Freitag, 5. September 2025

Ed Hoornik. Prophetisches.



Pogrom 
1938

                                                                                       Ed Hoornik 1910-1970

Pogrom

Ist das der Mond, in seinem letzten Viertel
oder ein Gesicht, im Qualm- und Flammenrahmen?
Wo ist Berlin, und wo das Scheunenviertel?
- Flüchtete der Junge, als die Banden kamen?
-
Ist das sein Schatten, der am Ufer steht
ist dies das Wasser, das ihn langsam nahm,
ist dies die Grenadierstraße, von dem es hin zur Spree geht?
- Es ist der Amstelstrom, und dies ist Amsterdam.
-
Am Rembrandtsplein geht jetzt der Tag zu Ende,
über den Dächern beenden Lichtfontänen ihn...
- Ich press' die Nägel tiefer in die Hände.
-
De Jodenbreestraat führt zu einem Abgrund hin;
ich sehe meinen Schatten zucken an den Wänden...
- Zehn Stunden dauert nur die Bahnfahrt nach Berlin.
––

Ed. Hoornik (1910 – 1970)–
uit: Steenen (1939)
uitgever: A.A.M. Stols

Übersetzung Jaap Hoepelman September 2025


 

Freitag, 29. August 2025

Staring, Dichter und Herr der Wildenborch.

Anthony Christiaan Winand Staring (1767-1840) geportretteerd door P Velyn, uitgeven doorJohannes Immerzeel
Antoni Christiaan Wijnand Staring
1767-1840



"Viel Feind, viel Ehr". In 1672, dem "Katastrophenjahr", war es doch etwas viel der Ehre, als Frankreich und England die Republik gleichzeitig angriffen, unterstützt von den Bistümern Köln und Münster (unter "Bomben Behrend", dem Bischof von Galen).

Het verbranden van de Royal James tijdens de Slag bij Solebay', door Willem van de Velde
Willem van de Velde.
Die Seeschlacht bei Solebay.
Die "Royal James" wird gesprengt.

Die Republik besiegte zwar die kombinierten Flotten von England und Frankreich in der Seeschlacht von Solebay, aber den französische Feldzug, wie üblich mit endlosem Raub, Mord und Zerstörung verbunden, konnte man nur dadurch aufhalten, dass man große Teile des Landes unter Wasser setzte. Es war tatsächlich eine Katastrophe.
                                                  
         

Die "holländische Wasserlinie"

Prinz Willem III inspiziert die Wasserlinie


In der mehrheitlich Oraniergesinnten Bevölkerung gab man den republikanischen Brüdern Johan und Cornelis de Witt die Schuld. Die Wut wurde noch befeuert durch die Tatsache, das die Zinsen auf Leibrenten verringert worden waren, nachdem Johan de Witt (er war auch Mathematiker und als solcher Begründer der Versicherungsmathematik) berechnet hatte, dass sie zu hoch angesetzt waren. Aber gute Mathematik und taktischer Geschick sind zwei Paar Stiefel: Die de Witts wurden von einem rasenden Mob ermordet und geschunden. Einige Historiker vermuten aber auch ein Komplott in der Kette der Reibungspunkte zwischen den Parteien der Orangisten und der Regenten.
Das Land war zerrüttet. Das "Goldene Zeitalter" war vorbei und es fing eine lange Periode des Niedergangs an. Das einst stolze Welthandelszentrum Amsterdam sah in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Teilen so aus:


Aber wie ein Amsterdamer Philosoph schon sagte: Ieder nadeel hep ze voordeel - Jeder Nachteil hat seinen Vorteil. 30 Prozent der Bevölkerung zog weg aus den Städten und aufs Land. Dadurch verschob sich der wirtschaftliche Schwerpunkt der Niederlande. Durch die neuen Arbeitskräfte, neue Arbeitsmethoden und Techniken und durch Trockenlegungen wurde das Land vom Importeur von Nahrungsmitteln zum Exporteur. Auch ohne Tomaten konnte damit  gutes Geld verdient werden und man tut es immer noch.  Neben den nun mal nicht adligen Kaufleuten in den Städten des Westens spielten wieder andere Bevölkerungsschichten ihre Rolle. In Gelderland, also nach holländischem Verständnis janz janz weit weg vom Zentrum der Macht, war das mittelalterliche Raubritterschloss "Wildenborch" gelegen.
1768 wurde es von den Staaten von Gelderland dem Grafen van Limburg Stirum verkauft und später von Damiaan Hugo Staring, dem Vater unseres jetzigen Dichters, erworben.

Wildenborch - JungleKey.nl Afbeelding

Sohn Antoni Christiaan Staring war ein sehr vielseitiger Mann. Auf seinem Gut pflanzte er Wälder, betrieb eine Baumschule, legte Moorgebiete trocken und entwarf landwirtschaftliche Geräte. Auf seinen Ländereien errichtete er eine Schule für die Kinder seiner Landarbeiter. Seine Bibliothek in der Wildenborch, zum Teil noch erhalten,  umfasste Bücher über Poetik, Jura, Erziehung, Sprachwissenschaft, Naturwissenschaften und vieles mehr. Für die gewissenhafte Erfüllung seiner Pflichte als Gutsherr studierte er Jura in Harderwijk  und Botanik und Physik in Göttingen (1786-1789). Starings Liebe galt auch der Literatur. Er verfasste Poesie, Erzählungen und schrieb Lieder.
Mit dem damaligen, stagnierenden Literaturbetrieb der Niederlande hatte der landwirtschaftliche Provinzbaron wenig zu tun. Vielleicht war das auch gut so: Staring hatte schon in seiner Jugend die "Basia" (Kussgedichte) des Neo-Lateiners Janus Secundus kennengelernt, kam in Göttingen


       Janus Secundus
          1511 -1536

näher mit der deutschen Klassik und Romantik in Berührung und er wusste diese Elemente im hier übersetzten Gedicht "Gedenken" virtuos zu verbinden. Durch den Einfluss der gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstandenen Gesellschaften zur Spracherneuerung steht Starings Sprache der heutigen Sprache viel näher, als die seiner Vorgänger. So wird verständlich, dass "Gedenken" noch immer zu den beliebtesten Gedichte der Niederlande zählt, ja, sogar eines der schönsten Gedichte der niederländischen Sprache genannt wird.


