Sonntag, 26. November 2023

Albert Verwey, Spinoza.




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Albert Verwey                                                                                                            
1865 -1937

    
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                                                                                                                          Baruch de Spinoza 
                                                                                                            1632 - 1677
Die Schlussworte des Tractatus theologico-politicus sollten eigentlich in goldenen Lettern über dem Eingang des Plenarsaals der Vereinten Nationen stehen. Vielleicht ist das sogar der Fall, ich habe es nicht nachgeprüft. Aber ihre Entstehung lässt sich zurückverfolgen zur bescheidenen Kate, die Spinoza vom Leidener Arzt Herman Homan zur Verfügung gestellt worden war:

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Für den Staat (ist) nichts heilsamer , als wenn die Frömmigkeit und Religion nur in die Ausübung der Liebe und Billigkeit gesetzt wird und das Recht der Staatsgewalt in geistlichen wie in weltlichen Dingen nur für die Handlungen gilt, und im Uebrigen Jedem gestattet ist, zu denken, was er will, und zu sagen, was er denkt.
Wenn wir schon dabei sind, könnten wir die Stirnseite des Plenarsaals mit einer anderen Einsicht aus dem Tractatus verschönern:

Es ist nicht der Zweck des Staates, die Menschen aus vernünftigen Wesen zu wilden Thieren oder Automaten zu machen; sondern ihre Seele und ihr Körper soll in Sicherheit seine Verrichtungen vollziehen, sie sollen frei ihre Vernunft gebrauchen und weder mit Hass, Zorn oder List einander bekämpfen, noch in Unbilligkeit gegen einander verfahren. Der Zweck des Staates ist also die Freiheit.

Spinoza hatte sich 1661 in das kleine Haus in Rijnsburg zurückgezogen, weil der Verbleib in Amsterdam zu unsicher geworden war.  In 1656 war er wegen schädlichen Ansichten aus der portugiesisch-jüdischen Gemeinde in Amsterdam  ausgeschlossen und mit einem Bann belegt worden und die Gemeinde Amsterdam hatte ihn wegen "Gottlosigkeit"  aus der Stadt ausgewiesen. Wir können davon ausgehen, dass seine "schädlichen Ansichten" und sein "Atheismus" (der keiner war) sich schon mit 23 bemerkbar gemacht hatten. In einer Verteidigungsschrift hatte Spinoza versucht, die Anschuldigungen zu widerlegen. Daraus entstanden, teilweise in Rijnsburg, u.a. die Tractatus und die Ethik. Der Tractatus erschien 1670 in Amsterdam, aber mit einem falschen Erscheinungsort, falschen Herausgeber und anonym; es war schlicht zu gefährlich eine "gottleugnende" Verhandlung auf "normalem" Wege zu veröffentlichen. Wie gefährlich ging, wenig später, aus dem Schicksal der liberalen Brüder de Witt hervor. Cornelis de Witt war Abgeordneter der Generalstaaten für die Armee. Unter Johan de Witt, dem mächtigen Ratspensionär (Premier), genossen unkonventionelle Außenseiter, wie Spinoza einer war, höchsten Schutz. Als aber die Geschicke der Niederlande sich ungünstig entwickelten wurden die de Witts, die Republikaner waren, und somit politische Gegner der Oranier, verantwortlich gehalten und vom oranien-gesinnten Mob vor ihrem Haager Gefängnis gelyncht und geschunden. Die Anekdote geht, dass Spinoza in seiner Entrüstung zum Ort des Verbrechens eilen wollte, mit einem selbsthergestellten Schild "Ultimi Barbarorum" - "die schlimmsten Barbaren". Nur sein Vermieter konnte ihn in letzter Sekunde davon abhalten, sich ins Unglück zu stürzen. Ich finde die Vorstellung rührend: Der Philosoph mit dem Lebensmotto "Caute" - "Behutsam", Verkünder des inneren Friedens und der abgeklärten Redlichkeit, der Erkenner von Gott ALS Natur, der sich mit einem selbstgemachten Schild, in gelehrtem Latein ins Getümmel stürzt. Man mag nicht daran denken, was die aufgebrachte Menge mit dem angeblichen Gottesleugner gemacht hätte...

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Die geschundenen Leichname der Brüder de Witt
am Richtplatz in den Haag

Spinoza war nicht so isoliert, wie es machmal dargestellt wird. Er hatte einen großen Kreis von Freunden, Bewunderern und Unterstützern, darunter der Chirurg Homan, in dessen Rijnsburger Häuschen Spinoza sich mit Linsenschleifen seinen Unterhalt verdiente.

