Mittwoch, 5. Dezember 2018

Revius. Es sind die Juden nicht.

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Jacobus Revius

1586 - 1658

Anfang des 17. Jahrhunderts zerfiel die niederländische reformierte Kirche in zwei sich heftig bekämpfenden Strömungen. Der Streit drehte sich in der Hauptsache um die Lehre der "Praedestination", die Frage, ob des Menschen Schicksal, insbesondere seine Erlösung, von vornherein unabänderlich festgelegt sei, oder aber ob der Mensch darauf, durch eigenes Zutun, Einfluss habe. Die einen, überzeugt vom unabänderlichen Schicksal nannten sich "Kontra-Remonstranten", oder "Gomaristen" (nach einem Leidener Prediger) , die anderen "Remonstranten" , oder "Arminianer" (nach einem anderen Leidener Prediger).
Die Gomaristen waren ausgesprochen streng in der Lehre, die Arminianer etwas laxer. Wie alles in dieser Zeit war es eine unentwirrbare Mischung aus Überzeugungen und Machtsfragen, in der Prinz Maurits sich auf die Seite der Gomaristen stellte und Ratspensionär van Oldenbarnevelt auf die Seite der Arminianer (Siehe "Ein Gehstock überdauert die Zeit"). Es kostete Oldenbarnevelt den Kopf.  
Jacobus Revius (Latinisiert für Jakob Reefsen) war einer der prominentesten Gomaristen. Er war ein streitbarer, aber auch sehr gelehrter, belesener Mann, zuhause in vielen Sprachen und Literaturen, Philosoph , Bibelübersetzer und Dichter. Selbst beurteilte er seine theologische und wissenschaftliche Arbeiten als sehr viel wichtiger als seine Gedichte, die 1630 in "Over-Ysselsche sangen en dichten" gebündelt wurden. Diese sind es aber, die bis heute überlebt haben, insbesondere das folgende, das zum Standardrepertoire aller christlichen Glaubensrichtungen in den Niederlanden gehört. Der Historiker Jaques Presser schrieb 1941, dass die calvinistischen Niederlande kein nobleres und schöneres Gedicht auf zu weisen hätten als dieses.

Er trug unsere Schmerzen

Es sind die Juden nicht, Herr Jesu, die Dich kreuzigten,
noch die verräterisch Dich zogen vor's Gericht,
noch die Dich schmachvoll spuckten ins Gesicht,
noch die Dich knebelten und stießen voller Beulen,

es sind die Krieger nicht, die in der rohen Faust
erhoben Hammer oder Rohrstock gegen Dich
oder auf Golgotha das Fluchholz haben aufgericht,
oder um den Rock gewürfelt und getauscht:

ich bin's, o Herr, ich bin's, der dies Dir hat getan,
ich bin der schwere Balken, der Dir ward aufgeladen,
ich bin die zähe Schnur, die Dich beim Gehen band
die Nagel und der Speer, die Geißel, die Dich schlug,

die blutbefleckte Krone, die auf dem Haupt Du trugst:
all dies geschah um meiner Sünden willen, meiner Schand'.



Aus Over-Ysselsche sangen en dichten 1630



Übersetzung Jaap Hoepelman, Dezember 2018.

Mittwoch, 3. Oktober 2018

Vroman. Echt passiert.

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 Leo Vroman 1915-2014

2011
Heute abend, echt passiert.

Heute abend, echt passiert.

Alles normal, auf der Couch, ein trautes Paar,
saßen wir, zappten Programme aus und ein
bis mir auf einmal klar war: Nein
das ist alles gar nicht wahr.

Ich bin auf einem fremden Stern,
die Erde ist unendlich fern.
Die Freunde haben mich verlassen,
mich hat man zurückgelassen.

Vor mir stand ein schwarzer Rahmen
in dem sich alle fremd benahmen
und außerordentlich befremdlich:
keiner redete verständlich.

Plötzlich war es nicht mehr wahr,
Wir saßen wieder, trautes Paar.

Doch das Gefühl bleibt unbestimmt,
die nagende Unsicherheit:
Wird es nicht allmählich Zeit,
dass der Abholdienst mich nimmt?

Echt gebeurd

Fort Worth, 25 juli 2011.Aus: DW&B nr 3, 2012.

Übersetzung Jaap Hoepelman, April 2018

Vroman. Der große Garten.


