhaftigkeit des Unternehmens nach.

Aus "Hundsgewöhnliche Proletarier", Interview mit Peter Sloterdijk, Der Spiegel, 07,07,2008,



Freitag, 25. Juni 2021

van Maerlant, der erste Großdichter

 

Jacob van Maerlant, um 1230 - 1290


Im "Binnenhof", im Regierungsviertel in Den Haag, befindet sich der altehrwürdige "Ridderzaal". 

                                       

Der Saal ist immer noch in Gebrauch. Jedes Jahr, am 3en Dienstag in September, wird hier vom Staatsoberhaupt die Thronrede verlesen.


Graf Willem II hat 1248 den Bau des Rittersaals angefangen und sein Sohn, Floris V, hat das Werk rund 1280 vollendet. Glück hat der Bau seinen Erbauern nicht gebracht. 


Willem II, 1227 - 1256, war Graf von Holland und Zeeland. 1248 wurde er in Aachen vom Erzbischof zum Kurfürst des Heiligen Römischen Reiches gekrönt, aber erst nach einer 5-monatigen Belagerung der Stadt. Willem hatte den Sieg der Hilfe der Friesen und derer Wasserbaukunst zu verdanken. Die Friesen nämlich erhofften sich die Wiederherstellung der Privilegien, die ihnen schon Karl der Große verliehen hatte. Nachdem die Friesen ihre Schuldigkeit getan hatten, hatte Willem den Rücken frei für die Fortsetzung der holländisch-friesischen Kriege zur Erweiterung seines Machtbereichs. 1254 griff er die West-Friesen an und plünderte sie aus. Eine Übersichtskarte zeigt, wo die West-Friesen siedelten und wo Willem versuchte sein Gebiet zu erweitern.



Die Detailkarte zeigt die damalige Lage der Westfriesen. Sie bewohnten die Halbinsel nördlich von Utrecht, westlich von Friesland. Vom Kernfriesland waren sie schon früher getrennt worden durch die Entstehung der Zuiderzee. Es wäre also ein Versuch wert, die Landzunge zum Brückenkopf einer Eroberung zu machen. Nur war die Geographie äußerst problematisch, wie die Detailkarte zeigt. Eine Sumpflandschaft, in der man kaum ausmachen konnte, wo das Land anfing und das Wasser aufhörte. Kein Wunder, das die Friesen nicht nur Meister des Wasserbaus, sondern auch des Sumpfkriegs waren. 


Die Sumpflandschaft Waterlands und 
die Lage der späteren Zwingburgen
des Floris V.

Der Sommer 1255 war regenreich gewesen, und Willems Armee kam ausgehend vom Städtchen Alkmaar gegen die Friesen nicht voran. In Februar 1256 aber setzte der Frost ein. Der Augenblick schien günstig über die zugefrorenen Seen in Richtung Hoogwoud zu ziehen. Willem zog mit einer kleinen Gruppe Kundschafter über das zugefrorene Berkmeer (NL "meer" =  D "See") in Richtung Hoogwoud. Es war sehr tapfer. Es war auch sehr töricht. Das Eis auf dem Berkmeer konnte Pferd mitsamt Ritter und Rüstung nicht tragen. 

Willem II bricht ein

Hätte Willem nur van Maerlants Übersetzung des "Secretum Secretorum", "Heimelijkheid der Heimelijkheden", "Geheimnis der Geheimnisse" gelesen, in dem nicht nur Tapferkeit, sondern auch Verstand als wahre Tugend eines Fürsten gepriesen werden. Aber van Maerlants Opus entstand erst 10 Jahre später. 


