Montag, 28. Dezember 2020

Herman Gorter: Ein neuer Frühling und ein neuer Klang

 


Herman Gorter (1864-1927)




November 1888 vollendete Herman Gorter den ersten Gesang seines epischen Gedichtes "Mai". Die 3 Gesänge des Gedichtes umfassen 4381 Zeilen, in der Gorter seine Liebe zu Wies Koopmans (später seine Frau) besingt in Metaphern und Rhythmen, die einen Höhepunkt und Endpunkt der Poesie der Achtziger darstellen. Der "Mai" war neu in Mystik, Naturlyrik, Erotik auch - aber er bestand nun mal aus 4381 Zeilen. Es überrascht also nicht ganz, dass eigentlich nur die ersten 20 Zeilen, die ich hier übersetzt habe, berühmt geworden sind. Sie gehören dafür zum Kanon der niederländischen Poesie, sogar in diesen poesielosen Zeiten. 

1890 erschien das Gedichtband "Verzen", das dem "Sensitivismus" zugerechnet wird, in dem, radikaler noch als im "Mai" traditionelle Vorgaben in Grammatik und Semantik der herkömmlichen Verslehre aufgegeben werden, um den Eindruck des Gefühlten unvermittelt hervor zu rufen. 

Gorter war mehr als nur ein impressionistischer Dichter. Er war Altphilologe und Gymnasiumlehrer, Übersetzer der Ethica des Spinoza. Später war er aktiv in der sozialistischen und danach in der kommunistischen Bewegung, zum Teil zusammen mit Henriette Roland Holst.


Gorter (dritter von Links) bei einem Meeting der Sociaal Democratische Partij.
Auf seinen Strohhut wollte er nicht verzichten.


 1918 übersiedelte er nach Deutschland, wo er die radikaleren Positionen der KPD, anschließend der KAPD vertrat. Er war Mitglied des west-europäischen Sekretariats der Komintern, aber wurde 1920 aus der Führung hinausgeworfen: Sein kompromissloser Kritik an Lenins Broschüre "Der „Linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus" wurde ihm nicht in Dank abgenommen. Nach einigen Aktivitäten in marginalen sozialistischen Bewegungen, zwangen Herzprobleme ihn dazu, die politische Bühne zu verlassen. Er starb 1927 in der Schweiz, wo er gehofft hatte sich von seinem Herzleiden erholen zu können.

Wie bei Henriette Roland Holst war Gorters Kommunismus vornehmlich ein dichterischer Traum, der mit der hemdsärmeligen Bereitschaft zur gnadenlosen Tyrannei nicht viel zu tun hatte. Dass er nicht bereit war auf kleinbürgerliche Vorlieben zu verzichten, wie das Tennisspiel und das Tragen von eleganten Kreissägen, ist in meinen Augen sympathisch, aber trug gewiss nicht bei zu seiner Beliebtheit in der revolutionären Bewegung.


Herman Gorter, aus “Mai“, 1888.

I

Ein neuer Frühling und ein neuer Klang:

Ich möcht', dass dieses Lied pfeift wie der Vogelsang,

Den ich öfters hörte vor der Sommernacht

In der kleinen, alten Stadt, entlang der Wassergracht -

Im Haus war's dunkel, doch die Straße am Kanal

Sammelte Dämmer, am Abendhimmel blinkte fahl

Noch Licht, es fiel ein dunkelgoldner Schein

Auf eingerahmte Giebelreihn.

Dann pfiff ein Knabe - so wie eine Orgelpfeife,

Die Klänge schüttelnd in der Luft - so wie reife,

junge Kirschen, wenn der Frühlingswind

Steigt im Gebüsch und seinen Flug beginnt.

Er zog über die Brücken, auf dem Wall

am Wasser, langsam gehend, überall

wie ein junger Vogel pfeifend, unbewusst

der Abendwonnenlebenslust.

Manch müder Mann beim Abendessen

Hörte zu, eine Geschichte, längst vergessen,

Lächelnd, die Hand am Fenstergriff,

Zögerte zeitweilig, während der Knabe pfiff.


Übersetzung Jaap Hoepelman, Dezember 2020


Mei, I, 1889.

Een nieuwe lente en een nieuw geluid:


Ein Beispiel für Gorters Sensitivismus ist das Liebesgedicht "Zie je ik hou van je" aus "Verzen", 1890,

in dem die Dichterliebe durch hilfloses Gestammel fühlbar gemacht wird. Gekonnte Naivität, freilich. Aber vergleichen wir es mit Jacques Perks Epos "Iris", aus 1881, das seinerzeit als erneuernd galt:


Aus "Iris" (1881)

Ich bin geboren aus der Aurora,
Und einem Seufzer der tosenden See,
Die hoch ist gestiegen, um wie Regen zu fliegen,
Geschwollen vor Verzweiflung und Weh:
Meine Gewänder Perlen durchweben, die beben
Wie Tau auf der Ros', die erblüht,
Wenn schamvoll die Tagbraut zu baden sich traut,
Und vor ihr ein flammender Fächer erglüht.


Damit verglichen stellt Gorters tastende Einfalt tatsächlich etwas völlig neuartiges dar:


Siehst du

Siehst du ich liebe dich,

ich find' dich so leicht wie das Licht -

deine Augen sind so voller Licht,

ich liebe dich, ich liebe dich.


Und deine Nase und dein Mund und dein Haar

und deine Augen und dein Hals, dar-

um das Kräglein und dein Ohr

mit dem Haar davor. 


Siehst du ich wollte gerne sein

du, aber es kann nicht sein,

das Licht ist um dich, du bist

nun doch was du nun einmal bist. 


O ja, ich liebe dich,

so fürchterlich liebe ich dich,

ich wollte das alles ganz sagen -

Aber kann es doch nicht sagen.


Übersetzung Jaap Hoepelman, Dezember 2020

Freitag, 9. Oktober 2020

Reineke Fuchs. Wie man einen Bären abzieht.

 


Jan de Putter | Just another WordPress.com site

Reineke Fuchs
oder
Van de vos Reynaerde


von
Willem die Madocke maecte
 
Übersetzung Jaap Hoepelman 

Aus dem Mittelniederländischen,  Februar 2020.