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 Leo Vroman

 2003
Der große Garten

Die Verfassung der Erde
kannst du am Rande
von Wegen und Pfaden
aus Blumen und Pflanzen
jetzt schon erraten:

Das Gras hier, weswegen?
Weil einer soeben
irgendwann, meinetwegen
vor hunderten Jahren
vorbei ist gefahren,
einen Eimer mit Asche
hat ausgewaschen.

Warum dort die Pflanzen?
Weil dort wohl ein Tantchen
auf einer Decke saß
und Beeren aß.

Hier wurde gehustet,
hier gerostet, dort geblutet,
bevor nicht die Erde
den Frieden erklärte.

Wo einst die Mauern
der Städte standen
verstummten die Münder
verstummten Kulturen
und findet man
lediglich Blumenspuren

Spielende Schauer
aus Wind und aus Regen
werden die Wege
wie Wasser verwischen,
doch ist es geschehen
wird das Blumenkleid,
aus der Ferne gesehen, 
die Zeichen zeigen vielleicht
als ob wir noch lebten
auf diesem Planeten

Leo Vroman
Aus „Tweede Verschiet“, 2003

De grote tuin

Übersetzung J. Hoepelman
Januar 2017

Vroman. An einen Freund.

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An einen Freund

Ach, lasst uns keine Zeit verderben,
wer von uns zwei zuerst wird sterben
wir sollten auch das Reden lassen
darüber, wie wir heuchelten und hassten.
Hören wir die Lerche singend schweben,
wird uns ihr Gott all das vergeben
und solange wir die Kirschenblüte sehen
sind, was wir taten, kleinere Vergehen.
Lasst uns das uns getane Leid vergessen
all das kann sowieso nur Gott vermessen
und lasst uns keine Zeit verderben,
wer von uns zwei zuerst wird sterben.


Leo Vroman
Aus: 126 gedichten (1965)

Aan een vriend

Übers. Jaap Hoepelman Febr. 2017

Vroman. Psalm zur Schmelze.

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 Leo Vroman
2003


EIN PSALM ZUR SCHMELZE

Jetzt wo ich weiss, dass
turmhohe Zapfen, die das Menschengewusel
in den ganzen Büros
der Chefs und Chefinnen
Liebe und Unfähigkeit
innen drin weder fühlen noch hören,
dass die zusammenschmelzen können
und in wenigen Sekunden
Gespräche verwandeln
in Schmorfleisch
und die hasserfüllte Hitze
die ganzen guten Leute
umsetzen kann in eine
dicke weiße Wolke
die etwas später, salzig weich
friedlich herunter rieselt wie ein grauer Pelz,
so dass die jetzt nutzlosen
Tische uns Stühle, Tassen und Teller
zu mopsigen Geschöpfe mutieren,
und außerhalb der Stadt, weit draußen,
im Gras, das verlassene Spielzeug,
der Staub spricht weiter
über die
über denen er soeben war.
Ich weiß es jetzt System,
Nichts weiß ich mehr.



Aus: "Tweede Verschiet",
Herausgeber Querido, 2003

Een psalm voor het smelten

Übersetzung Jaap Hoepelman Dez. 2016

Dienstag, 2. Oktober 2018

Vroman. Deus sive Natura.

Afbeeldingsresultaat voor swammerdam spinoza

Wir leben in nicht besonders guten Zeiten und der Hinweis, das es früher nicht besser war, ist auch nicht gerade "zielführend" wie man heute so sagt, egal was mit "Ziel" gemeint ist. Die Religion jedenfalls ist nicht unbedingt ein friedenstiftender Faktor. Für Vroman sind nicht die offiziellen Bekenntnisse, sondern ist alles in der Natur, ja die Natur selbst, heilig, sogar die eigenen Eingeweiden.
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 Gott ist eben überall, oder anders gesagt, alles ist göttlich, "Deus sive Natura" um mit Spinoza, fast naturwissenschaftlich, zu sprechen.

 Image from Swammerdam's Book of nature

Das heißt nicht, dass das Denken über Gott oder Natur dadurch einfacher wird. Vroman vergleicht seine Gedanken mit Nachtfaltern, die hoffnungslos auf eine Scheibe prallen. Sein Gedicht "Nacht" ist in der Hinsicht vergleichbar mit Nijhoffs "Lied der törichten Bienen". Das große Licht ist tödlich für kleine Insekten wie wir.
Vromans "Ich Jude?" und "Nacht" passen somit vom Thema her gut zusammen in einem Post.