Gedenken

Uns schützte tropfend Laub der Weiden,
Wo ich mit ihr geduckt am Weiher saß;
Die Schwalbe überflog die Weide
Und spielte um das silberne Gras;
Das Laub, vom Dufthauch leicht bewegt,
Erzitterte zart angeregt.

Es wurde still; das Tropfen hörte auf;
Kein Vogel mehr am Himmel flog;
Der Tau stieg an den Hügeln auf,
Wo sich das Abendrot verzog;
Der Mai sang seine Abendweise!
Wir hörten es und wurden leise.

Ich sah sie an und tief bewegt,
Schmolz Seel' mit Seel' in ein.
O Zauberbann, so sanft auf mich gelegt
Von dieser Augen Schein!
O dieses Mundes Atems Süße,
Flüsternd schlingend unsre ersten Küsse!

Uns deckte friedlich Laub der Weide;
Die Dämmerung zog auf;
Das Dunkel überzog die Weiden;
Wir standen zögernd auf.
Leb' lang in seligem Gedenken fort,
Geweihte Stund'! Geheil'gter Ort!

                           -

Die verschiedenen Fassungen tragen die Jahreszahlen 1786 bis 1837 

Übersetzung Jaap Hoepelman September 2019

Herdenking
J. P. Guépin "Starings 'Herdenking'".

Staring ist auch bekannt um seine Gedichterzählungen und humoristische Epigramme. An einem Epigramm versuche ich mich hier noch. Es wurde in der Schule häufig unterrichtet und es zeigt Starings virtuose Behandlung der Sprache:

Der Hundekampf

Rul Weitgereist, auf seinen Reisen,
Sah unglaublich viel! Zwei Bullenbeißer
Kämpften vor dem Weinhaus in der Polenstadt,
Wo er gerade Unterkunft bekommen hat.
"Solch'  Kämpfen, Leute! -- Sie verschlangen
Einander regelrecht! Mit jedem Biss ein Bein
Ab oder Ohr - und glatt wie Speck hinein!
Für's Trennen war's zu spät! Zu fangen
gab's die Reste: - bei meiner Ehr',
Die Schwänze, und nicht mehr."

Het hondengevecht.

Übersetzung J. Hoepelman September 2019



George Morland 
Fighting Dogs




Dienstag, 26. August 2025

Multatuli: "Max Havelaar", The book that killed Colonialism.



 Multatuli 
 (Eduard Douwes Dekker)
1820-1887



Ähnliches Foto
                                                                                                      Multatuli in Brüssel, 1859
                                                                                                 

 "Ich bin Makler in Kaffee und wohne auf der Lauriergracht No. 37."

Dies ist der Anfangssatz des ersten Kapitels des "Max Havelaar", ein Werk, das eine Schockwelle durch die niederländische Literatur und Politik sandte.

Die Sprache der Pfarrer-Dichter, auch wenn ironisch oder sarkastisch gebrochen, war meistens altmodisch und schwerfällig. Sie war weit entfernt von der Umgangssprache. Wie weit, wurde schlagartig klar mit der Erscheinung, 1859, des "Max Havelaar" von Multatuli (Pseudonym von Eduard Douwes Dekker, 1820-1887). Douwes Dekker fuhr 1838 nach niederländisch Indien und beendete 1856 seine Karriere als Assistent-Resident in Lebak in der Residenz Bantam. Assistent-Resident war eine ziemlich hervorgehobene Stellung, die es Douwes Dekker ermöglichte tiefe Einblicke in die Funktionsweise der Kolonialverwaltung - d.h. der Ausbeutung - zu gewinnen. Als seine Proteste gegen die Auspressung der Bevölkerung durch die örtlichen Eliten - denn praktischerweise hatte die Kolonialregierung die täglichen Geschäfte den örtlichen Aristokraten, den "Regenten" überlassen - beim Generalgouverneur nichts fruchteten, beantragte Douwes Dekker die Entlassung. Es folgte ein unstetes Dasein, das ihn u.a. nach Brüssel führte, wo er in nur wenigen Monaten, 1859, den "Max Havelaar" schuf. Der "Max Havelaar" ist nicht nur heftiger Protest, sondern in Form, Inhalt und Sprache ein neuartiger Roman, der nicht nur in den Niederlanden auf große Zustimmung stieß. Der Untertitel "of de koffij-veilingen der Nederlandsche Handel-Maatschappij" d.h. "oder die Kaffee-Auktionen der niederländische Handelsgesellschaft" macht klar, dass es Douwes Dekker ging um einen breit angelegten Angriff auf den niederländische Staat  - über ein Drittel des Staatshaushaltes bestand aus Kaffee-Einkünften aus Indien, eine Tatsache, die den damaligen Lesern wohlbekannt war. Die Veröffentlichung des bahnbrechenden Werkes wurde interessanterweise durch van Lennep, ein einflußreichreiches Mitglied der oberen Kreise und Schlüsselfigur der niederländischen literarischen Szene in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ermöglicht. Über van Lennep finden sie mehr in meinem Blog unter diesem Link.

Es gab auch in Deutschland eine Reihe Übersetzungen des "Max Havelaar", man findet den deutschen Text im Internet, z.B. hier:

Max Havelaar

Das Prosa-Gedicht, das ich hier übersetze ist Teil der Geschichte von "Saidjah und Adinda", ein Fragment, das im Übrigen die Spuren der Kolonialzeit auf die niederländische Sprache (wie im Übrigen auch auf Küche, Supermarkt oder Restaurant) illustriert.



Saidjah und Adinda

("Das Lied des Saidjah")



"Ich weiß nicht wo ich sterben werde.