"Reineke Fuchs? Den kennen wir doch?" Schon, aber wenig bekannt ist, dass Goethes Nachdichtung basiert auf einer  flämisch-niederländische Dichtung aus dem 13. Jahrhundert. Auch diese hatte eine lange Vorgeschichte. Die flämische Version wurde von einem Autor geschrieben, der sich "Willem die Madocke maecte"  ("Willem, der Madocke machte“) nannte, der aus Ost-Flandern stammte,  über den ansonsten wenig bekannt ist. 
"Van de Vos Reynaerde" gilt als ein Höhepunkt der mittelniederländischen Literatur. Der Text ist überraschend modern in seinem Sarkasmus ohne aufgesetzte Kunstfertigkeit. Willem gelang eine Kombination von Gesellschaftskritik, Satire, Abenteuergeschichte und Bubenstück. "Reynaerde" wird in dieser Übertragung "Reynaert" oder "Reyn" genannt. "Reynaert" bedeutet ""mit reinem Charakter". Nomen est omen...Reynaert zeigt in "Van de vos Reynaerde" nicht die Spur der moralischen Makellosigkeit, welche ordentlichen Helden anhaftet. Er war ein Betrüger, Sadist, Räuber, Schänder, Lügner... Seine Opfer waren aber nicht besser, nur dümmer, verschwiemelter, frömmelnder, habgieriger und verlogener. Der „Reynaert“ ist mittelalterlich drastisch, aber für Willems Zeitgenossen muss es ein Genuss gewesen sein, dass wirklich alle ihr Fett abbekamen. 




Ausgesprochen derb geht es zu an den bekannten Stellen in denen Brauns Gier nach Honig ihm zum Verhängnis wird.
Während des Hoftags wird viel schlechtes über Reynaert berichtet. Reyn hatte es geahnt und es vorgezogen, nicht zum Hoftag zu erscheinen. Braun der Bär, von hohem Adel und bärenstark, wird deswegen abgesandt um Reynaert zu überreden mitzukommen.
Braun macht sich auf die Socken und es dauert nicht lange, bevor er bei Reynaerts Burg Manpertus ankommt. Es bleibt nicht im Unklaren was Reynaert blüht, wenn er Brauns Aufforderung zum Hofe zu erscheinen nicht befolgt.

Vorne bei der Festungsschanze,
sitzend auf dem Bärenschwanze,
rief er: "Reyn, du bist zu Hause.
Hör zu, komm' du sofort heraus.
Bei Gott, der König hat geschworen,
dass ich dich von den Toren
von Manpertus bringe vors Gericht;
sonst man dir alle Knochen bricht
und flicht aufs Rad. Ich tu nur meine Pflicht
und rate: Widersetz' dich nicht!"

Reyn ist kooperativ, sehr sogar. Selbstverständlich will er vor Gericht erscheinen. Wenn nur dieser Schmerz nicht wäre. Im Bauch! Wenn er nur diesen frischen Honig nicht gefressen hätte! Wenn dieser nur nicht so leicht zu erreichen gewesen wäre! beim Zimmermann! in einer gespaltenen Eiche...! Jetzt wird Braun ganz schwach. Als es um seine Leibspeise geht, verliert er glatt den Verstand.

Lamfroit war ein Zimmermann,
Gildemitglied, einer, der was kann.
In seinem Hof lag eine Eiche.
Mittels Keilen wollte er erreichen,
dass der Baum sich spaltete entzwei,
wie üblich in der Zimmerei.

Ganz fürsorglicher Neffe warnt Reynaert den Bären davor, sich am frischen Honig in der Eichenspalte zu überfressen. Das erzeugt nur Unmut beim Onkel Braun:

"Halt endlich deine Schnauze! Sonst verlier‘
ich die Geduld. 'In Maßen immer' - Mein Panier!"
"Recht hast du", meinte Reynaert, "ich
bin doch so verzagt! Nichts kann dich
halten! Mutig vorwärts in die Spalte!"
(Reyn konnte kaum noch an sich halten.)

illustratie

Braun hatte den Verstand verloren.
Er kroch hinein bis über beide Ohren
zusammen mit den Bärentatzen,
zu gerne wollt' er Honig schmatzen.
Darauf hatte Reyn gewartet! Gleich
machte er die Keile aus der Eiche
und die Federkraft der Spalte
schnappte zu. Es war nicht auszuhalten.
Der Onkel beim Familientreffen
 ward festgeklemmt von seinem Neffen.
Weder Schlauheit, noch Gewalt
konnten ihn retten aus dem Spalt.
Kraft hatte Braun, Verwegenheit,
doch bei der Gelegenheit
waren die Schmerzen ungeheuer,
guter Rat war mehr als teuer.
Sogar dem Bären wurde klar,
wie gnadenlos er abgezogen war.
Kopf und Tatzen, viel vom Rest
saßen unverrückbar fest.

Reyn ist sich nicht zu schade für einige schlechte Witze auf Brauns Kosten, um sich anschließend diskret zu entfernen. Man muss nicht unbedingt dabei sein, wenn es unappetitlich wird. Es dauert nicht lange und Zimmermann Lamfroit eilt herbei mit einer ganzen Abteilung Dörfler, scharf auf Brauns Fell und scharf auf Bärenbraten. Braun sitzt hoffnungslos fest. Seine einzige Chance: Wenn er sich häutet und Kopf und Pfoten mit Gewalt aus der Spalte zieht, kann er sich retten. Und so geschieht es.
 
Mit einem Reißen, krank und trocken,
ließ Braun die Schuhe und die Socken,
wie Wäsche aufgehängt im Klammerholz.
Unendlich war der Schmerz. Sein Stolz
war schlimmer noch verletzt.Wie dem auch sei -
Braun Bär war endlich, endlich frei.
Einerlei, der Schmerz war unerträglich.
Bleiben, flüchten? Der Bär saß unbeweglich.
Blut klebte ihm die Augen dicht,
doch sah er, wie im Gegenlicht
der ganze Pulk kam angerannt.
Lamfroit hat er gleich erkannt,
den Pfarrer mit dem Kreuz behangen,
der Küster mit der Fahnenstange,
die Parochie, alte, junge,
und zum Schluss die alte Muhme,
wütend wedelnd mit der Krücke,
mit wenig Zahn und vielen Lücken. 

Die Zeichen stehen schlecht. Der Bär sitzt unbeweglich, benommen, Blut klebt ihm die Augen zu, doch es gelingt ihm, sich in den Fluss zu stürzen und sich vom Strom mitreißen zu lassen, bis er auf eine Sandbank gespült wird, wo er gekrümmt vor Schmerzen liegen bleibt. Reynaert hat inzwischen genüsslich ein Huhn verspeist und begibt sich zum Fluss für ein erfrischendes Bad, wo er seinen Onkel gewahr wird. 

