Die Schlussworte des Tractatus theologico-politicus sollten eigentlich in goldenen Lettern über dem Eingang des Plenarsaals der Vereinten Nationen stehen. Vielleicht ist das sogar der Fall, ich habe es nicht nachgeprüft. Aber ihre Entstehung lässt sich zurückverfolgen zur bescheidenen Kate, die Spinoza vom Leidener Arzt Herman Homan zur Verfügung gestellt worden war:
Für den Staat (ist) nichts heilsamer , als wenn die Frömmigkeit und Religion nur in die Ausübung der Liebe und Billigkeit gesetzt wird und das Recht der Staatsgewalt in geistlichen wie in weltlichen Dingen nur für die Handlungen gilt, und im Uebrigen Jedem gestattet ist, zu denken, was er will, und zu sagen, was er denkt.
Spinoza war nicht so isoliert, wie es machmal dargestellt wird. Er hatte einen großen Kreis von Freunden, Bewunderern und Unterstützern, darunter der Chirurg Homan, in dessen Rijnsburger Häuschen Spinoza sich mit Linsenschleifen seinen Unterhalt verdiente.
In Amsterdam bestand der Freundeskreis aus mindestens 10 Mitglieder, einige davon selber Autoren bemerkenswerter Veröffentlichungen. Darüber hinaus stand Spinoza in Verbindung mit der wissenschaftlichen, philosophischen und sogar politischen Prominenz seiner Tage, wie Leibniz, Oldenburg, Boyle, auch Christiaan Huygens, der seine Linsen schätzte, ansonsten ziemlich hochnäsig auftrat. Sogar eine Professur in Heidelberg wurde Spinoza angeboten, der aber ablehnte, weil er um seine Gedankenfreiheit fürchtete und auch weil die holländische Liberalität ihn in der Pfalz wohl kaum erwartete. Der Beruf des Linsenschleifers, im Übrigen, war kein gering zu schätzendes Handwerk, sondern gehörte zur fortschrittlichsten Wissenschafts-Technologie der damaligen Zeit. Leider war der Umgang mit Glasstaub Spinozas Tüberkuloseleiden äußerst abträglich. 1677 verstarb der "radikale Aufklärer".
Verwey war einer der Achtziger, aber er entfernte sich schon bald vom Ausdruck individueller Emotionen um sich eher "typisch" niederländischen Themen zu widmen. Spinoza gehörte natürlich dazu. Verwey war ein überzeugter Anhänger, Bewunderer und Kenner Spinozas. Er war ein eher zerebraler Mensch, wurde Professor für Niederlandistik und Herausgeber von Standardwerke über niederländische Dichter, u.a. Vondel. Seine Dichtkunst hat in den Niederlanden nie zu einem wirklichen Erfolg geführt, aber er war eine Autorität auf seinem Gebiet, eine Instanz. Seine Freundschaft mit Stefan George, der ihn häufig im Badeort Noordwijk besuchte, hat seinen Namen in Deutschland etwas bekannter gemacht. Die Auseinandersetzungen der beiden über die niederländische bzw. die deutsche "Wesensart", oder auch die "germanische" versus die "romanische" kann man heute nur noch mit Verwunderung lesen.
Verweys Spinoza-Gedicht aber kann ohne weiteres als gelungen betrachten werden.
Bei Spinoza in Rijnsburg
Der stille graue Tag sah von dem Dünenweg
Herunter wo Spinoza saß, in jener kleinen Kate
Und mit dem Fuß den Tritt der Schleifbank trat,
Und schliff vom spröden Glas die glatte Fläche schräg.
Sie liegt jetzt zwischen Kohl- und Blumrabatten,
Städtische Leute gehen diesen stillen Pfad;
Und auf das, was in der Kate man genachahmt hat
Glotzt die Frisur und die gelehrte Platte.
War Einsamkeit der Landschaft schönste Ruhe?
Schritt dieses Volk durch schönere Einsamkeit
des Philosophen Geistes, um Seelenruh' zu finden?
Von jener grünen Düne wehte salzig Seeluft
Und als der Zug nach draußen ward geleitet,
Hört' ich um die Kate nur den Meereswind.
Albert Verwey
Bij Spinoza te Rijnsburg
Aus: Dagen en daden (1901)
Übersetzung Jaap Hoepelman März 2019