Ich habe das mächtige Meer gesehen an der Südküste, als ich dort war mit dem Vater zum Salz machen.

Wenn ich sterbe auf dem Meer und mein Leichnam geworfen wird in das tiefe Wasser, werden Haie kommen.

Sie werden schwimmen um meine Leiche und fragen: „Wer von uns wird den Leichnam verschlingen, der da im Wasser herunter sinkt?“

Ich werde es nicht hören.

Ich weiß nicht wo ich sterben werde.

Ich sah das brennende Haus des Pa-Ansu, er selber zündete es an, mata-glap* wie er war.


Wenn ich sterbe in einem brennenden Haus, werden glühende Holzstücke auf meine Leiche fallen
Und draußen vor dem Haus werden die Leute Wasser werfen um das Feuer zu töten mit großem Geschrei.

Ich werde es nicht hören.

Ich weiß nicht wo ich sterben werde.

Ich sah wie der kleine Si-unah stürzte aus der Klappa-Palme**, als er eine Klappa-Nuss für seine Mutter pflückte.

Wenn ich stürze aus einer Klappa-Palme, werde ich tot daliegen am Fuße des Baumes im Gebüsch, wie Si-unah.

Meine Mutter wird nicht schreien, denn sie ist tot. Aber andere werden rufen: „Seht, da liegt Saidjah!“ mit lauter Stimme.
Ich werde es nicht hören.

Ich weiß nicht wo ich sterben werde.

Ich sah die Leiche des Pa-lisu, er starb in hohem Alter, denn seine Haare waren weiß.

Wenn ich in hohem Alter sterbe, mit weißen Haaren, werden die Klageweiber um die Leiche stehen
Und sie werden jammern, wie die Klageweiber beim Leichnam des Pa-lisu. Und auch die Enkelkinder werden weinen, sehr laut.

Ich werde es nicht hören.

Ich weiß nicht wo ich sterben werde.

Ich habe viele gesehen zu Badur, die gestorben waren. Man kleidete sie in ein weißes Kleid, und begrub sie in der Erde.

Wenn ich sterbe zu Badur, und man begräbt mich außerhalb der Dessa***, gen Osten am Hügel, wo das Gras hoch ist,

Dann wird Adinda dort vorbei gehen und der Saum ihres Sarongs**** wird leise am Gras entlang streifen...

Ich werde es hören.“


Multatuli, (Eduard Douwes Dekker) aus „Max Havelaar“, 1859.

Übersetzung Jaap Hoepelman, 2014


Auf Youtube wird der ursprüngliche Text gelesen und gezeigt:

Saidjah en Adinda

Für die ganz mutigen gibt es hier den vollständigen Text auf Niederländisch:


Max Havelaar, niederländisch.


Das "New York Times Magazine" nannte den Max Havelaar "The Book That Killed Colonialism" (ein netter Aufsatz, der es aber mit den statistischen Daten nicht übertrieben genau nimmt).

Andere Texte von Multatulti habe ich hier, hier, hierhier und hier übersetzt.

*      mata-glap: Maleisisch "Finsteres Auge" - wahnsinnig.
**    Klappa: Kokos 
***  Dessa: Dorfgemeinde
****Sarong: Wickelrock

Erklärungen von mir (JH). Dem niederländischen Publikum waren die Wörter geläufig.  

Sonntag, 24. August 2025

Jacobus Bellamy: Patriotismus und Empfindsamkeit.

 

Jacobus Bellamy 1757 - 1786

Jacobus Bellamy stammte aus Vlissingen, ein Städtchen gelegen an einer strategischen Stelle in der Flussmündung der Schelde, wo es den Zugang zum Hafen Antwerpens beherrscht (gegen Ende des 2. Weltkriegs machte diese Lage sich sehr bemerkbar). 


Vlissingen ist Heimat einiger bemerkenswerter Gestalten, darunter der Flotten-Admiral Michiel Adriaansz de Ruyter, der im 17. Jahrhundert eine entscheidende Rolle spielte,

  
Michiel Adriaansz de Ruyter 1607-1667

 aber literarisch interessanter ist das aufklärerische und patriotische  Schriftstellerinnenduo Betje Wolff und Aagje Deken (Deken stammte nicht aus Vlissingen), Autorinnen des ersten niederländischen Briefromans "Sara Burgerhart" (1782), in dessen Romantitel sich das neue Bürgertum und die neue Unabhängigkeit der Frau sich ankündigte. Als Patriotinnen mussten sie später eine Zeitlang in das revolutionäre Frankreich flüchten.

          Betje Wolff, Aagje Deken, (1738-1804 bzw. 1741-1804)

  
Denkmal für Wolff und Deken 
am Bellamypark in Vlissingen

Die Theater- und Kinderbuchautorin und Dichterin Annie M. G. Schmidt war in Vlissingen während
des zweiten Weltkriegs als Leiterin der Bibliothek tätig.

Annie M. G. Schmidt 1911-1995

Die Bibliothek, ebenfalls am Bellamypark in Vlissingen, 

Am gleichen Park finden wir das Geburtshaus des Jacobus Bellamy, jetzt ein Restaurant, mit Plakette für den Dichter. 

Zu Bellamys Zeit war der Park noch ein Hafen, hierunter eine Abbildung, nur um einen Eindruck zu geben, wie anders alles damals aussah.