               Willem II im Eis von den Friesen erschlagen

Die friesischen Partisanen kamen aus einem Hinterhalt im Schilf hervor und erschlugen den Kurfürst.
Die Friesen waren ein wehrhafter Stamm, sehr auf ihre Unabhängigkeit bedacht. 754 wurde der Apostel Bonifatius beim Ort Dokkum von ihnen erschlagen, als er gegen ihre Verehrung der Wotaneiche predigte. 
Bonifatius verteidigt sich mit seiner Bibel 
gegen die Schwerthiebe der Friesen

Für  den frommen van Maerlant, fest mit dem holländischen Grafenhaus verbunden, sprach womöglich noch mehr gegen die Friesen, dass sie Willems Leichnam nicht herausgaben, wie es sich für eine ehrenhafte Beerdigung geziemt. Willems Leiche wurde unter einer Feuerstelle in einem Bauernhof verscharrt.
Van Maerlant hatte also keine hohe Meinung vom garstigen Friesenstamm:


Wat sal seghel ende was
 
Ende brieve, die ghewaghen das
 
Van dat dese heren gheven?
 
Hets al niet, hets een ghedwas;
 
Alse lief hadt mi een wilt Sas
 
Oft een Vriese bescreven.
 
Trouwe es brooscher dan een glas;
 
Die hier te voren so sterc was,
 
Soe es tebroken bleven.
 
Ic waens noit landshere ghenas
 
Die scalke te sinen rade las,
 
Hine moeste int ende sneven
 
Ende sulc sijn slands verdreven.’

Was soll der Siegel, und das Wachs,
Was das Siegelstück? Alles nur ein Klacks
In feierlichem Herrensprech!
Nichts ist's, nur Gewäsch,
Leeres Geschwätz, von Sächs'scher
Wilden, ohne Wert, nur Friesenblech.
Treue ist zerbrechlicher als Glas.
Einst fest, zerschellt auf immer das, was
Heil war. Gebrochen bleibt gebrochen eben.
Kein Landsherr hat sich je davon erholt,
Der sich bei Schwindlern Rat geholt.
Manche mussten zahlen mit dem Leben, 
Eignes Land hat mancher aufgegeben.

(Übersetzung Jaap Hoepelman Juni 2021 nach Text und Prosaübersetzung der "Wapene Martijn" in der DBNL)

Als Willem schmählich bei Hoogwoud zu Grunde ging, war sein kleiner Sohn, Floris V, erst 2 Jahre alt. An dieser Stelle können wir den Faden unserer Erzählung mit van Maerlants Patronin, Aleide d'Avesnes, 1228-1294, aufnehmen, auf die Gefahr hin, selber in das Eis der adligen Querelen einzubrechen. 

           Aleide d'Avesnes,
  Gräfin von Holland vor den Resten
 ihrer Burg "te Riviere" in Schiedam

Aleide d'Avesnes war die Schwester des Kurfürsten, und sich ihrer gehobenen Stellung sehr bewusst. Aleides Bruder, Floris IV, wurde zum Stellvertreter Willems und zum Vogt dessen Sohnes. 1258 aber starb Floris IV in einem Turnier in Antwerpen. Aleide wurde Vogtin des kleinen Floris und Truchsessin von Holland und Zeeland.  Van Oostrom* vermutet, wie Aleide und Van Maerlant zusammen gekommen sein könnten: Es gab intensive Auseinandersetzungen zwischen Flandern und Holland über den Besitz der zeeländischen (seeländischen; NL "zee" = D "Meer") Inseln westlich der Schelde. Diese beherrschten den Handelsweg zwischen England und Brügge. Es ging also um viel Macht und viel Geld. Brügge war die wichtigste Schaltstelle in den Beziehungen zwischen der Hanse, England, Frankreich und dem Mittelmeer. Für die flämische Tuchproduktion war Brügge der Stapelplatz für englische Wolle.  

Der Belfried in Brügge

Der Vorhafen Brügges im 13. Jahrhundert war Damme. Dort genoss Van Maerlant in der Kapittelschule Sankt-Donaas eine gründliche Ausbildung und wurde Kleriker niederen Weihegrads. Die Kapittelschule war ein intellektuelles Zentrum und Van Maerlant wird sich in den artes liberales geübt, hervorragend Latein und Französisch gesprochen und geschrieben haben, wie seine Muttersprache, Flämisch. 