Reynaert dachte mit Genuss
an ein kühles Bad im Fluss
und sinnierte mit Behagen,
wie der Bär wurde erschlagen,
von der Gemeinde fortgetragen
um als Bärenbraten im Gelage
in brauner Soße Hauptgericht zu sein.
Nichts zu klagen meinte Reyn. 
"Das Leben meines Konkurrenten
kam zum bedauerlichen Ende,
ich war ja leider nicht dabei.
Mein guter Ruf bleibt fleckenfrei."
Der Fuchs war froh, er liebte es zu siegen,
bis er, am Ufer, sah den Bären liegen.
Schmerzgekrümmt lag Braun am Fluss.
Futsch gute Laune! Dafür Wut, Verdruss!
Verdammter Lamfroit! Blödes Tier!
Hurensohn! Den Bären hab' ich dir
geschenkt! Und diesen Schinken
lässt du laufen? Zu dumm zum stinken!
Nach dieser seelischen Erfrischung
Schaute Reyn mit einer Mischung
aus Freud‘ und Häme und er fand,
dass es um den Bären nicht besonders stand:
Gevatter Braun ging es nicht gut,
wie er da lag im Bärenblut,
gekrümmt vor Höllenschmerzen.
Gleich fing Reyn an zu scherzen.
"Grüß Gott Herr Priester, Sie auch hier?
Sie kennen Reyn, das böse Tier?
Ehrwürden, Sie, ich hörte doch so  gern
von Ihnen, Diener unsres Herrn,
in welchem Orden, darf man fragen,
muss man die rote Mütze tragen?
Sind Sie Prior oder Abt?
Der Scherer hat viel abgekappt!
Von der Kalotte hat er Sie getrennt,
das ist wohl, was man Kahlschlag nennt!
Die Handschuhe nicht anbehalten?
In der Komplet nicht Händchen falten?"
Zu gerne möchte Braun sich rächen.
Doch wie? Sein Herz wollte zerbrechen.
Lieber im schnellen Strom perdu,
als verhöhnt von diesem Parvenü.

In entwürdigender Art und Weise gelingt es Braun zum Hofe vor zu rücken, wo sein grauenhaft versehrter Körper nicht mal wiedererkannt wird.

Und war er müde vom Verrücken,
rollte er vom Bauch sich auf den Rücken,
vom Rücken wieder auf den Bauch.
Nach einer Meile Rollens war auch
diese Qual vorbei. Am Hofe angekommen
wurde er nicht freudig aufgenommen,
denn von Entsetzen übermannt, 
hat keiner Braun als Braun erkannt.
Nur König Nobel war umgehend klar,
dass dieser Rollmops sein Gesandter war.




Bei der Übersetzung habe ich folgende Quellen zu Rate gezogen: Die Übersetzung in das heutige Niederländisch des Walter Verniers[i], Hubert Slings annotierte Ausgabe[ii], Lulofs Ausgabe[iii], die annotierte Ausgabe des DBNL  (digitale bibliotheek voor de Nederlandse letteren)[iv]  und ab und zu die Fassung des geheimen Rates[v] .
Die älteste vollständig erhaltene Quelle ist die „Comburger Handschrift“[vi]  in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart.












Donnerstag, 1. Oktober 2020

Slauerhoff: Der Entdecker

17 beste afbeeldingen over Slauerhoff J.J. op Pinterest ...

Tijd heeft geen vat gekregen op taal Slauerhoff | De ...

Jan Jacob Slauerhoff  (1898-1936)

                                                                                        


Slauerhoff war einer der wichtigsten Dichter, Novellisten und Romanciers in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Als Schiffsarzt fuhr er auf Reisen nach niederländisch Indien, auf der Japan-China-Linie, auf der Holland-Westafrika Linie und auf dem königlich-holländischen Lloyd nach Süd-Amerika. 1934 eröffnete er eine ärztliche Praxis in Tanger, in der Hoffnung, dass der Verbleib in Nord-Afrika seiner schwachen Gesundheit gut tun würde. Es half nichts, 1936 zog er wieder in die Niederlande, wo er wenige Monate später in einem Pflegeheim verstarb.

Slauerhoff wird beschrieben als Poète Maudit, verlassen, nirgends zuhause, zutiefst pessimistisch, von allen ungeliebt, im Streit mit allen, insbesondere den Kollegen-Schriftstellern. Ein schwieriger Mensch, aber der Kapitän eines der Schiffe auf denen er fuhr nannte ihn den besten Kumpel, den ein Seemann haben könnte; "der Schwarze Chor", die Heizer, nannten ihn die beste Pille mit der sie je gefahren wären.

Slauerhoffs Werk umfasst Romane, Gedichte, Geschichten und Übersetzungen und wird auch heute noch gelesen.
Cees Nooteboom hat Slauerhoff "einen der großen Reisenden der Niederländischen Literatur" genannt. Ununterbrochen umherziehend empfand Slauerhoff eine enge Verwandtschaft mit dem portugiesischen Dichter Camões, die Hauptfigur seines Romans "Het verboden Rijk" ("Das Verbotene Reich"). 
Slauerhoff hat verschiedene Gedichte mit "portugiesischen Motiven" geschrieben, einige davon mit portugiesischen Titeln, wie AngústiaFadoO engeitadoSaudadeVida triste.

"Der Entdecker" erinnert an MagellanCamões, Columbus und andere Großen, oder, wie man es betrachtet, Verfluchten. Es enthält zudem Motive aus dem "Fliegenden Holländer", auch der ein gänzlich Verdammter. Den Holländer in diesem Gedicht aber kann nicht einmal die innige, fromme Liebe einer Frau vor dem ewigen Herumirren retten, bis zu der Welten Ende. Dafür ist es romantisch ohne Ende...

Der Entdecker

Die Bequemen forderten mich auf
Zu fahren. Ihnen hab' ich, pfändend meine Knochen
Fabelhafte Reichtümer, Schätze zuhauf
Wegen des Schiffes dreist versprochen 
                                                                                                           
Und endlich triumphierend heimgebracht.
Bis zur Kante war das Schiff beladen,
Freilich, verreckt fast alle Kameraden, 
Doch jede Hafenstadt trug Flaggenpracht.

Dann musst' ich knien vor dem goldnen Thron.
Der König hob den Orden hoch, um mir ihn
Huldvoll umzulegen, den ich in wildem Hohn
Entriss ihm und zuwarf einem Paladin.

Eine Frau noch legte innig fromm die Arme um mich,
In ihren grauen Augen hab' meinen Frieden ich erkannt,
Ich sank - doch mich verzehrte mehr noch leidenschaftlich
Das Feuer, das mich forttreibt ohne Ruhe, fort vom Land.         
                                                   
Ich hastete zurück an Bord,
Einer Entdeckung sicher, vollkommen unbekannt,
Doch unaufhaltsam trieb's mich fort
Zu Wasserwüsten, Küsten, steil wie eine Wand.

Niemals gestehe ich den Irrtum, meinen Wahn.
Vor dieser blinden Mauer werd' ich kreuzen
Bis zu der Welten Ende auf diesem morschen Kahn,
Darauf drei kahle Masten: Galgen? Kreuze?

De ontdekker
in "Eldorado" 1927


Übersetzung Jaap Hoepelman Oktober 2018


Ähnliches Foto
Camões
1524/1525 - 1579/1580  

Mittwoch, 30. September 2020

Slauerhoff: Aussätziger, Verschoppeling, Enjeitado.



Tijd heeft geen vat gekregen op taal Slauerhoff | De ...