Der alte Hafen in Vlissingen

 Wie der Bauer-Dichter Poot hatte Bellamy das unstillbare Verlangen zu dichten, trotz einfacher Herkunft und Bildung - um zum Familienunterhalt beizutragen, arbeitete er als Bäckersknecht. Seine Begabung fiel einem Vlissinger Prädikanten auf, der ihn für eine Ausbildung als Prädikant in Utrecht (einer notorischen Patriotenstadt) weiterempfahl und ihn auch ansonsten unterstützte. Anstatt eifrig Theologie zu studieren, widmete Bellamy sich aber Politik und Dichtung und stiftete mit Freunden eine "poetische Gesellschaft", mit deren Hilfe er hoffte, die niederländische Poesie auf eine höhere Ebene zu führen. Nach deutschem Vorbild strebte er dabei eine natürlich fließende Sprache an, im Gegensatz zu der schwerfälligen Dichtung des Barocks. Seine Form war der reimlose, anakreontische Vers. Der anakreontische Vers (ursprünglich im kurz-lang Metrum "UU _ U _ U _ _") war eine typische Rokoko-Form, in der man elegant über persönliche, "leichte" Themen, wie Liebe, Wein, Genuss usw. dichtete. Es ist charakteristisch für den Zeitenwandel, dass der ehemalige Bäckersknecht damit großen Erfolg hatte. Vier Gedichtbände erschienen, die beim Publikum großen Anklang fanden, insbesondere das Gedicht "Roosje" für die lange Zeit unerreichbare Geliebte Fransje Baanen.

Hier dann ein Gedicht passend zum Thema:

Jacobus Bellamy


Die Liebe

Wann ist es, dass die Liebe
Sich zeigt am allerschönsten?
In keuchendem Verlangen?
Nach reichlichem Genießen? -
Wir kosten den Genuss schon
Umarmt von den Gedanken,
Als wir nurmehr verlangen.
Doch nach ausgiebigem Genießen,
Wenn, durch alle Freuden,
Die Saiten der Gedanken
Vollends sind überspannt,
Dann herrscht in unsrer Seele
Trübselige Verwirrung.
Dann bringt der traurige Gedanke:
Wir haben schon genossen!
Der Seele eine Lähmung.
Doch bringt ein Blick der Hoffnung
Neues Leben dem Verlangen,
Dann lebt die Seele und erschafft,
Aus nichts als Hirngespinsten,
Wohl tausend freudige Gedanken.


Übers. Jaap Hoepelman Mai 2024

Aus: Gezangen mijner Jeugd (1782)

Bellamy beschäftigte sich nicht nur mit der Dichtkunst. Etwas in der Vlissinger Atmosphäre scheint zu Aufständischem und Respektlosem anzustacheln. Vielleicht ist es eine gewisse Kleinkariertheit, über die Betje Wolff sich schon heftig beschwerte (wie über die Verwicklung ihrer Vaterstadt im Sklavenhandel). Die patriotische, d.h. anti-orangistische Politik war somit das andere Thema, das Bellamy in der immer unruhigeren Zeit beschäftigte.

Im Europäischen Rahmen sind die Niederlande ein ziemliches Kuriosum. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts waren die Niederlande Teil des Reichs der spanischen Habsburger. Seit den 1560er Jahren entwickelte sich eine aufständische Bewegung gegen die Habsburger, nicht zuletzt aus religiösen Gründen.  1581 verabschiedeten die Generalstaaten der Niederlande eine Unabhängigkeitserklärung, in der sie sich vom spanischen König, Philipp II, aus dem einfachen Grund lossagten, dass dieser ein Tyrann sei, der die Rechte seiner Untertanen gröblich missachtete (ich vereinfache in unzulässigster Weise). Es war keine geringe Sache. Die Niederlande waren schon im Mittelalter ein wirtschaftlicher Schwerpunkt Europas gewesen und waren es im Habsburger Reich nicht weniger. Philipps Vater, Kaiser Karl V, war sogar in Gent geboren und sprach Niederländisch. Zwar, wie man sagte, nur mit seinem Pferd, aber immerhin. Da ein Staat ohne Fürst unvorstellbar war, trugen die Generalstaaten einer Reihe von Herrschern verzweifelt die Fürstenwürde an. Alle lehnten ab (nur nicht der englische Graf Dudley, der sich durch seine Arroganz selber abschoss). Warum sich Ärger mit Spanien einhandeln, dem mächtigsten Staat Europas, nur wegen eines Küstenstreifens mit einem Haufen aufständischer Bettler? Willem von Oranien, Anführer der Aufständischen, wäre die natürliche Wahl gewesen, aber dieser war 1584 gerade eben ermordet worden. Bereits1572 war Willem von den Generalstaaten zum Statthalter (d. h. zum führenden Beamten mit den Aufgaben eines Fürsten) ernannt worden, so dass jetzt zuerst sein Sohn Maurits, dann dessen Halbbruder Frederik Hendrik den Platz eines Statthaltern einnehmen konnten. In 1588 ernannten die Generalstaaten sich selbst zum Souverän der Niederlande, welche dadurch de facto zu einer Republik mit einem verbeamteten Ersatzkönig wurden. Es war eine einmalige Konstruktion, die zwangsläufig zu Spannungen zwischen den Orangisten und den Republikanern führte. Aber die Oranier hatten sich eine relativ feste Position erschaffen, eine Stellung, die im Auf und Ab von Dynastie und Republik erhalten blieb. In Teilgebieten der Niederlande wurde die Statthalterschaft sogar erblich, in 1747 im ganzen nördlichen Gebiet. Aber die Zeit reichte nicht mehr: Nur noch zwei der Oranier, Willem IV und Willem V, konnten sich über den Titel "Erbstatthalter" der ganzen Niederlande freuen. Nach dem Katastrophenjahr 1682 wurde die Position der Republik unaufhaltsam schwächer. Die vernachlässigte Flotte war nur noch ein Schatten ihrer Selbst. In totaler Verkennung der Lage unterstützte die Republik die amerikanische Revolution durch Waffenlieferungen über die Karibikinsel St. Eustatius gegen den Konkurrenten Großbritannien. Wie zu erwarten, nahm die Konkurrenz das nicht hin. In 1780 ging der Vierte Englische Seekrieg katastrophal verloren. Durch die Ideale der amerikanischen Revolution und der Aufklärung, sowie die allgemeine Unzufriedenheit über die Lage der Republik wurde der Ruf nach mehr Freiheit immer lauter. Die Patrioten führten eine heftige Pressekampagne mit zahlreichen Pamphleten, in denen es hieß, dass  die Freiheit vom Statthalter und seiner Kamarilla unterdrückt wurde - womit wir wieder bei Willem V wären. Willem war als Statthalter völlig ungeeignet. Weil er seinem Vater als Dreijähriger nachgefolgt war, wurden die Staatsgeschäfte von Ludwig-Ernst von Brunswick-Wolfenbüttel wahrgenommen, dessen Nichte, die preußische Prinzessin Friederike Wilhelmine, später Willems Gemahlin wurde. Ludwig-Ernst fand Gefallen an den Staatsgeschäften und er ließ sich die Weiterführung seiner Vogtschaft zusichern, auch nach Willems Erreichen der Volljährigkeit. Als der Geheimvertrag in 1785 bekannt wurde, brach ein Aufstand aus. Willems Position in den Haag war nicht mehr zu halten und er flüchtete mit seiner Gefolgschaft in die immer noch orangistische Provinz Gelderland, zuletzt nach Nimwegen, mit leichten Fluchtmöglichkeiten nach Deutschland. Das also war mit dem "Geldernschen Schwein" des unten gezeigten unflätigen Pamphlets unseres Dichters gemeint. Ob Willem V wirklich so böse war, wie unser von patriotischem Eifer beseelter Pamphletist schreibt, kann angezweifelt werden. Man würde ihn eher als hilflosen Volltrottel beschreiben. Habgier allein unterschied ihn mit Sicherheit nicht von der Masse seiner Standesgenossen. "Ich wünschte mir, dass ich tot wäre, dass mein Vater nie Statthalter geworden wäre. Ich bin dazu unfähig. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht" schrieb er. Man könnte ihn fast bemitleiden.