Leo Vroman
1995

Ich Jude?

Einen Jesusmäßigen Schlamassel
hast Du uns eingebrockt, o Herr.
Jude, Christ, Muslim: frommes Gescherr
hat uns, Sanftgläubigen, die Religion vermasselt.

So züchtet jede Gruppe einen Berg Verletzten,
verbunkert hinter stahlbesetzten
Rändern, wo Blindheit nicht als Mangel gilt
und Wahnsinn aus gerissenen Zähnen quillt.

Während ich glaube, dass alles heilig ist.
Sogar die eignen Eingeweiden,
wo keine Zelle und kein Atemzug je sicher ist,
kann ich von meinem Fleisch nicht scheiden.

„Psalmen“ 1995,
übersetz. J. Hoepelman Nov. 2016

Ik Jood?

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Leo Vroman
1964

Nacht

Tiefer vornüber kann ich mich nicht beugen
über den Rand der Welt, unterbelichtet.
Mit dem Gesicht auf blinde Finsternis gerichtet
kann ich mich von Gottes Glanz nicht überzeugen.

Die fernste Näherung betracht' ich in den vielen
Gedanken, die ich sende in die Leere;
wenige nur, die wiederkehren,
doch ich verliere mich verbissen spielend

in meinem Schmerz, der sich zur Lust betäubt,
wenn ihren Wiederkehr, grausam versehrt,
ich als ein sich'res Zeichen Seines Daseins werte:
Dort gibt es eine Wand auf die, wer gläubig
fliegt zu Seinem Licht, geblendet prallt.

Vielleicht gibt in der stillsten Nacht
Er auf das kranke Flattern Acht,
wenn mein Denken raschelnd auf Sein Fenster knallt.

Aus: 262 gedichten
Querido 1964

Übersetzung Jaap Hoepelman 2017

Nacht

Vroman. Für wen dies liest.

 Afbeeldingsresultaat voor ik heb je zo lief vroman

 "Für wen dies liest" ist eines der früheren Gedichte Vromans. In 1949 waren Vroman und Tineke Sanders gerade 2 Jahre verheiratet, endlich zusammen,  nachdem sie, verlobt in 1938, seit 1940 durch Vromans Internierung in japanischer Gefangenschaft getrennt gewesen waren. Die Intensität und der feierliche Ton des Gedichts scheinen dem zu entsprechen. Eine Liebeserklärung an Tineke. Der Titel jedoch beinhaltet mehr. "Für wen dies liest"... das sind Sie, lieber Leser, der Sie die gedruckten Lettern gerade vor Augen haben. Der Dichter versucht intensivst mit Ihnen in Verbindung zu treten, und bittet um Vergebung für seine Verletzlichkeit. Und doch, und zugleicherzeit...jetzt muss ich um Verzeihung bitten dafür, dass ich Sie langweilen muss mit einer Besonderheit der niederländischen Grammatik. Das Gedicht spricht zu einem Leser, der durchgehend mit "Gij", gebeugte Form "U" (großgeschrieben) angesprochen wird. "Gij/U" sind sehr formell, sehr feierlich. Gott spricht man mit "Gij" an. Die intime Form ist "jij/je". Und genau diesen Wechsel vollzieht Vroman in der letzten Zeile. Ich zeige hier die 5 letzten Zeilen auf Niederländisch, um die Wirkung dar zu stellen:

....
....
tenzij Gij door de liefde zijt gedreven. ("Gij", "zijt" - beides gehoben)

Lees dit dan als een lang verwachte brief,
en wees gerust, en vrees niet de gedachte
dat U door deze woorden werd gekust:("U" - wiederum gehoben)
Ik heb je zo lief. ("je" - intim)


Jetzt haben wir aber ein Problem im Deutschen: Den Gegensatz "Gij" - "jij" gibt es nicht, man muss sich behelfen mit "Du" - "du". Dadurch kommt die auf Einmal eintretende Intimität - ist das Gedicht nicht doch eine Liebeserklärung an Tineke, oder an beide, Leser und Tineke? - leider gesprochen nicht voll zur Geltung. Ich musste mich mit "Du/Dich" - "dich" behelfen. Ich hoffe, Sie fühlen sich trotzdem angesprochen...