Die Schleifbank in der Rijnburger Kate

In Amsterdam bestand der Freundeskreis aus mindestens 10 Mitglieder, einige davon selber Autoren bemerkenswerter Veröffentlichungen. Darüber hinaus stand Spinoza in Verbindung mit der wissenschaftlichen, philosophischen und sogar politischen Prominenz seiner Tage, wie Leibniz, Oldenburg, Boyle, auch Christiaan Huygens, der seine Linsen schätzte, ansonsten ziemlich hochnäsig auftrat. Sogar eine Professur in Heidelberg wurde Spinoza angeboten, der aber ablehnte, weil er um seine Gedankenfreiheit fürchtete und auch weil die holländische Liberalität ihn in der Pfalz wohl kaum erwartete. Der Beruf des Linsenschleifers, im Übrigen, war kein gering zu schätzendes Handwerk, sondern gehörte zur fortschrittlichsten Wissenschafts-Technologie der damaligen Zeit. Leider war der Umgang mit Glasstaub Spinozas Tüberkuloseleiden äußerst abträglich. 1677 verstarb der "radikale Aufklärer".

Verwey war einer der Achtziger, aber er entfernte sich schon bald vom Ausdruck individueller Emotionen um sich eher "typisch" niederländischen Themen zu widmen. Spinoza gehörte natürlich dazu. Verwey war ein überzeugter Anhänger, Bewunderer und Kenner Spinozas. Er war ein eher zerebraler Mensch, wurde Professor für Niederlandistik und Herausgeber von Standardwerke über niederländische Dichter, u.a. Vondel. Seine Dichtkunst hat in den Niederlanden nie zu einem wirklichen Erfolg geführt, aber er war eine Autorität auf seinem Gebiet, eine Instanz. Seine Freundschaft mit Stefan George, der ihn häufig im Badeort Noordwijk besuchte, hat seinen Namen in Deutschland etwas bekannter gemacht. Die Auseinandersetzungen der beiden über die niederländische bzw. die deutsche "Wesensart", oder auch die "germanische" versus die "romanische" kann man heute nur noch mit Verwunderung lesen.
Verweys Spinoza-Gedicht aber kann ohne weiteres als gelungen betrachten werden.
                                                                                                                                                    

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Bei Spinoza in Rijnsburg


Der stille graue Tag sah von dem Dünenweg
Herunter wo Spinoza saß, in jener kleinen Kate
Und mit dem Fuß den Tritt der Schleifbank trat,
Und schliff vom spröden Glas die glatte Fläche schräg.

Sie liegt jetzt zwischen Kohl- und Blumrabatten,
Städtische Leute gehen diesen stillen Pfad;
Und auf das, was in der Kate man genachahmt hat
Glotzt die Frisur und die gelehrte Platte.

War Einsamkeit der Landschaft schönste Ruhe?
Schritt dieses Volk durch schönere Einsamkeit
des Philosophen Geistes, um Seelenruh' zu finden?

Von jener grünen Düne wehte salzig Seeluft
Und als der Zug nach draußen ward geleitet,
Hört' ich um die Kate nur den Meereswind.

Albert Verwey
Bij Spinoza te Rijnsburg

Aus: Dagen en daden (1901)

Übersetzung Jaap Hoepelman März 2019

Samstag, 4. November 2023

Alfred Kossmann (1922-1998)
 

Toten sind freundlich. Sie sind immer zuhause,

gastfreundlich immer, egal wann wir kommen

(Mein Großvater öffnet gern sein altes Haus,

begrüßt mich an der Tür, reicht Tee oder Bier

und spricht mit mir, dem Jungen, über Goethe)

und sie sind tot, sie nehmen keinen Abschied mehr,

sie erinnern uns nie an das Sterben, das gräuliche.

Mit den Lebenden ist es schwieriger zu leben,

immer ziehen sie; mit Tränen in den Augen

winkend am Gleis stehen sie und wir,

webend am Gewebe der Missgunst,

das unsere Freundschaft träge überfrieren wird,

anspielend mit unsren leblosen Worten

aufs größte mach's gut, das abscheuliche.


Doden zijn vriendelijk. 

Übersetzung Jaap Hoepelman Nov. 2023


Focquenbroch. Ein böser Bub aus dem 17. Jahrhundert, oder Fumus Gloria Mundi

     Willem Godschalck van Fockenbroch  1640-1670 Dichter sind Außenseiter. In diesem Blog haben wir sie kennengelernt: Piet Paaltjens , de ...