Bellamy veröffentlichte seine Pamphlete in der patriotischen Zeitung "De Post van den Neder-Rhijn".




Seine Beschreibung des Statthalters ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig:



Seine Hoheit als "Geldernsches-Schwein"? Ziemlich keck, für einen Bäckersknecht! Die Zeitung, in der 1782 das Pamphlet erschien, wurde sogar für eine begrenzte Dauer verboten.

Ich versuche die Schmähschrift zu übersetzen, ohne mich auf Poetik zu kaprizieren, was in diesem Fall nicht schwerfällt:

Einem Verräter des Vaterlandes

Es war Nacht, als Deine Mutter kreißte
Die Nacht, die schwarz war wie noch nie.
Reigen Höllengeister kreisten,
Die Welt der Vögel dreimal schrie,
Im Spukwald konnte man es hören.
Die Meereswellen rasten, kochten,
Dass bis in den Himmelschören
Sogar die Engelsherzen zitternd pochten!
Dich sah die Mutter - und das Leben
Floh aus dem bedrückten Herz!
Dein Vater stand, fing an zu beben,
Dann sank er hin, gefällt vom Schmerz,
Dann, wie Donner, eine Stimme hallte,
Hallte in dem Haus, das dich empfing:
"Dass fern von diesem Kind sich jeder halte,
"Die Natur gebar ein Teufelsding!
"Sie gebar zur Strafe der Nation,
"Als Anzeichen des Himmels Grimm!
"Der Geister übelster Patron
"Sei auf der Erd' zum Schütze ihm!
"Er wird das Vaterland verraten!
"Der Freiheit treten auf die Brust!
"Kein Gold in Massen wird ihn je behagen,
"Denn unersättlich ist sein Durst!
"Es dürstet ihn nach Gold und Seide,
"Er wird der Fürsten liederlichster Knecht!
"Sieht er der Unschuld Blut und Leiden
"So  ist's ihm Freud', so ist's ihm recht!
"Falschheit ist das Wesen seiner Seele,
"Der Betrug bewohnt sein Sabberloch!
"Keine Furcht kennt seine Höllenseele;
"Immer denkend; "Ätsch! mich gibt es noch!"....
"Vergebens ist's sein Tun zu unterbrechen!
"Vergebens wäre hier Gewalt!
"Geboren wurde er zum Vaterlandsverbrecher,
"Zum Fluch des Volkes die Gestalt!"

Verräter, Monster! Fluch der Erde!
Du, Geschöpf, beleidigst die Natur!
Gottes Fluch, der Dich noch nicht verheerte
Wird Dich verbrennen, warte nur!

Übersetzung Jaap Hoepelman, Juni 2024

Bellamy war in verschiedener Hinsicht ein literarischer Erneuer. Er versuchte nicht nur eine neue Dichtung zu entwickeln, sondern gab auch eine Zeitschrift "De poetische Spectator" heraus, in der neue Formen der Literaturkritik betrieben wurden.
Daneben war er ein wahrer politischer Aktivist. Seine patriotischen Gedichte in den "Vaderlandsche gezangen" (1782/1783) unter dem Pseudonym "Zelandus" machten ihn in den Niederlanden überaus beliebt. Jedoch er starb, vollkommen unerwartet, am 11 März 1786. Seine Fransje, die er nun doch bekommen hatte, kam eine Weile in der Gartenklause der Damen Wolff und Deken unter.
1787 konnte Willem V wieder nach Den Haag zurückkehren, aus Nimwegen heraus gehauen durch die preußische Armee. Er hielt sich in Den Haag, bis 1795 die französischen Revolutionsgarden in die Niederlande einzogen, gefolgt von den nach dem preußischen Überfall nach Frankreich geflohenen Patrioten. Willem V zog zu den deutschen Verwandten nach England und beendete sein marginales Dasein in 1806 in Braunschweig.

Man kann schön darüber spekulieren, wie die die Republik und ihre Dichtkunst sich entwickelt hätten, wäre Bellamy mit 27 nicht so frühzeitig verstorben.












Samstag, 16. August 2025

Jacob van Lennep. An ein Röslein.