Tineke Vroman-Sanders (1921-2015) war antropologin und Schriftstellerin eigenen Ranges. Sie und Leo Vroman blieben ihr ganzes Leben zusammen. Davon berührende Zeugnisse in einigen späteren Posts. Als Dichterin veröffentlichte sie anfänglich unter  ihrem Mädchennamen, Georgine Sanders.



Leo Vroman
1949


Für wen dies liest

Zum Lesen geb' ich Dir gedruckte Zeichen,
doch mit dem warmen Mund kann ich nicht sprechen,
die heiße Hand durch das Papier nicht stechen;
was kann ich tun? Ich kann Dich nicht erreichen

O, wenn ich trösten könnte, könnt ich weinen.
Komm, leg' Deine Hand auf das Papier; auf meine Haut;
erweiche dieses fremde durch den Druck Versteinern
des geschriebenen Wortes, oder sag es laut.

Manche Verse hab' ich schon geschrieben,
manch einem bin ich fremd geblieben
und den Gekränkten weiß ich nichts zu geben:
Liebe ist das einzige.

Liebe ist es meistens auch gewesen,
die mir den Bleistift in der Hand bewegte
bis ich mich schlafend über die Worte legte,
die Du jetzt wach wirst lesen.

Ich möchte unter dieser Seite sein
quer durch die Lettern des Gedichts
schauen in Dein lesendes Gesicht
und schmachten nach dem Schmelzen Deiner Pein.


Weck bitte diese Worte nicht vergebens,
Sie können sich ihr Nacktsein nicht vergeben;
und dass Dein Blick ihr Innerstes nicht streift
wenn Dich nicht Liebe dazu treibt.


Lies dies dann, wie den lang ersehnten Schrieb,
und sei beruhigt, und fürchte den Gedanken nicht,
dass Du von diesen Worten wardst geküsst:
Ich habe dich so lieb.

Überstzung J. Hoepelman
2017

Voor wie dit leest

Montag, 1. Oktober 2018

Vroman. Hirn und Zeit.

Der kühle Blick eines Biologen...


Leo Vroman
2003

Die Kugel

Die Kugel zieht ein heißes Loch
und fräst sich in das Großhirn ein
wo die Quell' hätt' sollen sein
der späteren Persönlichkeit
Hinten erlebt das Kleinhirn noch
die gegenwärtige Zeit


Aus: 'het liegend konijn', 2003.


De Kogel

Übersetzung J. Hoepelman 2017

Vroman. Die zwei Gedanken.

 Afbeeldingsresultaat voor vroman de twee gedachten


 Quantenphysik? Intuitionismus? Hauptsache - eine Aspirine liegt griffbereit.

Leo Vroman
1962

Die zwei Gedanken

Ein Denker dacht' mit leiser Kabale
zwei Gedanken auf einem Male.

Da die zwei heraus nicht kamen
fehlte ihm für sie der Name.

Nennen wir sie Plos und Faus
(denn so sahen sie auch aus)...

Faus war 60 angström groß
doch dünner als der krumme Plos

Es fiel nicht auf wie sie bei Tage
auf- und durcheinander lagen

In der Ruhe dann der Nacht,
lagen sie lang ausgedacht,

kriegten sich dann in die Haare
es war schon ziemlich festgefahren

der Denker dadurch Mümmeln machte
und mit Schmerz im Kopf erwachte

Somit stand neben seinem Bette:
a) Glas Wasser b) Tablette

er goss und krümelte sie fein
durch das Haupt in sich hinein

und bald ging so für Plos und Faus,
und für andere, die Lampe aus.

Später tat sie ihnen Leid
diese Widersprüchlichkeit.

„Warum denkt“ sagten sie zweisam
„er uns immer nur gemeinsam?“

Hätt' abwechselnd er gedacht
wär' an jeder zweiten Nacht
gern' ich wieder neu erdacht.“

Dem Denker war nun alles klar,
er dacht' abwechselnd an das Paar.

Jetzt schläft er immer zeitig ein
läßt sogar das Frühstück sein.

Moral

an manchem Tag in jedem Jahr
ist wohl fast alles einmal wahr.


Aus: Fabels. Met prenten van Peter Vos.
Amsterdam, Querido, 1962.
Übersetzung J. Hoepelman

De twee gedachten

Vroman. Erfass' ich was.

