Nijhoffs Gedicht "De moeder de vrouw" (die Mutter die Frau) wurde in einer Umfrage zum zweitbeliebtesten Gedicht der Niederlande gekürt. An erster Stelle stand, bezeichnenderweise, ein Gedicht mit der gleichen Thematik. Breite Flüsse, die unendlich weite Landschaft, die dadurch hervorgerufene Seelen- und Gefühlslage. Die Anfangszeile des Gedichts "Ik ging naar Bommel om de brug te zien." kennt in den Niederlanden fast jeder (so war es wenigstens mal). Bommel, das nur nebenbei, ist die kleine Stadt, wo sich die Brücke befindet. Nijhoff ruft eine überreiche Bilder- und Bedeutungslandschaft hervor, in der Umgangssprache zwar, aber in makelloser Sonettform. Geht es hier um Leben und Tod, getrennt durch den Fluss des Lebens? Die Brücke als Verbindung zwischen beiden? Die Frau am Schiffsruder - lenkt sie wirklich oder wird sie nicht vielmehr fortgetrieben, wie jeder versteht, der mal im Rhein versucht hat zu baden? Wie jeder im Fluss des Lebens von Gott fortgetrieben wird?
Die Brücke war für die damalige Zeit ein technisches Meisterwerk, und das Gedicht schlägt zwischen erster und letzter Zeile eine Brücke zwischen Technik und Gott - so kann man es auch lesen. So kann man nicht nur, so sollte man es lesen. Nicht im Sinne von "es geht hier um", das war nicht richtig ausgedrückt. Aber das Kaleidoskop von Bildern, Gefühlen und Gedanken bei der Betrachtung einer niederländischen Landschaft, das darf man sich schon leisten.
Martinus Nijhoff (1894-1953)
Die Mutter die Frau
(1933)
Ich zog nach Bommel, die neue Brücke sehen.
Ich sah die neue Brücke. Zwei Gegenseiten
die sich einmal schienen zu meiden,
wurden wieder Nachbarn. Minuten, vielleicht zehn,
dass ich dort lag, im Gras; mein Tee getrunken,
mein Kopf gefüllt mit Landschaft weit und breit -
dass unvermittelt inmitten der Unendlichkeit
mir eine Stimme in den Ohren hat geklungen.
Eine Frau war es. Das Schiff auf dem sie fuhr
fuhr langsam mit dem Strom unter der Brücke durch.
Sie war allein am Deck, sie stand am Ruder,
und was sie sang, dass hörte ich, das Psalmen waren.
O, dachte ich, o, dass da die Mutter würde fahren.
Preise Gott, sang sie, Seine Hand wird dich bewahren.
Übersetzung Jaap Hoepelman November 2017
De moeder de vrouw
Aus: Verzamelde gedichten
Amsterdam, Bert Bakker, 1978
Die Erweiterung der alten Brücke wurde 1933 eingeweiht. Sie war also
zur Entstehungszeit des Gedichts wirklich neu.
Den Krieg hat sie nicht unbeschädigt überstanden.
Sie wurde wieder instand gesetzt und viel später
durch eine Neukonstruktion ersetzt.
Die neue Brücke wurde zu Ehren des Dichters "Martinus Nijhoff Brücke" getauft.