 


In Amsterdam hat vor kurzem ein Wandgemälde einigen Staub aufgewirbelt. Zu sehen sind an einer Häuserwand eine teilweise verpixelte nackte Schöne, einen Bewunderer, der vor lauter intensiver Betrachtung das Gleichgewicht verliert und ein nur teilweise abgebildetes Gedicht, das aber soviel mitteilt, dass der Leser ohne viel Mühe den Inhalt entschlüsseln kann. Verpixelt wurde ein Teil des Bildes als Kompromiss erst nachträglich vom Künstler, weil das Original Unmut in der Nachbarschaft verursacht hatte und zuvor mit  Farbbomben und politischen Bannern verunstaltet worden war. Paradoxerweise zieht die Verpixelung die Blicke eher auf sich, als das unverpixelte Original.  Der Dichter war der "rijksadvocaat" (eine Art Fiskalanwalt für den Staat) und späterer Staatsanwalt Jacob van Lennep.*  Das Gedicht schmückt passenderweise eine Wand an einem nach ihm benannten Kai, der "Jacob van Lennep Kade".


Jacob van Lennep 1802-1868

Der "Jacob van Lennep Kade" ist nicht ein Kai an einer der ikonischen Amsterdamer Grachten. Mehr standesgemäß wohnte Staatsanwalt van Lennep an der Keizersgracht 560:


Das Haus steht noch heute und wird von einem Giebelstein geschmückt: 


Die van Lenneps gehörten zum Amsterdamer Patriziat. Um einen Eindruck zu geben:  Sie hatten zB. Verbindungen zu den Familien Trip und Six.



                    Jacob Trip
              Rembrandt van Rijn
                                                                                                                           Jan Six
                                                                                                                      Rembrandt van Rijn

Nicht ganz überraschend war Jacob van Lennep politisch konservativ, aber mit der nonchalanten Liberalität, die bei entsprechender gesellschaftlicher Stellung und ebensolchem Vermögen manchmal vorgefunden wird. So wird berichtet, dass er sich um passende Kleidung nicht besonders kümmerte oder auch mal in einer Art Kaftan herumspazierte. Er war unglaublich produktiv, verfasste historische Romane, wie sie in dieser Epoche durch Walter Scott in Mode waren, Gedichte, Übersetzungen, Schauspiele, schrieb historische Abhandlungen, sammelte und beschrieb völkerkundliche Materialien, war sprachwissenschaftlich tätig, war Mitglied des Parlaments, der Veterinärkommission, beschäftigte sich mit der Landesgesundheit, usw. usw...Eines seiner Projekte war die Organisation der Amsterdamer Trinkwasserleitung,  ein Vorhaben  von höchster Dringlichkeit: Choleraepidemien gab es im Amsterdam des 19. Jahrhunderts erschreckend häufig. Sie entstanden in Umgebungen wie dieser:


Van Lenneps liberale Einstellung zeigte sich auch in seiner Hilfsbereitschaft für weniger vom Schicksal begünstigte Kollegen, z.B. Multatuli, dem er die Veröffentlichung des staatskritischen Romans "Max Havelaar" ermöglichte - (es gäbe darüber mehr zu erzählen; zuviel für den Moment), oder Gerrit van der Linde, der ein kümmerliches Dasein als Schulmeister in London fristete, der aber in seiner Korrespondenz eine erstaunliche Unbekümmertheit an den Tag legt. Vielleicht, weil van Lennep in van der Linde eine verwandte Seele entdeckt hatte. Van Lennep, man kann es nicht anders sagen, war so etwas wie ein mit zahlreichen Kindern gesegneter "schuinsmarcheerder", ein Lebemann. Das war allgemein bekannt, es hat ihn wahrscheinlich die Ernennung zum Geschichtsprofessor gekostet. Van der Linde jedoch hatte es, nach einer Affäre im akademischen Milieu, Hals über Kopf nach London verschlagen. Aus van der Lindes Bettelbriefe geht hervor, dass er seine alte Angewohnheiten nicht ganz verlassen hatte, worüber er mit der Staatsanwaltschaft ganz auf Augenhöhe verkehrte. Hier wiederhole ich die erste Zeile eines Reims in einem Schreiben an van Lennep:

Wenn manchmal die bösen Fleischeslüste dich tun plagen...

Van Lennep's Leben scheint durch seinen Lebensstil weniger durcheinander gebracht worden zu sein: Quod licet Iovi.... Auf alle Fälle konnte er sein unmissverständliches "An ein Röslein" unbeschwert im Kreise seiner Kollegen-Patrizier im Herrenverein "Saterdagsch Gezelschap"** vortragen: 

An ein Röslein***

Sanftgefärbte Frühlingsblüte,
Was du wohl auf Selindes Busen tust,****
Dass du kuschlig auf den Brüsten
Wie zwischen daunen Pfühlen ruhst!
Artig's Röschen, frisch entfaltet,
Wär' dein selig's Schicksal meins,
Läg' auch ich sanft festgehalten
Wo das Halssatin sich spreitzt,
Ich läge nicht, wie Du, bewusstlos
Das Köpfchen abgeknickt beiseits;
Nein, die Neugier schaute ruh'los
Auf die Landschaft nahebei.
Angespornt von heißen Lüsten
Auf die Brüste, weiß und weich,
Drückt' ich tausend, tausend Küsse
Auf Schultern, Hals und Nacken gleich.
Ich würd' zusammen auch vergleichen
Beide Kugeln, weiß und rund:
Welcher ich den Lorbeer reiche
Woraus bestünde der Befund?
Wo die Venen blauer schienen,
Wo das Weiß am weißten war,
Welcher die größte Federkraft verliehen,
Welche der Beere röter war.
Dann versucht' ich nach zu spüren,
Wohin die hohle Gasse leitet,
Wohin die Furche mich will führen,
Die ein Rund vom anderen scheidet,
Die stillschweigend mir bedeutet,
Dass die Gass' nach unten führt,
Dort, wo warten ungeahnte Freuden,
Von keinem Sterblichen berührt.
Ich nähm die Gasse, lustgetrieben wie ich war,
Bis ich den Schatz in Augenschein genommen
Und sich auftat, was geheim geblieben war,
Bis ich in Cypris' Rosenhof war angekommen.*****

Übersetzung Jaap Hoepelman August 2025


* Jacob van Lennep war eine bunte Gestalt in einem Jahrhundert, das an sich viel bunter war, als es in den Niederlanden im allgemeinen dargestellt wird. Marita Mathijsen hat ihm eine ausführliche Biographie gewidmet: "Een bezielde Schavuit. Jacob van Lennep". Auf Niederländisch natürlich - für die geneigte Leserschaft dieses Blogs kann das nur ein Anreiz sein.