Jan Jacob Slauerhoff  (1898-1936)

Slauerhoff, der Poète Maudit, zieht im "O Enjeitado" eine unmittelbare Verbindung 
zwischen der Tristesse des zerfallenden portugiesischen Weltreiches, seiner 
einst grandiosen Hauptstadt und dem eigenen traurigen Verfall:


 O Enjeitado

Ich fühl' mich von innen verderben,
Ich weiß woran ich werde sterben:
An den Ufern des Tejo.
Dass ich an seinem Strand verende,
nichts, das ich traurigschöner fände,
Und am Leben, erhaben und träge.

Mittags geh' ich auf den Prados,
Abends höre ich die Fados,
Ihr Klagen bis tief in die Nacht:
“A vida é imensa tristura” –*
Stets fester wird mit mir verbunden
Das Übel, das mir seine Aufwartung macht.

Die Frauen, die Fische verkaufen,
Die Schatten, die sich besaufen
Am Douro, Hoffnung gibt es keine mehr,
Sie singen genau so verlassen,
In den Echokammern der Gassen,
In der Stille ohne Gegenwehr.

Eine einzelne Stimme hörte ich singen,
Und meine Kälte zur Traurigkeit zwingen:
"Nur meine Klage hat Trost gebracht.
Das Leben verleiht keine Gnade,
Ich habe nur meinen Fado,
Der füllt mir die Leere der Nacht."

Ich fühl' mich von innen verderben,
Hier macht es Sinn zu versterben,
Wo der Schmerz die Wollust gebiert:
Lisboa, einst Stadt der Städte,
Geschichte als Bürde verschleppend,
Wo Zerfall sich als Ruhm geriert.

Auch mich hat der Wahn überkommen;
Auch ich hab' entdeckt und genommen,
Der ich später alles verlor,
Um an des trägen Stromes Saum
Am Grab des grandiosen Traums
Zu sterben: “tudo é dor”.

O Engeitado (aus Soleares 1933) 

J. Slauerhoff - Soleares, 1934 (tweede druk). Nederlandse ...

Übersetzung Jaap Hoepelman Dezember 2019

Slauerhoff wurde in literarischen Kreisen manchmal seine Schlamperei vorgeworfen. 
So steht in der ursprünglichen Version "“A vida é immenso tristura”. Korrekt wäre “A vida é imensa tristura”, wie ich hier "übersetzt" habe. Darf ich, Übersetzer, das? 
Den Dichter muss man respektieren, die Fremdsprache aber auch. 
Slauerhoff scheint es ziemlich egal gewesen zu sein.
 

Slauerhoff: Saudade auf Niederländisch.



slauerhoff scheepsarts - Google zoeken | Slauerhoff J.J ...
Jan Jacob Slauerhoff  (1898-1936)


Fado

Bin ich träge weil ich traurig bin,
Alles vergebens find' und leer
Und auf Erden mir der Sinn
Nach Sonnenschirm und Schatten steht - nicht mehr?

Oder bin ich traurig weil ich träge bin,
Nie gehe in die weite Welt hinein,
Nur Lisboa nah am Tejo hab' im Sinn,
Und könnte dort genau so gut nicht sein,

doch lieber gehe zwecklos in den dunklen Gassen
der Mouraria auf armselige Erkundung?
Dort treff' ich viele, die genau wie ich verlassen,
leben ohne Liebe, Lust und Hoffnung.

Aus Forum, Jaargang 3  (1934)


Vertaling Jaap Hoepelman
Januar 2019


Slauerhoff Gedichte

Slauerhoff: Billet Doux und berauschende Blumen...

J. Slauerhoff - Wikipedia
Slauerhoff und Darja Collin
(1898 - 1936; 1902-1967)

Die nun  folgenden Kleinigkeiten zeigen, dass Slauerhoff sich nicht nur auf Sehnsucht und Verlangen beschränkte, sondern sich sehr wohl auf elegante, amouröse Dichtung verstand. Klein, fein und ein bisschen gemein...Ich konnte leider nicht herausfinden, ob "Billet Doux" und die "Blumen" sich tatsächlich auf Darja Collin beziehen. Collin war Tänzerin. Slauerhoff und sie waren fünf Jahre verheiratet und hatten ein Kind, das sie bald wieder verloren. 

Billet Doux

Ich wollte ein Gedicht auf deinem Fächer schreiben,
Sodass du mit den Worten wedeln kannst
Und die Zeilen, möchtest du im Traum verbleiben
Ungerührt zusammenfalten kannst.

Doch mehr noch wollte ich, dass ich sie innen
Drin auf deinem Kleidchen schreiben könnte
So dass zugleich mit Seide oder feinem Linnen
Mit Gedanken ich dich streicheln könnte.

Ich schriebe diesen blöden Wunsch dir nicht
Wäre ein gänzlich irrer mir erfüllt gewesen:
Einmal zu halten in den Armen dich...
Engelsgeduld ist es gewesen.

Billet Doux (aus "verzamelde gedichten", 1947)


Berauschende Blumen

Morgen bringe ich berauschende Blumen dir nach Haus'
ich will nicht länger warten, endlich wissen, wie sieht's aus
bei dir; der Strauß beweist:
Bist du ohne Liebe, welken und trauern sie;
Welkst du vor Verlangen, heftiger duften sie;
Brennst du vor Verlangen, die Knospen sprengen sie,
Wie du mit großer Geste dir das Kleid zerreißt.

Jan Jacob Slauerhoff 1930



Übersetzungen Jaap Hoepelman 
Januar 2020



Donnerstag, 24. September 2020

Elsschot: Dichten ohne Schnörkel

 

Alphons Josephus de Ridder,
Pseud. Willem Elsschot 1882 - 1960

Der Flame Alphons Josephus de Ridder (Pseud. Willem Elsschot) gehörte zur gleichen Generation wie Van Ostaijen und Nijhoff. Seine Romane spielen überwiegend in der Geschäfts- und Werbewelt. Mit Werbung hatte er Erfahrung als Mitarbeiter und Redakteur der Zeitschrift "Revue Générale Illustrée de l'Industrie, des Arts et du Commerce", eine typische Werbefalle und so nimmt es nicht Wunder, dass der Betrug ein essentielles Thema in seinen Schriften darstellt. Er wird zu den größten niederländisch-sprachigen Schriftstellern gerechnet und ist Träger des flämischen und des niederländischen Staatspreises für Literatur. Wie bei Van Ostaijen und Nijhoff ist seine Sprache die moderne niederländische Umgangssprache, aber er setzt sie völlig anders ein. Symbolisches Ränkespiel wie bei Nijhoff sucht man hier vergebens. Aber was für eine Sprache. Im Gedicht "Brief" geht es eher rustikalisch zu: Auf die Fresse. Elsschot arbeitete 1908 bis 1911 auf einer Werft in Rotterdam und im "Brief" drückt er eine Wut aus, die ihn 1934 immer noch nicht verlassen hatte. 

