Sonntag, 8. August 2021

Antoine de Kom und Anton de Kom. "Wir Sklaven von Suriname" auf Deutsch erschienen.

Gedichte machst du nicht

sie sind im Raum und liegen angekettet

und wenn es stürmt

dann gehen sie über Bord


(De lieve geur van zijn of haar. Querido. 2008)



Am 23 Januar  2021 schrieb ich einen Post über den Dichter und Psychiater Antoine de Kom, mit einer Übersetzung seines Gedichts "Mein Opa ist so Nackt".  Dazu schrieb ich einige Zeilen zur Erklärung der Hintergründe des Gedichts, ohne die es in Deutschland schwer verständlich sein wird. Antoine de Kom ist ein Enkel von Anton de Kom, des Aufklärers über das Schicksal der Sklaven in Suriname, an der Nordküste Südamerikas. 1934 erschien dessen Manifest "Wij slaven van Suriname" - "Wir Sklaven von Suriname" in Amsterdam. Das Buch wurde zuerst zensiert und dann verboten. Erst 1980 erschien es in den Niederlanden in vollständiger Form, dann aber mir großem Erfolg. In meinem Post berichtete ich, dass es bald eine deutsche Übersetzung geben würde. Inzwischen ist es soweit: "Wir Sklaven von Suriname" ist auf Deutsch erschienen. Es gehört zur großen Aufklärungsliteratur über den Kolonialismus. Eine ausgesuchte Gelegenheit diesen Post mit Antoine de Koms eindrucksvollem Gedicht zu wiederholen.


Antoine de Kom 1956 - 


Antoine de Kom ist Psychiater, Dichter und Schriftsteller, Enkel des surinamisch/niederländischen Nationalisten und Widerstandskämpfers Anton de Kom, des Autors der Anklageschrift "Wij slaven van Suriname" ("Wir Sklaven Surinames", 1934), der "Opa" des hier übersetzten Gedichts.

 

        Wij slaven van Suriname

 

 Leben und Werk von Anton de Kom werden in den Niederlanden erst in letzter Zeit, lange nach der Unabhängigkeit Surinames, gewürdigt. Ein Platz in Amsterdam Süd-Ost wurde nach ihm benannt und ein Denkmal errichtet. Manchmal wird de Koms Rolle für Suriname mit der des Multatuli für niederländisch Indien verglichen. De Kom wurde, als erster Surinamer, aufgenommen im Kanon der niederländischen Geschichte und jetzt, nach 86 Jahren, steht "Wij slaven van Suriname" auf der Liste der Bestseller. 

Das Gedicht "mijn opa is zo bloot" ("mein Opa ist so nackt"), das ich hier übersetzt habe, ist sehr gut, meine ich. Aber es ist nicht leicht zu verstehen. Schon gar nicht für nicht-niederländische Leser, die mit den Hintergründen noch weniger vertraut sind, als die Niederländer es sind, oder sein wollen. Dieser Blog wäre aber nicht der richtige Ort für eine ausführliche Geschichte des niederländischen Kolonialismus in Südamerika und der Karibik, angenommen ich wäre dazu überhaupt imstande. Ich kann nur versuchen, schwer verständliche Verse zu erläutern, denn ich sehe das Gedicht als einen Ansturm ohne Punkt und Komma von Gefühlen, Gedanken, Erinnerungsstücken, Motiven, Mosaikfragmenten, die ein formvollendetes Gedicht unmöglich machen und die trotzdem ein Bild ergeben, das in der zerbröckelten Form mehr aussagt als ein glattgestrichenes Gemälde. Womit wir schon bei der Form des Gedichtes, des Gegenstandes und der Rezeption wären. Denn "zerbröckelt" ist nicht nur das Gedicht, "zerbröckelt" nennt der Dichter auch das Denkmal für den Opa und "zerbröckelt" sind die Meinungen über das Kunstwerk.

Der Dichter T. S. Eliot schrieb: "Genuine poetry can communicate before it is understood". Geben Sie Antoine de Koms Gedicht zunächst die Gelegenheit, sich mitzuteilen. Anschließend werde ich versuchen an Hand von einigen "schwierigen" Passagen etwas über den Hintergrund zu erklären.