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Das Gefühl, etwas neu entdeckt zu haben, oder einen neuen Zusammenhang begriffen oder gesehen zu haben, oder einen bekannten Zusammenhang neu zu erfahren, dass es einem ganz anderscht wird...kennen Sie das? Vroman, der Wissenschaftler, hat es dargestellt. Wir und die Welt um uns herum, die Tiere zumal, hängen enger zusammen als auf den ersten Blick sichtbar is. Der Gedichtband in dem "Erfass' ich was" aufgenommen ist, heißt nicht umsonst "Dierbare ondeelbaarheid" - "Teure Unteilbarkeit" (mit Wortspiel auf "Dier" -  "Tier").

Vroman, Spinoza 1
Vroman, Spinoza 2


Leo Vroman


Erfass' ich was

Wenn ich mein Können überdehne
kann ich den Boden mit den Sohlen fassen
schießt mir ein Kribbeln durch die Venen
und ich begreife: Jetzt erfass' ich was.

Manchmal können mir die Tränen kommen,
nicht durch die Dinge, die jetzt neu verstanden sind -
das, was mir nicht gehört hab' ich genommen
und freue mich darüber wie ein Kind

Und wenn ich mit Natur Natur betrüge,
umarme ich Natur und wenn ich sie belüge,
umarme ich nur Dinge, die ich die liebsten find'.

Wie sie, zum Beispiel, Vögeln Flügel gab,
wie diese Ärmchen sich bewegen,
und dass auch ich ja solche Ärmchen hab'.


Uit: Dierbare ondeelbaarheid. Gedichten.
Querido, Amsterdam, 1989

Begrijp ik wat

Übersetzung J. Hoepelman
2017

Vroman. Biologie für die Jugend.


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Vroman betrachtete sich als Wissenschaftler, als Biologe. Folgerichtig beschäftigt er sich in vielen seiner Gedichte mit dem Thema. Im "Biologie für die Jugend" versucht er den lieben Kleinen die Biologie etwas näher zu bringen. Wie "Ein Wackler" hat auch dieses Gedicht etwas Beunruhigendes. Es hat sogar das Potenzial, nicht nur Jugendliche, sondern auch Erwachsene beim Nachdenken über den merkwürdigen Kloß zwischen unseren Schultern um den Schlaf zu bringen. Ohne Hermetik, natürlich, passend für einen Biologen.

Leo Vroman

Biologie für die Jugend
Kopfhaar ist ein Knollengewächs.
Knöllchen hast du in der Haut,
woraus ein zähes Herbstgras wächst,
regelmäßig angebaut.
Und jede Knolle ist ein Klümpchen
aus oh wohl tausend Zellen.
Studiertest du Histologie,
du müsstest die allesamt zählen.
Ich aber sage dir nur dies:
Dass unter Haar und Schädelbein
Milliarden Zellen stecken
und jede Zelle kann alleine
Tausende Gedanken wecken.
(Dies Freund, soll dir zum Zeichen sein:
Das Ding ist häufig nicht ganz dicht,
das hört man dann, wenn einer spricht.)
Ein Haar aus deinem Wunderhaupt
gerissen, wäre es direkt dem Hirn
entsprossen,
hätte ein kleines Klümpchen dir,
mit Myriaden von Gedanken,
jäh entrissen;
und könnt' dein weiches Hirn ich streicheln
wie deinen kleinen Scheitel jetzt,
dann würde das, was du empfändest
zehn Billionen Bildern gleichen.

Nimmt diese Aussicht dir die Ruh,
lasse dein Schädelkästchen zu.

uit: Gedichten 1946-1984

Übersetzung J. Hoepelman, 2017

Biologie

Vroman. Ein Wackler.


 Afbeeldingsresultaat voor vroman leo


Die ganze Breite von Vromans Dichtkunst möchte ich gerne am nächsten Gedicht "Ein Wackler" ("Een klein draadje") demonstrieren. Es ist lustig, es ist virtuos, jeder kann es lesen und verstehen und es ist unheimlich. Kann ich bezeugen.Vroman war Biologe...das sieht man auch.

Leo Vroman (1915-2014)
 1960

Ein Wackler

Mit diesem Kopf passiert noch was.
Die Fresse klebt mir viel zu feist
am fetten Schädelkasten fest.
Bestimmt passiert noch was.