Frans Masereel 1929


Brief

Alter Drecksack, mit dem Bart,
dürr im Geist, doch dicht behaart,
der auf uns schaute wie der Spieß,
der die Rekruten zittern ließ.

Ich weiß es noch, verdammtes Tier,
hockst du auch weit weg von hier,
ein Greis, verschanzt in seinen Runzeln
in einem Bunker mit Penunzen.

Dass du Stein hast plattgemacht,
kaum hatte der dir klargemacht,                     
wie du Schätze kannst verdienen
mit dem Bau seiner Maschinen.

Wie du für ein paar Moneten
hast Barends in den Dreck getreten,
wegen Kleingeld in den Miesen
konnte er das Jahr nicht schließen.

Wie dem Lehrling, Haut und Knochen,
von zwei Gulden für zwei Wochen
der halbe Lohn  wurde genommen,
denn er war zu spät gekommen.

Ich weiß es noch, du siehst es richtig,
aber mir ist nicht einsichtig,
wie aus der Untertanenherde
nicht ein Mucks kam, keine Beschwerde.

Hätt' ein Gericht aus unsrer Mitte,
nach abgelehnter Gnadenbitte,
dich mal eben angefasst,
dir eine in das Maul verpasst,

Dir mal kurz den Bart geschoren,
ob mit, ob ohne deine Ohren,
aus dem Beinkleid dich geholt
und dir dann den Arsch versohlt.

Doch ist die Rache aufgeschoben,
sie ist gewiss nicht aufgehoben,
wir können uns auch an dir rächen
ohne dir 's Genick zu brechen.

Denn es kommt die rote Zeit,
wenn der Sklave sich befreit,
noch bevor deinen Kadaver
man verscharrt ohne Palaver.

Du wirst verurteilt, hundert pro,
zum Schrubben von Pissoir und Klo,
dann kannst du weiter spekulieren
über den Wert von Wertpapieren.


 Übersetzung Jaap Hoepelman Fassung September 2020

Mittwoch, 16. September 2020

Van Schagens Kunst ohne Kunst.


        J. C. van Schagen 1891-1985

In einem früheren Blogpost konnte ich den Dichter und Graphiker J. C. van Schagen vorstellen, zu seiner Zeit ein Außenseiter der niederländischen Literatur. Obwohl ein Erfolg beim Leserpublikum, passten seine vordergründig kunstlosen Prosagedichte nicht zum Kanon des offiziellen Literaturbetriebs und er wurde mehr oder weniger beiseite gelassen. In der Nachkriegszeit schätzte man ihn höher ein, wie Buddinghs Kurzgedicht "Wie das Blatt sich wenden kann" zeigt:

Wie das Blatt sich wenden kann
um 1936
lasen wir alle
begeistert und voller Ehrfurcht
Marsman und Slauerhoff
jetzt, dreißig Jahre später,
dreißig Jahre weiser,
halte ich es lieber mit
Noordstar und van Schagen.

(C. Buddingh', Gedichten 1938-1970)

Übersetzung Jaap Hoepelman September 2020

Laut eigener Aussage suchte van Schagen die kunstvolle Form nicht, sondern nahm sie, wenn sie kam, wie sie kam, so wie er das Leben im Sinne Spinozas mit fröhlichem Gleichmut hinnahm. Wobei man, bei genauerem Hinschauen, die Gleichgültigkeit der kunstvollen Form gegenüber mit einem Körnchen Salz nehmen muss. Dazu sind seine Sätze rhythmisch zu raffiniert, seine Wortbedeutungen und der Aufbau der Gedichte zu kunstvoll.

Ich hatte schon lange vor, meine Übersetzungen einiger Gedichte von J. C. van Schagen mit dem Gedicht "Kentern" ab zu runden:


Kentern


Es ist gerufen worden, ich habe verstanden.
Ich war beim Spiel mit Schmuck und bunten Perlen;
Mein Tisch war voller Gold und Seide und glitzernden Steinen;
Mein Haus ein Raum der Kostbarkeit, selten, gewollt,
Warm wie im Orient, und viel war es und prächtig.
Im reichen Dunkel schienen schwere Leuchter. -
Doch jetzt ist gerufen worden, ich komme, und Freude ist und Licht.
Im Garten singt ein Vogel.
Ich gehe jetzt heraus und lasse alles zurück.

Es ist gerufen worden, ich habe verstanden.
Es war ein großes Konzert, tausend Herren mühten sich,
Schwarze Schwalbenschwänze, appretierte Westen, rote Köpfe, Bärte wallten in Ekstasen.
In Staffeln grollten Kontrabässe, es waren süße, kühle Flöten, kupferne Signale,
Blitze und Lanzen, Flaggen und Flammen und Schwärme schmeichelnder Geigen.
Es schwebte ein Schwarm von Düften und Locken von warmen Frauen, munteres Plappern und Weichheit von Haaren.
Es war reich und schön und so kunstvoll.-
Dann wurde leise gewarnt und ich bin aufgestanden.
Draußen stand hoch und ewig die Nacht.
Ich werde ihre Kälte jetzt trinken und versteinern.

Es ist gerufen worden, ich habe verstanden.
Ich war bei der Arbeit an den Aufgaben, ich hatte vieles angefangen.
Es war wohl berechnet, eingeteilt und überlegt.
Es war geordnet und geplant, in Schemen, Zeichnungen und Tabellen, in den Schränken abgelegt und in den Aktenmappen.
Das Material bereit, Fertigungsteile, Konstruktionen, halbfertig und neu angefangen, Programme lagen vor und Skizzen.
Produkte standen fertig aufgereiht.
Eine Agenda gab's für jeden Tag.
Immer wusste ich wie spät es war und was heute zu vollenden sei.
Ich ging methodisch vor, nach bewährtem Muster,
Die Zeit war eingeteilt und eine Klingel verkündete das Ende einer jeden Zeile.
Die Tage waren abgezählt, die Wochen aufgeschichtet und im Voraus vollgebucht,
So regierte ich das Jahr und stopfte es, wie eine Wurst.
Ja, ich war sehr beschäftigt, ich schuftete und schwitzte; vieles scheiterte
An der dumpfen Wirklichkeit, die ohne Regel ist und Form,
Ich musste krabbeln wie die Ameise mit dem Ästchen, sieben Mal den gleichen Klumpen hoch.
Doch mein Gewinn war groß und dick war das Buch der Besitztümer. -
Dann ist kurz geflüstert worden und ich bin gegangen,
Kühle Milde umweht nun meine Schläfe;
Ich liege jetzt entbunden in grenzenloser Ruhe.
Jetzt weiß ich es, ab jetzt gehöre ich einem Werk, das still ist und heimlich,
Das ist von den Bäumen, sich wiegend im Wind, das ist von der Sonne, glitzernd auf dem Fluss,
Das ist vom Regen, rauschend im Gras, das ist von den feuchten Augen der Tiere.
Ich werde jetzt für immer frei sein und alles verlieren.
Ich werde nur wandeln und zuschauen.
Um mich herum sind Zeit und Raum, wie um Gottselber.
Ja, ich werde jetzt wohl nichts mehr fertigstellen.