Antoine de Kom - mein Opa ist so nackt


mein Opa ist so nackt

so ganz arg nackt auf ganz dem eigenen Platz

er möchte keine Kleider an

doch wie kann ich ihm zeigen

dass man nackend vornehm angezogen

gehen kann im Anzug plus Krawatte Aktenmappe

und noch viel mehr als mehr trotzdem ein wenig nackt?

die Sklaven waren oft schon so so hieß es so sich selbst

dabei mit einem Schlag die vorgemachten Kleider los an dem einen

oftmals schwer versehrenden Moment

unter dem Folterzeug das schneller rennt als du

auch als du ungekürzt vollwertig auf holländisch frei sein wolltest

mit Hut und Binder und mit Ledermappe oh

darin im Krieg kaum mehr

als angedätschte Wörter unbezwingbar

"staatsgefährlich" allerdings

doch selbst bist du noch ungeschunden & noch heil

gerad' noch sicher in der Haager Tram

die dank meines Zutuns hält und hält 

dieweil Seyss-Inquart leichblass starrend

auf deinen Platz sich fragt

ob du ihm nackig und zerbröckelt lieber bist?


[Aus: die lieve geur van zijn of haar (2008)]


Antoine de Kom "mijn Opa is zo bloot"

Vertaling Jaap Hoepelman, Januar 2021


Denkmal für Anton de Kom auf dem Anton de Kom plein, Amsterdam

"mein Opa ist so nackt

so ganz arg nackt auf ganz dem eigenen Platz"                

Hier sieht man das Denkmal für Anton de Kom, der "Opa" des Antoine de Kom. Das Denkmal hat den ganzen Platz, der nach de Kom benannt wurde ganz für sich allein, und es ist nackt. Ganz nackt. Diese Nacktheit hat zu heftigen Kontroversen geführt. Klar ist es eine Statue in der besten Tradition der Darstellung der Freiheitshelden, oder der Freiheit an sich - wie Delacroix's "La Liberté Guidant le Peuple"


oder auf dem Nationaldenkmal der Niederlande, der nackte Widerstandkämpfer:



Solche Helden wollen selbstverständlich nicht angezogen werden und es heißt dementsprechend "er möchte keine Kleider an". Viele halten dagegen, dass Anton de Kom darauf Wert legte, einwandfrei und stilvoll gekleidet zu sein, mitsamt Anzug, Krawatte und Aktenmappe. 

 
Mit Ehefrau Petronella Borsboom
Anton de Kom 1898-1945

Also Freiheit hin, Freiheit her - musste das Denkmal für Anton de Kom unbedingt einen nackten  schwarzen Mann in seiner ganzen Nacktheid darstellen?
Der Dichter scheint eine Art Kompromiss zu suchen, indem er seinen Opa indirekt darauf anspricht:

"doch wie kann ich ihm zeigen

dass man nackend vornehm angezogen

gehen kann im Anzug plus Krawatte, Aktenmappe

und noch viel mehr als mehr trotzdem ein wenig nackt?"

Ein nackter Held kann perfekt angezogen sein und viel mehr als das: Blume im Knopfloch, Hut, Einstecktuch - und trotzdem nackt, wie es sich gehört für einen Freiheitshelden. 

Woher kommt übrigens dieses "plus"? Hätte ein "und" nicht gereicht? In Suriname war de Kom Diplom-Buchhalter geworden. Dieses "plus" und die "Aktenmappe" passen gut nicht nur zur Genauigkeit, die er als Buchhalter brauchte, sondern auch zum Aktenstudium, betrieben für seine Geschichte der Sklaverei. 

Jetzt tritt ein anderes Motiv auf den Plan: Das Vorurteil, oder sagen wir lieber: Die Lüge. Hieß es nicht, dass die Sklaven sich eigentlich so ohne Kleider..., wie soll man's sagen, so...so richtig sich selbst fühlten? Dann wiederum weiter gedacht: Wie die Sklaven sich fühlten, spielte es nicht ohnehin keine Rolle? Wer ausgepeitscht wurde, war die Kleider, die nur "vorgemacht" waren sowieso los mit einem Schlag. Schwerste, versehrende Folter war das Mittel mit dem die vielen Sklaven von den wenigen Sklavenhältern in Schach gehalten wurden.  Die Sklaven versuchten häufig zu flüchten um sich als "Marrons" in den unzugänglichen Urwäldern zusammen zu tun. Aber so schnell die Flüchtlinge auch rannten, oft war die Folter schneller als sie. Die Strafen waren bestialisch. 

"die Sklaven waren oft schon so so hieß es so sich selbst

dabei mit einem Schlag die vorgemachten Kleider los an dem einen

oftmals schwer versehrenden Moment

unter dem Folterzeug das schneller rennt als du"

(Nebenbei zur Verstechnik: In "an dem einen", "oftmals schwer" ersetzen auf einmal Anapeste,           ◡◡—, wie Peitschenhiebe, die bis dahin ziemlich konsequent durchgehaltenen Jamben. Vielleicht kann man als Päon, ◡◡◡—, noch "unter dem Folterzeug" als besonders schweren Hieb dazurechnen.)