Wenn je die Schmerzkiste zerbricht,
wie einen abgeschmeckten Brei
legt sie meinen Hirn dann frei.
Am Boden liegt Gedankenschmalz vergossen,
doch der Tod hat meinen Mund verschlossen.
durch den Tod mit Sicherheit
sterb ich in Scheinheiligkeit.

Vom Tode werd ich gerne übermannt,
ich hab mehr Angst um den Verstand.

Ich fürchte die Armee von Spinnen, 
die Nervenzellen tief dort drinnen.

Das fürchterliche Netz der Netze
erfüllt mich schlichtweg mit Entsetzen.

Was z.B. kann passieren,
wenn zwei Drähte sich berühren,
kontaktieren sich unsichtbar
in der Tiefe unterm Haupthaar,  
während ich nach au 
ßen hin im Laden
friedlich Fleisch und Grünzeug kau
fe...

Keine Blitze, keine Funken.
Jemand fragt: Ist der betrunken?

Plötzlich vor der Tür zuhau
-se 
mit Sechstau-
send Suppendos
-en 

Und sagt meine liebe Frau
Hase, was ist  mit dir los?
Dann sage ich wir wollen essen
o nein, ich hab die Supp vergessen

Wird es beim Dichten mir passieren, 
wie prrp ich Leute informieren,
dass es keine Genialitä
t, sondern prrp wackel oder verdre
ht? Ein Wackler, der den Strom aufsürpt 
von mürf Gedanken gürpt

und Kürpschluss führt zum Brürf -

Brarp! Hürf! Hürf!

Aus: De Ontvachting, 1960

draadje

Übersetzung J. Hoepelman 2016

Dienstag, 25. September 2018

M. Vasalis. Zeit.


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M. Vasalis 

(1909 - 1998)

Vasalis, Pseudonym von Margaretha Droogleever Fortuyn-Leenmans. Von Beruf Kinderpsychiaterin hat sie in ihrem Leben nur sehr wenig veröffentlicht: Drei Bündel zwischen 1940 und 1954 und noch ein viertes gegen Ende ihres Lebens. Dafür gehören diese zu den am meisten verkauften Dichtbündeln der Niederländischen Literatur und ihre Zeilen gehören zum klassischen Zitatenschatz.  Zu den großen Erneuern gehörte sie wohl nicht, dazu sind ihre Gedichte zu Regelkonform. Auch fand ihr erster kreativer Ausbruch gerade vor der Periode der "Fünfziger" statt, eine Gruppe zu der sie qua Hintergrund und Habitus nicht gehören konnte. Sie schien etwas "aus der Zeit gefallen". Dafür können ihre besten Gedichte es mit denen der Fünfziger mindestens aufnehmen. Sie wurde 1974 ausgezeichnet mit dem Constantijn Huyghenspreis und 1982 mit dem P.C. Hooftpreis für Poesie.

Zeit

Mir träumte, dass ich langsam lebte
langsamer, als das älteste Gestein.
Es war entsetzlich, es stürzte auf mich ein
und schoss hinauf, es zuckte oder bebte
was reglos scheint. Ich sah den Trieb mit dem
die Bäume sich nach oben rangen
dieweil sie heiser stockend sangen;
dieweil die Jahreszeiten flogen
schimmernd wie ein Regenbogen...

Des Meeres Tremor konnt' ich sehen, mit dem
es schwillt und hastig schwindet, wie das Zucken
eines großen Schlunds beim Schlucken
und Tag und Nacht von kurzer Dauer
aufflammen und erlöschen: wie ein Funkenschauer.
- Die Verzweiflung und Beredsamkeit
in den Gebärden aller Dinge,
die sonst starr sind und ihr Ringen,
ihren atemlosen, gnadenlosen Streit...

Wie konnt' ich das nicht früher wissen,
war es nicht klar in der Vergangenheit?
Wie tilge ich es je aus meinem Wissen?

Vasalis,
uit Parken en Woestijnen.
Uitgeverij van Oorschot 1940

Vasalis

Übersetzung Jaap Hoepelman 25.09.2018




Sonntag, 23. September 2018

Willem Elsschot. Die Klage des Alten.