Aus: van Schagen Narren-Wijsheid 1925


Übersetzung Jaap Hoepelman September 2020



Donnerstag, 3. September 2020

Annie M. G. Schmidt. Das anarchistische Schaf Veronika

 Afl.1: Annie M.G. Schmidt - Een uur Ischa - VPRO

          Annie M. G. Schmidt 1911-1995


Ich hatte schon Gelegenheit zwei Gedichte von Annie M. G. Schmidt vor zu stellen: "Sebastian" und "Einem kleinen Mädchen". Diese reichen aber bei weitem nicht aus um einen Eindruck zu vermitteln ihrer Bedeutung für die Kinderdichtung, insbesondere bei der  Überwindung des Anstandsmuffs der Nachkriegsjahre. Deswegen möchte ich das Schaf Veronika vorstellen:
Zwischen 1950 und 1957 erschien auf der Kinderseite der Zeitung "Het Parool" regelmäßig die Geschichte einer Art WG bestehend aus den beiden Damen Grün, einem evangelischen Pastor und einem sprechenden Schaf. Das ganze hatte leicht absurde, sogar anarchistische Züge: Die Beziehungen zwischen den Personen sind unklar. Der Pastor scheint bei den Damen einzuwohnen (völlig undenkbar in den Fünfzigern), das Schaf ("Veronika") ist sowohl Kind als "Fräulein", ist aber viel klüger als der etwas aufgeblasene Pastor. Die Damen Grün scheinen beschränkt und kleinbürgerlich, machen aber anstandslos bei jedem Wahnsinn mit und sind fähig jedes Abenteuer mithilfe von Esswaren zu einem guten Ende zu bringen. Die Geschichten sind geschrieben in jeweils 5 Vierzeilern in siebenfüßigen Jamben mit gekreuztem Reim, abgeschlossen durch einen Zweizeiler mit Doppelreim. Die Form hat sogar nicht ganz überraschend die Bezeichnung "Schaf Veronika" erhalten.  Annie Schmidt verwendete mühelos gereimte Alltagssprache mit gelegentlichen Ausflügen in anderen Registern. Es waren aber sehr wohl und trotzdem Kindergedichte und als Kind genoss ich den nicht immer verstandenen Spott und die Respektlosigkeit sehr. 
Ich fand beim Aufräumen ein zerfleddertes Exemplar von "Kom, zei het schaap Veronica" 

Wim Bijmoer, een artistieke duizendpoot (2) | Koninklijke ...

und mir kam eine Idee:
Jetzt bin ich selber Opa und vielleicht, ganz vielleicht, hätten die Kleinen in der Familie irgendwann auch Spaß an dem verrückten Schaf, dem Pastor und den Damen Grün? Für deutsche Kinder müsste ich den niederländischen Hintergrund qua "Gefühl" ins deutsche umsetzen. Das wäre doch eine schöne Form der Nostalgie...

Zuerst machen wir die Bekanntschaft mit dem Schaf Veronika. Wir stellen fest, dass die beiden Damen Grün eine gewisse Vorliebe für Süßspeisen haben:

Komm, sprach das Schaf Veronika, wen werd' ich jetzt besuchen,
ich denke mal, die Damen Grün, die mögen süße Sachen,
bei denen gibt es morgens früh bestimmt Kaffee und  Kuchen.
Komm, sprach das Schaf Veronika, ich denk, das werd' ich machen. 

Schau, sprach das Schaf Veronika: Ein Wenig Wollpomade,
das tu ich auf die Löckchen drauf, dann seh ich besser aus
und jetzt noch schnell die Söckchen an, zu spät zu sein wär schade.
Schau, sprach das Schaf Veronika, so kann ich aus dem Haus.

Und Schaf Veronika lief los, die Damen zu besuchen,
sie lief den Lindenweg entlang bis sie die Türe fand,
der Onkel Pastor ließ sie vor zu Kaffeetisch und Kuchen,
dort saßen schon die Damen Grün bei Kaffee und Croissant.

Sieh an! Das Schaf Veronika, das Schaf mit schwarzen Füßen.
Erfreut, sprach Onkel Pastor, sehr erfreut! Und Gott zum Gruß!
Ach, sprach das Schaf Veronika, wie schön Sie zu begrüßen.
Die Damen sagten: Kaffee oder Tee? Vielleicht sogar mit Schuss?

Nun, sprach das Schaf Veronika, dann gerne Tee mit Teilchen, 
die Teilchen sehen so gut aus. Vielleicht darf ich auch tunken?
Das Wetter könnte besser sein, es regnet schon ein Weilchen.
So, sprach das Schaf Veronika, ich habe ausgetrunken.

Auf wiedersehn Herr Pastor, tschüß meine lieben Damen!
Tschüß Fräulein Schaf Veronika, schön dass Sie zu uns kamen.

Übersetzung Jaap Hoepelman 
August 2020

Das Schaf Veronika kommt zurück vom Urlaub am Bodensee und wird von den Damen und dem Pastor vom Zug abgeholt:

Hallöle, sprach Veronika, ein Gruß vom Bodensee,
es war so schön im großen Haus von Onkel Balduin,
ich bin vom Karussell gestürzt, und es tat gar nicht weh,
der Bodensee ist super schön! Sie sollten auch mal hin.

So, so sprachen die Damen Grün, wie war es mit dem Essen?
Und gab es jeden Tag ein Ei? Was reichte man zum Tee?
Moment mal, sprach der Pastor, bevor wir es vergessen,
Was soll das Tier da, in dem Bauer? Auch aus dem Bodensee?

O, sprach das Schaf Veronika, Geschenk von Balduin!
Das ist ein neuer Freund von mir: der Papagei Filou.
Der Pastor sagte: Schönes Kleid, da kommt man nicht umhin,
mir scheint er aber etwas still, den Schnabel hält er zu.

Ein Papagei jedoch, der sagt so Worte, manchmal...
Geschmack und Anstand. Hat er das? Sie wissen was ich mein?
Die Damen Grün erwiderten, wir kennen Balduins Wortwahl
und seine Kreise, meinen wir, sind ausgesprochen fein.

Ja, sprach das Schaf Veronika, Filou spricht sehr gewählt
und das Verhältnis zwischen uns kann eigentlich nicht besser.
Ach, sagten beide Damen Grün, wie schaut er nun beseelt!
Filou tat jetzt den Schnabel auf und sagte: Halt die Fresse.

Komm, sagten nun die Damen Grün, hier ist die Haltestelle.
Zuhause gibt es Bienenstich und Kaffee mit Kamelle.