In einem einzigen Schlüsselwort werden Hauptmotive des Gedichtes gebündelt: Das Denkmal, die Flucht, die Folter, die Sehnsucht nach Freiheit, der Krieg und die Besatzung: 1933 wurde de Kom, der als Aktivist und Berater für Kontraktarbeiter tätig war, als "staatsgefährlich" in die Niederlande deportiert. Er versuchte wieder Fuß zu fassen, "ungekürzt" und "vollwertig". Als "vollwertiger" Holländer, mit allen Rechten eines Holländers. So weit, so verständlich, aber "ungekürzt"? Das hier benutzte niederländische Wort heißt "onbeknot". Einmal bedeutet das etwa "frei", "uneingeschränkt". In einer anderen Bedeutung werden wir an die Kopfweide, "knotwilg",  erinnert. Der gekürtzte, "geknotte", Weidenbaum, von dem die Äste abgeschlagen worden sind. Geflüchtete, wieder gefangengenommene Sklaven wurden häufig "geknot" - ihnen wurde eine Hand, ein Fuß oder Bein abgeschlagen, oder auch eine Achillessehne durchtrennt (ich will hier nicht sonstige Gräuel auflisten). Auch an de Koms Denkmal scheinen Hände und Füße zu fehlen. Ein Hinweis, der nicht von allen Betroffenen gemocht wurde.

De Kom war noch vor dem Krieg mit Frau und Kindern nach Den Haag umgezogen. Während des Krieges, trotz der Problematik der niederländischen Kolonialgeschichte, engagierte er sich im Widerstand, weil er sah, dass die halbwegs überwundene Vergangenheit ersetzt wurde von einer Zukunft, die ihn weitaus schlimmer "kürzen" würde. Seine Aktenmappe war inzwischen wahrscheinlich "angedätscht", wie auch seine Schriften, weil er in der Mappe vielleicht "Wir Sklaven..." mit sich herumtrug, das sich nicht gut verkaufte, oder in Mitleidenschaft gezogene Aufsätze für die Widerstandspresse, "beurs""angedätscht" eben. Aber er selber blieb unbezwingbar.

"auch als du ungekürzt vollwertig auf holländisch frei sein wolltest

mit Hut und Binder und mit Ledermappe oh

darin im Krieg kaum mehr

als angedätschte Wörter unbezwingbar

"staatsgefährlich" allerdings"

Der Dichter hält die Haager Tram in der sein Opa sitzt so lange an, wie es nur geht. Sein Opa ist der alten Folter entgangen, er ist ungeschunden und heil - gerade noch, denn was für die Sklaven die Flucht war ist jetzt die Deportation geworden und Opa de Kom wird die neue Folter nicht überleben. 1944 wird er von der Gestapo verhaftet und nach KZ Neuengamme-Sandbostel verfrachtet, wo er 1945 stirbt. Der österreichische Reichskommisar für die Niederlande, Seyss-Inquart, ein Teufel von Sklavenhalter, schaut zu und überlegt sich, ob ihm anstatt eines Anzugträgers ein nackter, zerbröckelter Neger nicht doch lieber wäre:

"doch selbst bist du noch ungeschunden & noch heil

gerad' noch sicher in der Haager Tram

dieweil Seys-Inquart leichblass starrend

auf deinen Platz sich fragt

ob du ihm nackig und zerbröckelt lieber bist?"

Schon alte Abolitionisten, wie  John Gabriel StedmanMarten Douwes Teenstra,  Julien Wolbers oder auch Nicolaas Beets hatten die Zustände in Suriname beschrieben und scharf verurteilt. Ab und zu wurde tatsächlich ein Täter (oder eine Täterin, Frauen ließen sich nicht unbezeugt) verurteilt, aber das Interesse der Obrigkeit war lau, die Strafen läppisch. Es dauerte noch bis 1863 - in der Realität bis 1873; die Sklavenhälter mussten noch "entschädigt" werden während die Sklaven weiterhin schufteten -, dass die Sklaverei in Suriname abgeschafft wurde. Aber das Gefühl der Minderwertigkeit hatte sich verfestigt, auch bei den ehemaligen Sklaven, und stellte ein riesiges Hindernis bei der Entstehung einer eigenen Nation dar. Das zu überwinden ist das eigentliche Thema von de Koms "Wir Sklaven von Suriname".


2014 bekam Antoine de Kom den VSB-Poesie-Preis für seinen Gedichtband Ritmisch zonder string.  

Anfang 2021 wird die deutsche Übersetzung von "Wij slaven van Suriname" erscheinen.*



*Bemerkung 8.7.2021: Das ist inzwischen geschehen. Siehe die Einleitung zu diesem Post.

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