Die Lage von Brugge und Damme


Die Kapittelschule verfügte über eine reichhaltige Lehr-Bibliothek, in der Van Maerlant sich gründlich eingelesen hat. Hier hat er  die Fähigkeiten erworben, über die ein Schreiber an einem gräflichen Hof verfügen musste. 
Während der französischen Revolution konnte die Sankt Donaas Kathedrale dem Fortschritt des Weltgeistes leider nicht standhalten und wurde vollständig geschleift.

             Die Sankt Donaas -Kathedrale


                                                                                                            Van Eyck: Madonna mit Kanonikus van der Paele. 
                                                                                       Im blauen Ornat der heilige Bischof Donatius.


Denkmal für Van Maerlant 
auf dem Marktplatz in Damme

Zum Verhältnis der Flamen und Holländer trug 1246 der französische König Ludwig IV ("der heilige") dadurch bei, dass er den Dampierres das reiche Flandern zuteilte und den Avesnes das armselige Holland. Die Avesnes fühlten sich auf das Höchste benachteiligt. Als pikante Komplikation verlief der Graben quer durch eine einzige Familie. Margaretha, Gräfin von Konstantinopel (nur damit die Verhältnisse klar sind), war die Mutter von 3 Avesnes und mindestens 2 Dampierres, aus 2 Ehen. Sie entledigte sich ihres ersten Ehemannes, Bouchard d'Avesnes, durch Enthauptung, was von den Avesnes nicht positiv aufgenommen wurde. 
Für Flandern war der Besitz der seeländischen Inseln westlich der Schelde entscheidend, weil diese den Zugang nach Brügge beherrschten. Margaretha war durch ein Urteil des deutschen Kurfürstes, Willem II von Avesnes eben, ihrer Besitztümer Verlustig gegangen. Selbstverständlich verleibte Willem sich dabei den Lehen Seeland ein. Margarethe versammelte daraufhin ein großes flämisch-französisches Heer, das am 4 Juli 1253 zur Insel Walcheren übersetzte. Jedoch, die Vorbereitungen waren nicht verborgen geblieben und die Seeländer und Holländer hatten Zeit, sich auf den Angriff vorzubereiten. Die Flamen wurden schwer geschlagen. Es ist vorstellbar, dass Van Maerlant  als Scriptor mit eingeschifft war und in der Schlacht gefangen genommen wurde.
Van Maerlants Begabung wird Aleide nicht entgangen sein, und so wurde er auf der Insel Voorne, wo die verbundene seeländische Familie van Cats eine "Motte" besaß, festgesetzt und später 


Voorne-Putten um 1300. Mit guten Augen kann man den Ort Maerlant erkennen, 
nach dem unser Dichter sich benannte.


als Küster und Lehrer im Örtchen Maerlant eingestellt, damit beauftragt Floris V auf dessen fürstliche Pflichten vorzubereiten. Aleide erwartete von Floris nicht weniger, als dass er den Leichnam seines Vaters, ihres Bruders, heimholen und bestatten und an den Friesen Rache nehmen würde. Zu van Maerlants Aufgaben gehörte die Aufbereitung von Literatur, die zu einem fürstlichen Curriculum gehörte. Van Maerlants Produktivität dabei ist erstaunlich. Seine Arbeiten aus der Zeit auf Voorne umfassen unter anderem einen Alexanderroman, die Gralsgeschichte, die Geschichte Trojas, eine Erzählung über den jungen Helden Torec, Sachliteratur über Träume und Steine und das "Geheimnis der Geheimnisse", einen Fürstenspiegel nach dem im Mittelalter sehr beliebten Secretum Secretorum, das als angebliches Werk des Aristoteles höchste Autorität genoss.  Um 1270 kehrte van Maerlant zurück nach Damme wo er in "der naturen bloeme" ("Blume der Natur", oder "Blütenlese der Natur"das damalige Naturwissen zusammenfasste. Außerdem schuf er mit einer gereimten Bibel ("rijmbijbel") die erste vollständige Bibel in niederländischer Sprache, dazu eine Vita des Franciscus von Assisi, und eine Weltgeschichte, die "Spiegel Historiael". Eine Reihe strofischer Werke stellt eine eher persönliche Seite seines Schaffens dar. Darunter die "Martijn"- Gedichte, seine heute noch am meisten geschätzten Werke.
Eine veritable Schatztruhe aus 300.000 Zeilen Paarreime in der Volkssprache, aus lateinischen Quellen; mehr hatte kein Zeitgenosse aufzuweisen. Zu seiner Zeit und noch Jahrhunderte später war van Maerlant ein gefeierter Dichter.

