Mittwoch, 16. September 2020

Van Schagens Kunst ohne Kunst.


        J. C. van Schagen 1891-1985

In einem früheren Blogpost konnte ich den Dichter und Graphiker J. C. van Schagen vorstellen, zu seiner Zeit ein Außenseiter der niederländischen Literatur. Obwohl ein Erfolg beim Leserpublikum, passten seine vordergründig kunstlosen Prosagedichte nicht zum Kanon des offiziellen Literaturbetriebs und er wurde mehr oder weniger beiseite gelassen. In der Nachkriegszeit schätzte man ihn höher ein, wie Buddinghs Kurzgedicht "Wie das Blatt sich wenden kann" zeigt:

Wie das Blatt sich wenden kann
um 1936
lasen wir alle
begeistert und voller Ehrfurcht
Marsman und Slauerhoff
jetzt, dreißig Jahre später,
dreißig Jahre weiser,
halte ich es lieber mit
Noordstar und van Schagen.

(C. Buddingh', Gedichten 1938-1970)

Übersetzung Jaap Hoepelman September 2020

Laut eigener Aussage suchte van Schagen die kunstvolle Form nicht, sondern nahm sie, wenn sie kam, wie sie kam, so wie er das Leben im Sinne Spinozas mit fröhlichem Gleichmut hinnahm. Wobei man, bei genauerem Hinschauen, die Gleichgültigkeit der kunstvollen Form gegenüber mit einem Körnchen Salz nehmen muss. Dazu sind seine Sätze rhythmisch zu raffiniert, seine Wortbedeutungen und der Aufbau der Gedichte zu kunstvoll.

Ich hatte schon lange vor, meine Übersetzungen einiger Gedichte von J. C. van Schagen mit dem Gedicht "Kentern" ab zu runden:


Kentern


Es ist gerufen worden, ich habe verstanden.
Ich war beim Spiel mit Schmuck und bunten Perlen;
Mein Tisch war voller Gold und Seide und glitzernden Steinen;
Mein Haus ein Raum der Kostbarkeit, selten, gewollt,
Warm wie im Orient, und viel war es und prächtig.
Im reichen Dunkel schienen schwere Leuchter. -
Doch jetzt ist gerufen worden, ich komme, und Freude ist und Licht.
Im Garten singt ein Vogel.
Ich gehe jetzt heraus und lasse alles zurück.

Es ist gerufen worden, ich habe verstanden.
Es war ein großes Konzert, tausend Herren mühten sich,
Schwarze Schwalbenschwänze, appretierte Westen, rote Köpfe, Bärte wallten in Ekstasen.
In Staffeln grollten Kontrabässe, es waren süße, kühle Flöten, kupferne Signale,
Blitze und Lanzen, Flaggen und Flammen und Schwärme schmeichelnder Geigen.
Es schwebte ein Schwarm von Düften und Locken von warmen Frauen, munteres Plappern und Weichheit von Haaren.
Es war reich und schön und so kunstvoll.-
Dann wurde leise gewarnt und ich bin aufgestanden.
Draußen stand hoch und ewig die Nacht.
Ich werde ihre Kälte jetzt trinken und versteinern.

Es ist gerufen worden, ich habe verstanden.
Ich war bei der Arbeit an den Aufgaben, ich hatte vieles angefangen.
Es war wohl berechnet, eingeteilt und überlegt.
Es war geordnet und geplant, in Schemen, Zeichnungen und Tabellen, in den Schränken abgelegt und in den Aktenmappen.
Das Material bereit, Fertigungsteile, Konstruktionen, halbfertig und neu angefangen, Programme lagen vor und Skizzen.
Produkte standen fertig aufgereiht.
Eine Agenda gab's für jeden Tag.
Immer wusste ich wie spät es war und was heute zu vollenden sei.
Ich ging methodisch vor, nach bewährtem Muster,
Die Zeit war eingeteilt und eine Klingel verkündete das Ende einer jeden Zeile.
Die Tage waren abgezählt, die Wochen aufgeschichtet und im Voraus vollgebucht,
So regierte ich das Jahr und stopfte es, wie eine Wurst.
Ja, ich war sehr beschäftigt, ich schuftete und schwitzte; vieles scheiterte
An der dumpfen Wirklichkeit, die ohne Regel ist und Form,
Ich musste krabbeln wie die Ameise mit dem Ästchen, sieben Mal den gleichen Klumpen hoch.
Doch mein Gewinn war groß und dick war das Buch der Besitztümer. -
Dann ist kurz geflüstert worden und ich bin gegangen,
Kühle Milde umweht nun meine Schläfe;
Ich liege jetzt entbunden in grenzenloser Ruhe.
Jetzt weiß ich es, ab jetzt gehöre ich einem Werk, das still ist und heimlich,
Das ist von den Bäumen, sich wiegend im Wind, das ist von der Sonne, glitzernd auf dem Fluss,
Das ist vom Regen, rauschend im Gras, das ist von den feuchten Augen der Tiere.
Ich werde jetzt für immer frei sein und alles verlieren.
Ich werde nur wandeln und zuschauen.
Um mich herum sind Zeit und Raum, wie um Gottselber.
Ja, ich werde jetzt wohl nichts mehr fertigstellen.

Aus: van Schagen Narren-Wijsheid 1925


Übersetzung Jaap Hoepelman September 2020



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