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Noch eine Ballade aus den "Versen von Früher" und wieder ist das Thema die hoffnungslos gescheiterte Existenz. Wir wissen nicht, ob der Alte ein Verrückter, ein Verbrecher oder nur ein alter Idiot ist - so oder so, es ist nicht mehr gut zu machen. Und wer ist es? Der Dichter selber, oder vielleicht der Alte aus dem Gedicht "Die Ehe"? Und an wen richtet sich das Envoy? An Jesus? Einen Prinzen? Oder an uns, das "poetische Ihr"?




Willem Elsschot 

1882-1960


Die Klage des Alten

Das Altsein, ich gewöhn' micht nicht daran.
Das Lichterloh, das nicht mehr kann
köchelt tief noch in den Knochen,
und wenn es könnt', wär's ausgebrochen.

Gewiss, es tat mir durchaus Leid,
vergeudet hab' ich viel, viel Zeit 
damit, nach oben aufzuschauen,
beten zu lernen, Gottvertrauen.

Leider, es musste wohl so kommen, 
bin ich doch zu sehr verkommen,
denn Gott und Seele, diese Dinge
wovon die Menschen Psalmen singen,

Gewissen, Vaterland in Not
Der Sternenhimmel und der Tod,
es sagt mir, nein es sagt mir nichts,
mein Mühen bricht den Panzer nicht.

Wofür ich stets zu haben bin,
dass ich für jedes junge Ding,
wie sie zu hunderttausend laufen,
die Kleider mir vom Leib verkaufe,

das ganze Haus, die ganze Frau
ich tu's. Und kein Bedauern
kann in meinem Blick man lesen,
auch wenn's Verbrechen ist gewesen.

Entlang den Häusern mich verdrückend
linst man mir nach, einem Verrückten
dessen Arglist, dessen Tücken
geschrieben sind ihm auf dem Rücken.

Ich bin ein Schurke, bin ein Hund,
nicht ruhen könnt' ich in geweihtem Grund,
und Lösegelder will ich zahlen
für jedes Bündel Sonnenstrahlen:

Doch lasst mich tun mit Feuersinn,
was mir gefällt, solang ich bin
und quält uns nicht: mich armen Racker
und Satanlieb, den letzten Macker.

Rotterdam, 1910.



Übersetzung Jaap Hoepelman 23.09.2018

Dienstag, 18. September 2018

Menno Wigman. Burger King

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Menno Wigman

1966-2018

Menno Wigman war Dichter, Redakteur einer literarischen Zeitschrift, Übersetzer aus dem Deutschen und Französischen (u.a. Thomas BernhardElse Lasker-Schüler und Rainer Maria Rilke), und wurde selber ins Englische, Französische und Deutsche übersetzt (Im Sommer stinken alle Städte - Köln 2016).
Er ist ein herausragender Vertreter der neuesten Dichtergeneration und wurde mit verschiedenen literarischen Preisen ausgezeichnet. 2012 - 2014 war er Stadtdichter in Amsterdam. Traurige, unpoetische Poesie in geschliffener Umgangssprache...das wäre keine schlechte Umschreibung seiner Kunst.




Burger King

Gab es eine Zeit dass ich darüber stand,
der Mund gefüllt mit Proust und Bloem, ich sag' ja nichts,
nicht mehr. Hat's denn überhaupt noch Sinn -
denken in einer Sprache ohne Zähne?
Ich bin allein. Die Worte sind zum Teufel.

Also trotte ich im Lesesaal der Straße
und blättre so ein bisschen durch den Burger King,
einfach weil ich lebe, weil ich hoffnungslos
geschmacklos esse und mich bald von selbst verziehe.
- Wenn diese Verzweiflung das Walhall sein soll,

wenn man hier das echte Leben lesen kann,
meinetwegen, ich hab' genug gesehen. In dieser Geschichte
zahlst du mit deinem Selbst, nicht einmal traurig,
eher erstaunt dass alles niedere
und hässliche so fest und unumstößlich steht.

Menno Wigman

Burger King

Übersetzung Jaap Hoepelman 17.09.2018

Bloem (sprich Blum) ist ein bekannter niederländischer Dichter aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Ich habe versucht, einige seiner Gedichte zu übersetzen, zu finden in diesem Post:

Bloem



Focquenbroch. Ein böser Bub aus dem 17. Jahrhundert, oder Fumus Gloria Mundi

     Willem Godschalck van Fockenbroch  1640-1670 Dichter sind Außenseiter. In diesem Blog haben wir sie kennengelernt: Piet Paaltjens , de ...