                                                                                                                                        Floris V                                                                               
Floris V führte den Krieg gegen die friesischen Bauern mit wechselnden Geschicken weiter. Entscheidend für die Niederlage der Friesen waren aber erst die Sturmfluten in 1287 und 1288, die Teilen West-Frieslands verwüsteten. 
Floris war ein großer Burgenbauer. 1285 entsteht das Muiderslot an der Grenze zwischen Utrecht und Holland. 

Das Muiderschloss

Das Schloss stand an der richtigen Stelle. Floris hatte gerade der aufstrebenden Niederlassung Amsterdam die Stadtrechte verliehen und das Schloss füllte durch Zolleinnahmen die Kriegskasse des jungen Grafen. Es wurde ihm aber auch zum Verhängnis:  1296 verschworen sich einige Adelige gegen ihn, vermutlich dazu angestiftet durch den englischen König Edward I, weil Floris als Anwärter auf den schottischen Thron galt. Floris wurde im Muiderschloss festgesetzt, um nach England entführt zu werden. Eine andere Version der Geschichte lautet, dass die Entführung eingefädelt wurde durch Gerard van Velzen, der sich wegen der Vergewaltigung seiner Ehefrau an Floris rächen wollte . Eine dritte Version besagt, dass Floris den Bürgern und Bauern zu viele Zugeständnisse gemacht hatte, was dem Adel überhaupt nicht passte. Floris' Spitzname war tatsächlich "Der Keerlen God" und als die "Kerle" das Muiderschloss belagerten, flüchteten die Entführer zu Pferde, Floris gefesselt in ihrer Mitte. Unter den Befreiern ironischerweise auch die Friesen, die sich vielleicht die Wiederherstellung ihrer Rechte erhofften. Van Velzen ergriff seine Chance und erstach Floris. 


Gerard aber wurde gefasst, verurteilt, gefoltert und in einem Nagelfass durch die Stadt Leiden gerollt. Andere Quellen sagen, dass er einfach nur gevierteilt wurde. 
Nebenbei: Das Muiderschloss spielte Jahrhunderte später eine wichtige Rolle in der niederländischen Literatur. Ab 1621 traf sich eine Gesellschaft mit den prominentesten Gelehrten, Musikern und Dichtern des niederländischen Goldenen Zeitalters um den Dichter Pieter Corneliszoon Hooft regelmäßig im Muiderschloss um sich über Literatur und Musik zu unterhalten. Joost van den Vondel, auch er ein Mitglied des "Muiderkring" (Muiderkreises), schrieb das Eröffnungsdrama für das in Stein neu erbaute Amsterdamer Stadttheater, den "Gijsbrecht van Aemstel". Das Bühnenstück beschreibt wie van Aemstel, zu Unrecht der Komplizenschaft am Mord auf Floris verdächtigt, aus seinem Amsterdamer Stadtschloss vertrieben wird.
Zurück zu van Maerlant: Er war ungeheuer einflussreich. Van Oostrom** schreibt, dass man kaum einen Autor zwischen 1250 und 1450 erwähnen kann, der nicht in irgendeiner Art und Weise von ihm beeinflusst wurde und nennt ihn den ersten niederländischen Schriftsteller von dem man sagen kann, dass er im eigentlichen Sinne Schule gemacht hat. Es entstanden zahllose Abschriften seiner Arbeiten. Einige erhaltene Exemplare zeigen prachtvolle Illustrationen, z.B. die "Rijmbijbel" (Reimbibel), die "Naturen Bloeme" (Blume der Natur) und die "Spieghel Historiael".