Übersetzung Jaap Hoepelman, August 2020

Das Kindschaf Veronika, Fräulein Veronika, will manchmal Märchen vorgelesen bekommen. Sie ist aber sehr viel cleverer als der Onkel Pastor, der beim Widerspruch schnell ungehalten wird:

Ach nein, sprach Schaf Veronika, das kann noch gar nicht sein,
ich will noch nicht so früh ins Bett, es ist doch Wochenende.
Doch, sprachen beide Damen Grün: Wir schlafen jetzt schon ein,
die Gutenachtgeschichte noch, dann ist der Tag zu Ende.

Wohlan, sprach Onkel Pastor, was soll es diesmal sein?
Vom Wolf und sieben Geißlein, sprach das Schaf Veronika.
Die Brille kam aus dem Etui. Der Pastor setzte ein,
von sieben Geißlein, ganz allein. Die Mutter war nicht da:

"Und als sie wieder da war, erschrak die Ziegenmutter,
denn alle Kinder waren weg, es fehlte jede Spur.
Der Wolf war eingebrochen, denn auch Wölfe brauchen Futter,
Ein kleines Geißlein gab es noch, versteckt in einer Uhr"

Geht nicht, sprach Schaf Veronika, wie kann so was passieren...
Kein Zicklein passt in eine Uhr, nicht eines ist so klein.
Geht doch, sprach Onkel Pastor, denn das sind ganz kleine Tiere!
In eine Riesenfriesenuhr, da passt ein Zicklein rein.

Ich kenne, sprach Veronika, mehr als nur eine Geiß.
Die passen nicht in eine Uhr, ich wette, die zerbricht. 
Verdorrie! rief der Pastor, hier steht es, schwarz auf weiß!
Ach geh, sprach Schaf Veronika, die Fakten stimmen nicht.

Komm, sprachen nun die Damen Grün, das Märchen ist jetzt aus.
's War wunderschön und vielen Dank. Wir geben einen aus.

Übersetzung Jaap Hoepelman 
August 2020



Montag, 17. August 2020

August Vermeylen: Wir wollen Flamen sein, um Europäer werden zu können

 


August Vermeylen 1872-1945


MISANTHROPIE

1893

Menschen sind hässlich, vom ständigen Kranksein,

Vom Schuften; kläglich der entstellte Leib bedeckt,

Im Geiste feige, wie wenn das Leben sie erschreckt,

Das Nichtzulobende, das wacht über Dein Scheinsein,


Geschundenes Schmerzfleisch, das die Fesseln nie zerbrach,

In dem die Todesweber Dich verstrickten

Aus finsterer Nacht! Fleischaugen, die nie blickten

Aufwärts zum Himmel, und nur Stoffliches betrachten!


Verkrebst sind eure Knochen durch die Sünde; 

Riss' ich euch die bleiche Larve ab, ich stünde

Vor dem Grinsen einer Bestie. Tot seid ihr, verdorrt,


Tot eure Flamme. Ihr irrt im Kreis, als Bestien zerreißt

Ihr euch, und sucht das eine Wort, 

Das längst verschwunden ist aus Menschengeist.


Aus: Verzameld Werk

1952 Brussel


Misanthropie

Übersetzung Jaap Hoepelman, Aug. 2020

Das Leben des August Vermeylen ist wie eine Vorlage für ein Panorama der belgischen Geschichte des fin de siècle und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Geboren wurde er 1872 in Brüssel in einer flämischen Familie. Es wird berichtet, dass man während der Woche Brüsseler Dialekt, dass der Vater allerdings an Sonntagen mit den Kindern Französisch sprach. Das Leben der besseren Kreise, Verwaltung, Gerichtsbarkeit, Wissenschaft, Wirtschaft, Literatur und Kunst war zu der Zeit vollständig französisch. Die Poesie Guido Gezelles hatte aber schon gezeigt wozu das Flämische fähig war und gegen Ende des 19. Jahrhunderts fand beschleunigt eine Entwicklung statt für die Befreiung der flämischen Sprache aus dem Status eines verachteten Bauernjargons. Vermeylen spielte hierin eine wichtige Rolle, obwohl er das Niederländische anfänglich nur mangelhaft beherrschte. Wie es um das Flämische, bzw. das Niederländische in Belgien bestellt war, zeigt die Geschichte von Jan Coucke und Pieter Goethals: 1860 hatte zu Charleroi ein Raubmord stattgefunden. Die Arbeiter Coucke und Goethals wurden beschuldigt, verurteilt und folgerichtig auf dem Großen Markt in Charleroi geköpft.  Der einzige Makel am Prozess war, das er vollständig auf Französisch abgehalten wurde. Sogar der bestellte Anwalt verstand nur Französisch. Coucke und Goethals dagegen verstanden nur Flämisch, und konnten sich nicht verteidigen. Wenig später wurden die wirklichen Täter gefasst. Pech für Coucke und Goethals.

Während seines Geschichtsstudiums an der "Université libre de Bruxelles" ("UlB") gründete Vermeylen mit anderen die Zeitschrift "Van Nu en Straks" ("Von Jetzt und Später"),

                                                                                                                       Van Nu en Straks. Jaargang 2 · dbnl                                

 die 1893-1894 und 1896-1901 existierte. Nicht lange, aber dafür arbeitete ein ganzer Phalanx von Großen in Kunst und Literatur mit, wie z. B. Henry Van de Velde. Auch niederländische Künstler beteiligten sich.

Piet Couttenier, ‘Literatuur en Vlaamse Beweging. Tot 1914 ...

"Van Nu en Straks" beschleunigte die Emanzipation des Niederländischen in Belgien, die über die Katastrophen des ersten und des zweiten Weltkrieges  hinweg, manchmal über verschlungene Pfade zur Gründung des heutigen belgischen zwei-, sogar dreisprachigen Federalstaates führen würde. (Eine Darstellung der Spachensituation findet man hier.)

In Brüssel, Berlin und Wien studierte Vermeylen Literatur und Kunstgeschichte. Er promovierte zweimal, einmal mit einer französischen, das andere Mal mit einer niederländischen Doktorarbeit über  Jonker Jan van der Noot, den führenden, Antwerpener Dichter der niederländischen Renaissance. Auf Grund dieser Arbeit wurde dem jungen Vermeylen einen Sondertitel als Doktor der Université libre verliehen.


                                                          Jan van der Noot - Wikipedia 

Jonker Jan van der Noot  1539-1595 

Es war nicht zuletzt dieser Stolz auf die kulturelle Leistungen der flämischen Vergangenheit, welche die Herabsetzung von Sprache und Kultur für flämische Intellektuelle schmerzhaft spürbar machte und zu erhöhten Anstrengungen im Bereich Sprache und Kultur gegen Ende des 19. Jahrhunderts führte.