*** Die Rose war ein gerne benutztes literarisches Motiv, das Lust, Zärtlichkeit, Kurzlebigkeit, Wohlriechendheit, Wehrhaftigkeit und Trauer in unterschiedlichen Kombinationen mit einander verband, wie, ziemlich drastisch, in Goethes "Heideröslein":

"Half ihm doch kein Weh und Ach, musstes eben leiden"

Goethe war wahrlich nicht der erste, der das Rosenmotiv benutzte. Um nur einige Beispiele zu nennen: wir sahen es um Jahrhunderte früher bei van der Noot und Ronsard, und auch als Emblem in einem Trostgedicht für ein früh verstorbenes Kind bei François de Malherbe

Et, rose, elle a vécu ce que vivent les roses,
L'espace d'un matin.


**** "Selinde" war eine in der Romantik gerne um ihre Schönheit besungene Frauengestalt. So lauten z.B. die ersten Zeilen des Gedichtes "Selinde" von Gellert  

Das schönste Kind zu ihren Zeiten 
Selinde, reich an Lieblichkeiten

Während Gellert die Tugendhaftigkeit Selindes besingt, bereimt Friedrich Schlegel in "An Selinde" eher die körperlichen Freuden:

Die süße Stunde werd ich nie vergessen,
als mich der liebe Leib so süß umschlungen,
auch Du von meinem Leben warst durchdrungen,
uns beid umschwebt ein seliges Vergessen!

Franz Schubert kommt in den ersten Zeilen des Liedes "Stimme der Liebe" (Text Graf zu Stolberg), ohne Umschweifen zur Sache:

Meine Selinde! Denn mit Engelsstimme
Singt die Liebe mir zu: sie wird Deine!

***** "Cypris" steht für Venus, die der Legende nach auf Zypern geboren wurde.







Samstag, 2. August 2025

Jeremias de Decker und der Hexenglaube

 



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Rembrandt, Porträt
des Jeremias de Decker 1609-1666

1782 wurde Anna Göldi in Glarus in der Schweiz als letzte Hexe in Europa verbrannt. Das war fast 100 Jahre nachdem in Amsterdam 1691 Balthazar Bekkers "Betoverde Wereld" erschienen war (1693 auf Deutsch als "Die Bezauberte Welt" veröffentlicht)

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Balthazar Bekker
1634 - 1698

Bekkers Fundamentalkritik wurde in ganz Europa eifrig  studiert. Sein Buch wurde ihm aber von der reformierten Kirche nicht in Dank abgenommen. Die Kirche setzte ihn als Prediger ab und schloss ihn vom Abendmahl aus. Der Oberbürgermeister von Amsterdam jedoch, der Mathematiker Johannes Hudde, bestimmte, dass Bekkers Gehalt weiterhin bezahlt wurde, was diesem ermöglichte zu überleben und zu arbeiten.
Noch einmal fast hundert Jahre früher, 1603, fand in der Provinz Holland die letzte Hexenverbrennung statt. Das Gedicht von Jeremias de Decker zeigt, dass Kritik am Hexenglauben sich wenig später allgemein verbreitet hatte. 
De Decker war Händler in Gewürzen und auch der Mennonit Abraham Palingh, zu dessen Traktat de Deckers Gedicht die Einleitung darstellte, war ein kleiner Kaufmann. 



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Palinghs "Maske der Zauberei abgerissen"

Kritik am Hexenglauben hatte es immer schon gegeben, sie kam aber von gelehrten Theologen und Doktores der Medizin. Das besondere an de Decker und Palingh war, dass sie nicht zur intellektuellen Elite gehörten, wobei de Decker sich durchaus zum geachteten und erfolgreichen Dichter entwickelt hatte. Beide waren eben Kaufleute in einer Republik von Kaufleuten, die mit der nüchternen Überprüfung von Rechnungen, Menge und Qualität von Gütern und der Zuverlässigkeit von Atlanten beschäftigt waren - nicht mit Hexengeschichten. Dazu kam, dass die Wissenschaft sich inzwischen sprunghaft entwickelt hatte. Es war die Zeit, dass man anfing, genau wahrzunehmen. Nicht länger nahm man fantastische Geschichten begeistert oder verängstigt hin, sondern man traute sich, einfach hinzuschauen, auch wenn es um Dinge ging, die eng mit Aberglauben und Ängsten verbunden waren. Zu Deckers Zeiten entdeckte Leeuwenhoek mit seinem Mikroskop Samenzellen, Bakterien im Mundschleim und vieles andere mehr, ohne Scheu vor den magischen Eigenschaften der Flüssigkeiten. Auch Leeuwenhoek war "nur" ein Kaufmann, und er entschuldigte sich in Briefen an die Royal Society ausführlich dafür, dass er nur Niederländisch konnte und kein Latein. Die Lage erinnert ein wenig an die Gründung der HBS in 1863.                                     
Der Arzt Swammerdam analysierte mit Hilfe des Mikroskops die Anatomie der bis dahin als wenig interessant betrachteten Insekten, entdeckte die roten Blutkörperchen, Ovarialfollikel, Kontraktion des Froschmuskels usw., usw.,


Bildergebnis für swammerdam



während Huygens, der kühle Physiker, die Ringe des Saturns, des Planeten der Alchimisten und Magier, beobachtete und den Mond Titan entdeckte, womöglich mit von Spinoza geschliffenen Linsen. Auch entwickelte er die Pendeluhr, unerlässlich für die genaue Wahrnehmung in naturwissenschaftliche Experimente und für genaue Positionsbestimmungen auf See.