Der naturen bloeme
Utrechter Handschrift, etwa 1340

Solche Prachtbände kosteten  ein Vermögen. Van Maerlant war selbstverständlich kein Dichter des allerpersönlichsten Ausdrucks allerpersönlichster Gefühle, sondern einer, der genau umschriebene  Stoffe für eine genau umschriebene Leserschaft in der Volkssprache aufbereitete. Er ging dabei aber nicht sklavisch vor, sondern passte seine Dichtung kreativ den Erwartungen und Bedürfnisse seines Publikums und seines Landstrichs an. Am freiesten dichtet Van Maerlant in den Dialogen, welche unter dem Namen "Wapene Martijn" (dem Anfang des ersten Dialogs) bekannt geworden sind. Diese Gedichte haben die Form dreizehnzeiliger Strofen, mit dem Reimschema  aabaabaabaabb. Einige davon habe ich in diesem Post versucht zu übersetzen.
Auch in den weniger freien Werken gibt es genug zu bewundern und zu schmunzeln, insbesondere in der Kombination mit den Illustrationen. Van Maerlant schrieb seine "naturen Bloeme" nach dem Theologen Thomas von Cantimprés De natura rerum. und so dienen die Naturbeschreibungen immer auch ein erzieherisches Ziel: Die Natur ist voll der erstaunlichsten Beweise von Gottes Allmacht und Beispiele von Tugend und Untugend.  Uns, im Jahre 2021, umgeben von treuen Hunden, edlen Pferden und freundlichen Wölfen, kommt das bekannt vor. 
Als ganz außergewöhnliches Tier wird uns der Biber vorgestellt:

Van Maerlants Biber bei einer seiner typischen Tätigkeiten

Castor, dit woert in Latijn
 
Mach in Dietsche een bever sijn.
 
Castorium heten haere hoeden,
   Die sijn vele te nuttene noden,
 
Ende dat es daer mense omme jaghet.
 
Ende als den bever dan wanhaghet,
 
So bijt hise selve of te waren:
 
Dan laten die jaghers varen.
   Eist datmenne anderwarf jaghet,
 
Hi toghet dat hi niet en draghet,
 
Ende vallet voer den jagher neder.
 
Die Pollaene segghen dan weder,
 
Haer bevre hebben die hoeden binnen,
  Recht als wi nieren legghen kinnen.
 
Hoe moghen si danne hem selven vueren?

Als Castor ist er auf Latein bekannt,
Biber wird er hier genannt.
Castorium, die Hoden auf Latein,
Sind wirksam gegen Zipperlein.
Deswegen wird ihm nachgestellt.
Fühlt er sich zu sehr umstellt,
Dann, wahrlich, beißt er diese ab.
Dann lassen Jäger von ihm ab.
Jagt man ihn dann später wieder,
Legt der Biber sich danieder
Hier, so zeigt er, gibt es nichts zu holen.
Wiederum heißt's bei den Polen,
Die Hoden liegen drinnen, wie die Nieren.
Aber können solche Biber sich kastrieren?

Übersetzung Jaap Hoepelman Juni 2020 nach dem Text in der DBNL (mit der dort vorgeschlagenen Korrektur)

Van Maerlants Tiergeschichten sind spannender und lehrreicher als TERRA-X Dokufilme, in denen viele Tiere schmerzhaft vermisst werden, wie 

der Elefant als wütende Gießkanne,

 
die Auster des Misvergnügens,       oder der Schildquerulant.