Die Liste der kulturellen und politischen Aktivitäten Vermeylens ist erstaunlich. Er war Hochschullehrer für Kunstgeschichte, unterrichtete Geschichte der niederländischen Literatur, war einer der Gründer der Sektion für germanistische Philologie an der UlB, er wurde Mitglied der Gesellschaft für niederländische Literatur in Leiden (Niederlande), Leiter der königlich flämischen Akademie für Sprache und Literatur, errichtete den belgischen PEN-Club, war Mitglied des belgischen Oberhauses, unterrichtete Kunstgeschichte und Literatur an der Universität Gent und war 1930 - 1933 derer Rektor nach der Umwandlung der Universität von einer französischen in eine niederländische. 1932 wurde er Mitglied der niederländischen Akademie der Wissenschaften, Doctor Honoris Causa der Universität Amsterdam, Vize-Präsident des Oberhauses. Darüber hinaus schrieb Vermeylen Gedichte, Romane, Essays, Standardwerke zur Kunstgeschichte...und diese Übersicht ist kläglich unvollständig. 

Wegen seiner herausragenden Stellung im belgischen politischen und kulturellen Leben wurde Vermeylen 1940 durch die deutsche Besatzung jede öffentliche Betätigung untersagt. Nicht wegen seines Eintretens für die flämische Sprache und Kultur - das hätte dem Besatzer wohl ins Konzept gepasst, sondern wegen seiner internationalen Einstellung. Er wollte das Flämische als gleichwertiges Element einer europäischen Kultur betrachten, als Teil einer internationalen Gemeinschaft mit eigenem Gewicht.

Schon 1900, im Essay "Flämische und Europäische Bewegung" schrieb Vermeylen prophetisch:  "Damit wir überhaupt etwas sind, müssen wir Flamen sein. Wir wollen Flamen sein, um Europäer werden zu können". 

Januar 1945 starb Vermeylen an Herzversagen.




Montag, 29. Juni 2020

Han G. Hoekstra. Das niederländische Kinderbuch (für unartige Kinder)

Han G. Hoekstra-biografie | Joke Linders
Han G. Hoekstra
1906-1988

Hieronymus van Alphens Kindergedichte waren für artige Kinder der besseren Kreise geschrieben. Passende Lektüre und liebevolle Ermahnungen sollten die kindliche Entwicklung in die gewünschte Richtung lenken und die elterliche Autorität war die elterliche Autorität war die elterliche Autorität. Nach 170 Jahre voller Krisen und Kriege war davon nicht mehr viel übrig. 1947 schuf der Dichter-Journalist Han G. Hoekstra mit "Het verloren schaap" ("Das verlorene Schaf") eine Sammlung Kindergedichte, in dem zum ersten Mal in den Niederlanden nicht die artigen, sondern die unartigen Kinder im Mittelpunkt standen und die Unartigkeit gepriesen wurde. "Spielt mal mit den Schmuddelkindern" könnte man sagen. Hoekstras Gedicht für Erwachsene "Die Zeder" gehört übrigens zu den beliebtesten der niederländischen Literatur.
Während der Kriegszeit hatte Hoekstra sich geweigert in die sg. "Kulturkammer" einzutreten, in der die niederländischen Künstler gleichgeschaltet werden sollten. Er konnte also nicht mehr veröffentlichen und fing an für die eigenen Kinder Gedichte zu schreiben. Hoekstra gehörte zur Redaktion der ehemaligen Widerstandszeitung "het Parool", die eine wichtige rolle spielte in der Nachkriegsliteratur mit u.a. Simon Carmiggelt, Annie M. G. Schmidt und Zeichnern wie Fiep Westendorp
In 10 stappen succesvol illustrator worden
und
Wim Bijmoer.





De Kinderen uit de Rozenstraat
Die Kinder aus der Rosenstrasse.

Die Kinder aus der Rozenstraat,
die haben immer schwarze Knie,
sie haben meistens Löcher in den Ärmeln
und putzen sich die Zähne nie.

Die Kinder aus der Rozenstraat,
die haben immer Splitter in der Hand,
sie haben immer ungekämmte Haare,
und sind verbeult, verknubbelt und verschrammt.

Die Kinder aus der Rosenstrasse,
die gehen meist auf nackten Füßen,
und sie sind immer auf der Gasse,
als ob sie nie zum Essen müssen.

Die Kinder aus der Rozenstraat,
ich glaub, die müssen nie ins Bad,
sie dürfen alles, was ich nicht darf.
Ich möcht mal wohnen in der Rozenstraat...

Übersetzung Jaap Hoepelman, Juni 2020

De Kinderen uit de Rozenstraat


Überbevölkerung in der Rozenstraat.


De Rozenstraat (Rosenstrasse - sprich "z" wie deutsch "s") liegt im Jordaan-Viertel, heute ein angesagtes Viertel für Touristen, Feinkostgeschäfte und Künstler, vor 100-150 Jahren ein Viertel der extremsten Armut mit bis 90.000 Einwohnern, eine in sich zusammengefallene Brutstätte von Seuchen aller Art. Sein zu wollen wie die Barfußkinder aus der Rozenstraat war wirklich etwas anderes als sich freuen über einen Hut voller Pflaumen von Herrn Papa...
Unter diesen Umständen war eine nicht gerade brave und obrigkeitshörige Bevölkerungsschicht entstanden. Man hatte eine eigene Kultur und einen eigenen Dialekt. Die Leute kamen oft in Aufstand, das letzte Mal vor dem Krieg, 1934 ausgelöst durch die Weltwirtschaftskrise und von der Armee mal wieder niedergeschlagen. Manchmal muten die Gründe auf den ersten Blick skurril an, wie beim"Aalaufruhr" von 1886. Aus ethisch-ästhetischen Gründen hatte die Obrigkeit den Leuten das grausame Spiel des "Aalziehens" verboten. Diese wollten sich aber eine der wenigen Vergnügungen nicht verbieten lassen und auch dieses Mal  wurde der Aufstand durch die Armee unterdrückt. Es gab an die dreißig Tote.


Aalziehen
Der Aalaufruhr 1887


1947 waren durch Sanierungsarbeiten der Gemeinde die Wohnumstände in einigen anderen  Armenvierteln etwas verbessert worden, aber im Jordaan war man zu der Zeit noch nicht sehr weit gekommen. Hoekstras "Kinder aus der Rozenstraat" nagte also nicht einfach an der Autorität. Es zeigte in kindgerechter Sprache wohlerzogenen Kindern aus wohlanständigen Verhältnissen, dass Kinder aus ganz anderen Umständen sogar beneidenswert sein konnten. Eine doch sehr romantische Vorstellung:

Amsterdam liep behoorlijk achter in de 19e eeuw - YouTube
Der Jordaan: Eine einzige Bruchbude

Land van krotten en knechting - NEMO Kennislink
Keine hübsche Grachten sondern offene Kloaken








Ed Hoornik. Prophetisches im Alltäglichen.

Pogrom   1938 Pogrom                                                                                                             Ed Hoornik ...