      Bildergebnis für huygens pendeluhr

Hudde war kein unbedeutender Mathematiker. Er korrespondierte u.a. mit Leibniz, Newton, Bernoulli, Huygens und Spinoza. Er half seinem ehemaligen Kommilitonen Johan de Witt, dem "Raadspensionaris" (Premier) der Niederlande, mithilfe von Logarithmentafeln neuartige Tabellen für die Lebensversicherung zu entwickeln. Auch bestimmte er Methoden, die optimale Zuladung der VOC-Schiffe zu berechnen. Es waren keine guten Zeiten für den Hexenglauben: Aus einer breiten Schicht der Bevölkerung gingen Appelle an die Vernunft hervor, wie in diesem Gedicht aus 1659, 11 Jahre vor der Erscheinung von Spinozas Tractatus Theologico-Politicus und lange bevor die Aufklärung sich in gelehrten Kreisen verbreitet hatte.
Die Geschichte von Balthazar Bekker und der reformierten Kirche zeigt aber, dass noch ein langer Weg zu gehen war, auch in Holland.



Auf Abraham Palinghs
"Die Maske der Hexerei abgerissen"


Warum verliert die Zauberei
Diese verfluchte Raserei
An den Orten ihre Macht,
Wo der Glauben hingebracht,
Und nicht Menschenfirlefanz
Will verdunkeln seinen Glanz,
Zwingt Vernunft und Schrift zu schweigen
Und zu tanzen nach Roms Reigen?
Weil der Deibel flieht die Klarheit
Der neu hergestellten Wahrheit,
Und den blendendhellen Tag
Sein Auge nicht ertragen mag?
Oder ist es, weil am Tiber
Man mit Aberglaubenfieber
Geschäfte macht und dreist
Träufelt in den schlichten Geist
Einfacher Laien ohne Schrift
Ständig ein das Zaubergift,
Damit die Traum- und Lügenlehre
Man beständig hält in Ehren?
Ja, das ist es, das der Grund,
Dass in Rom zu jeder Stund'
Man ständig mit Papisten eifert,
Ständig gegen Hexen geifert,
Foltert, mordet außer Rand und Band!
Wenn doch nur Richter mit Verstand
Sich ernsthaft würden überlegen:
Nichts davon kann man belegen!
Und anstatt von Pfaffenthemen
Die Vernuft als Richtschnur nehmen;
Und nicht länger rasend schänden
Ihr Gewissen, dabei die Hände
Tunkend, blind, in wilder Wut,
In Strömen von unschuld'gem Blut!
Ihr schrägen Richter am Gericht,
Glaubt Ihr denn die Wahngeschicht',
Die Märe, dass ein armes Weib
Mit weichem Herz und schwachem Leib,
Ängstlich Schrecken meidend, Grauen,
Sich wohl tollkühn würde trauen
Sich mit dem Teufel einzulassen,
Erlauben ihm sie anzufassen
Und sie wäre dann im Stande
(Welch' verleumderische Schande!
Wie sie gottloser nicht sein kann!)
Zu bewirken, was nur Gott kann?
Wem, ja wem um alles in der Welt
Solcher Kinderkram gefällt?
Doch warum weilt Ihr noch hier?
Sucht Bescheid bei Johan Wier,
Oder Scots gelehrte Bände
Nehmt einmal in eure Hände,
Nicht Spinäus, nicht Bodin:
Wendet euch zum Palingh hin,
Der der faulen Zaubergeschicht'
Die Maske reißt vom Angesicht;
Den ganzen Irrsinn zerrt ins Licht;
Der mit dem Aberglauben bricht,
Der im Gekrös' von Opfertieren,
Im Vogelflug und Tirilieren,
Und in den Linien der Hand
Nie ein Quentchen Wahrheit fand;
Der hirnverbrannte Ceromanten,
Hydromanten, Geomanten,
Das ganze Wünschelrutenpack
Steckt in den großen Lügensack.
Der Amuletten, Salben, Zauberbrei
Entlarvt als Mumpitz, Augenwischerei,
Und die Magier der Ahnen,
Dardanos, Zalmolxis, zeigt als Scharlatane.
Du Zauberrichter, wenn Du dieses liest,
Dein Tun Dich trotzdem nicht verdrießt,
Du Dich noch immer nicht bekehrst,
Stur Deinen Stiefel weiter fährst,
Willst immer noch den Deibel fangen
Mit Feuer und mit Folterzangen,
Dann sei Dir sicher und gewiss,
Dass der Fürst der Finsternis,
Der Dich spornt mit scharfen Sporen,
Dich fester hat bei Hals und Ohren,
Hockend tief in Deinen Eingeweiden,
Als diejenigen, die Deinen Feuertod erleiden.

J. de Decker.
1659


Übersetzung Jaap Hoepelman August 2019.


Ceromantie - Wahrsagerei mittels Würfeln.
Hydromantie- Wahrsagerei aus der Bewegung von Wasseroberflächen.
Geomantie - Wahrsagerei aus Sandfiguren.
Zalmolxis wurde von den Thrakiern als Gottheit verehrt. Sein Ehrendienst
ging einher mit einer Prozedur, darin bestehend, dass ein Bote mit verschiedenen Bitten zu Zalmolxis (der sich im Verborgenen hielt) geschickt wurde. Dann wurde der Bote in dazu aufgestellte Speere geworfen. Starb er, war er ein guter Bote gewesen. Starb er nicht, war er ein schlechter Bote und musste deswegen sterben. Die Ähnlichkeit mit der Wasserprobe für Hexen ist offensichtlich und wird auch de Decker nicht entgangen sein.
Dardanos war der mythische Vater der Trojaner. Er soll sich in einen Magier
verwandelt haben. Unter dem Titel "Schwert des Dardanos" war eine Anleitung
zur Herstellung magischer Amulette bekannt.
Spiräus, Bodin: Zwei fanatische Hexenjäger.
Johannes Wier, Reginald Scot kämpften gegen den Hexenglauben bereits im 16. Jahrhundert.


Afgeruckt Momaensicht







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