Sowieso sind van Maerlants Tiere auffällig schlecht gelaunt. Aber sind nicht in jedem Stück die Bösen interessanter als die Braven?

Auch unter den Menschen gibt es genug zu bestaunen. Zwei Beispiele nur: Die Einfüßler, die ihren Riesenfuß als Sonnenschirm benutzen, oder die Kopflosen, mit den Augen im Rumpf.



Ich beende diesen Post mit einem Gedicht aus dem "Wapene Martijn" über die Frauen, über die van Maerlant in Anbetracht des Missgeschicks mit dem Apfel überraschend milde urteilt:

Martijn:

Jakob, alle Welt macht groß Gewese,
Der Frauen Schuld sei es gewesen,
Dass wir in Sünde müssen Sterben:
Durch Evas erster Sündenfall
Müssen im Erdental wir alle
Als Vertriebene verderben.
Es sagen alle, keiner ausgenommen:
Eva hat Adams Herz genommen,
Adam ward von ihr vergeben.
Sag mir, liegt's nicht auf der Hand
Dass man hier die Schuldige fand?
Ihretwegen zittern wir und beben
Wenn zu Ende geht das Leben.

Jacop:

Martin, jeder ist im Kopf nicht gut,
Der andern vorwirft, was er selber tut,
Egal ob es ihm Vorteil bringt.
Seh' ich das Meer, oder den Fluss, 
Steig' ich hinein mit einem Fuß,
Wie wenn ein Blöder in die Fluten springt -
Wem werf' ich vor den Übermut,
Wenn mich ergreift die wilde Flut,
Und dass mit mir ein Schwein versinkt?
Wenn einer weiß von Bös' und Gut,
Hartnäckig stets das Böse tut,
Dann gibt es viele, denen's stinkt,
Die schert es nicht, ob der ertrinkt.


(Übersetzungen Jaap Hoepelman Juni 2021, Nach Biesheuvel, Originaltext mit Prosaversion )

Zum Schluss noch ein Gedicht, das bis heute seine Gültigkeit behalten hat:

Jacop:

Um diese Worte geht's allein:
Es sind die Worte "mein" und "dein"
Könnt' man endlich sie vertreiben
Allüberall würd' Frieden sein
Und Freiheit wäre allgemein.
Mann noch Frau leibeigen bleiben,
Gemeinfrei wären Korn und Wein.
Über's Meer oder den Rhein
Würd' man keinen mehr entleiben.
Doch das Gift der Habgier steckt in
Allen Dingen leider, Martin.
So wie's ist muss alles bleiben,
Dies Gesetz nur kann es schreiben. 

(Übersetzungen Jaap Hoepelman Juni 2021, Nach Biesheuvel, Originaltext mit Prosaversion )

Jan van Boendale, ein Dichter der nächsten Generation, nennt van Maerlant "Vater der niederländischen Dichter insgesamt"**, *** . Dieser Vater ist heute gründlich in Vergessenheit geraten. Darum hier für ihn, obwohl erst 200 Jahre nach Maerlants Zeit entstanden, die Missa de Sancto Donatiano des Jacob Obrecht. Vom Brügger Komponisten Obrecht für den Brügger Namenspatron Sankt Donatian, den Patron auch der Kapittelschule Sankt Donaas, für den Brügger Dichter van Maerlant: Vertreter der erstaunlichen Kultur der südlichen Niederlande im Mittelalter.


(Meine Weisheit über van Maerlant,  seine Zeit und Dichtung entstammt zum größten Teil Frits van Oostroms Magnum Opus "Maerlants Wereld" [Prometheus, Amsterdam,1996])

(Für den Link zur "der naturen bloeme" - "die Wunder der Natur": siehe hier)

(*van Oostrom s. 122-124, **van Oostrom s. 386, 387, *** Boendale schreibt "Diets" für "niederländisch")

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