Samstag, 13. Dezember 2025

So wie ich einmal liebte,




              Snikken en Grimlachjes            
              Piet Paaltjens (1835-1894)         

                                                                                         
Ich habe in diesem Blog verschiedene Gedichte von Piet Paaltjens (1835-1894) übersetzt, der sowieso einer meiner Lieblingsdichter aus dem 19. Jahrhundert ist. Als ich vor kurzem in Marita Mathijsens Blog die Beschreibung ihres Besuches an Paaltjens Grab in Schiedam 




las und wie sie auf dem Grabstein einige Rosen und eine Kopie der "Snikken en Grimlachjes", aufgeschlagen bei "Immortelle C" fand, dort hingelegt von einer Schulklasse, entschied ich mich, die alten Übersetzungen noch einmal vorne hin zu stellen und mich an eine Übersetzung der "Immortelle C" zu wagen, die sowieso eine wunderbare romantische Absage an die Romantik ist.
"Immortelle" ist der französische Ausdruck für Strohblume - schön, vertrocknet, nicht vergehend, aber längst vergangen. Die Buchstabe C ist die römische Zahl 100, aber es wird bezweifelt, ob Paaltjens je vorhatte 100 Immortellen, zu schreiben. Eher war es eine ironische Anspielung auf das endlose Weinen und Singen der Romantik in endlosen Gedichtreihen.  Es sind ja nur 11 erschienen im Gedichtband "Snikken en Grimlachjes" . "Snikken" kann man als "Schluchzer" (Mehrzahl) übersetzen. "Grimlachje" braucht etwas mehr Erklärung: Ein "Glimlach" ist ein Lächeln, ein "Glimlachje" ein kleines, verschmitztes Lächeln, "Grim" ist "grimmig". Paaltjens wortspielerische Wortschöpfung "Grimlachje" ist also ein kleines unfröhliches Lächeln und davon ist "Grimlachjes" die Mehrzahl.  Viel Bedeutung, verpackt in einem Port-Manteau, Futter für Übersetzer.


Immortelle  C.

 

So wie ich einmal liebte,

So liebte auf Erden noch niemand,

Nur, dass ich, wohin ich mich wandte,

Nur Herzen aus Eis und aus Stein fand.


Es erstarb mein Glauben an Freundschaft,

Weder Hoffnung noch Liebe bestand,

Und so, wie mein Herz dann hasste,

So hasste auf Erden noch niemand.


Manch düsteres, bitteres Lied

Den Weg aus der Brust in die Welt fand;

So düster und bitter ich sang,

So sang hier auf Erden noch niemand.


Bis ich dann das immerfort Hassen,

Das Singen und Weinen als öde empfand.

Ich schwieg und so wie ich jetzt schweige,

So schwieg hier auf Erden noch niemand.


(Übersetzung Jaap Hoepelman Dezember 2025)

Immortelle C

Wenn ich den Leichbitter sehe,



Wenn Realität und Melancholie auf einander treffen, entsteht sardonischer Humor. Der Pfarrer-Dichter, Piet Paaltjens (Pseudonym von François HaverSchmidt (1835 – 1894)) versteckte, man könnte auch sagen verstärkte seine Melancholie durch die Zusammenführung beider Bereiche, bis die Melancholie die Überhand gewann und er sich umbrachte. In der Romantik waren Tod, Selbstmord und gescheiterte Liebe ständig wiederholte Themen, auch in Paaltjens Studentenpoesie, versteckt hinter virtuosem Spott. Ob dazu beitrug, dass François einwohnte bei einem Leichbitter sei dahin gestellt:

Immortelle XCVI

    Als ik een bidder zie lopen,
    Dan slaat mij ’t hart zo blij,
    Dan denk ik, hoe hij weldra
    Uit bidden zal gaan voor mij. 


Aus Immortellen, 1850-1852.


Wenn ich den Leichbitter sehe,
Dann freut meine Seele sich
Dann denke ich, wie er demnächst
auch bitten wird für mich.


Übers. Jaap Hoepelman, Jan. 2018


Der Zusammenstoß zweier Welten kann katastrophal ausgehen und zu den Spaltprodukten gehört bissiger Spott mit den romantischen Klischees. Auf alle Fälle gehört "An Rika" zu den ersten niederländischen Gedichten, in denen der Zug eine Hauptrolle spielt. Für mich ist überraschend, dass schon in einem Gedicht aus 1850 die Rede ist von einem "Schnellzug", wobei die erste Bahnlinie in Holland erst gut zehn Jahre zuvor fertiggestellt worden war. Vergleichbare Verkehrsprojekte brauchen heute länger.


An Rika

Nur einmal hab ich Dich gesehen. Du warst
gesessen in einem Schnellzug, der den Zug
in dem ich saß, passierte in voller Fahrt.
Der Augenblick war wahrlich kurz genug.

Trotzdem, er dauerte so lang, dass ich
den langen Lebensweg mit mattem Lachen
nur verfolgen kann. Ach! Seit ich Dich
sah, kann nichts mir Freude machen.

Warum nur hast Du dieses blonde Haar,
das sonst den Engeln eigen ist? Und dann,
Warum die blauen Augen, wundertief und klar?
Du wusstest wohl, dass ich die nicht ertragen kann!

Und warum bist Du denn an mir vorbeigeflogen,
Und hast nicht, wie der Blitz, die Türe aufgerissen,
Und hast mich nicht an Deine Brust gezogen,
Und meinen Mund bedeckt mit Deinen heißen Küssen?

Du hattest Angst vielleicht um den Betriebsablauf?
Doch, Rika, könnt' ich höh're Seligkeit erreichen
Denn, unter höllischem Gestampfe und Geschnauf,
Mit Dir zerquetscht zwischen den Weichen?

Piet Paaltjens 1852


Rika

Übersetzung Jaap Hoepelman 2017

Piet Paaltjens und die Schrecken der Romantik

 


Der Selbstmord war ein beliebtes Thema in der Romantik, auch bei Paaltjens (1835-1894). Sogar der doppelte Selbstmord, besonders gerne in Verbindung mit verschmähter Liebe.
Auch im nächsten Gesang geht es um den Suizid. Aber wo ist die verschmähte Liebe? Wo ist die Geliebte und wer ist sie? Fragen über Fragen...

Der Selbstmörder

Es war dunkel im Wald
- Zudem Herbst und sehr kalt -
Und ein Herr irrt' umher ganz alleene.
Ach sein Blick war so so stumpf!
Seine Kleider zerlumpt!
Und er mahlte und knirschte die Zähne.

„Ha!“ so rief er erregt,
„Hab' 'ne Natter gehegt,
„Nein, schlimmer, an der Brust hier ein Untier!“
Und er schlug sich ans Paletot
Und in den Matsch trat er so,
Dass es spritzte ihm an den Hals schier.

Und jetzt suchte sein Blick
Einen Eichenast, dick
Genug um den Körper zu tragen.
Danach, mit Geschick,
Knüpfte er einen Strick
Und kein Schlick spritzte mehr bis zum Kragen.

Es ward still nun im Wald
Und noch zehnmal so kalt,
Denn der Winter kam näher und näher.
Und inzwischen am Ast
Ganz entspannt, ohne Hast,
Hing der Herr, zum Erstaunen der Häher.

Und der Winter ging hin
Denn der Frühling erschien
Daraufhin war der Sommer gekommen.
Zu der Zeit – es war warm –
Ging ein Paar Arm in Arm
Durch den Wald. Und ihm wurde der Atem genommen!

Als sie gingen, ganz zärtlich,
Dachte kosend das Paar sich,
Dass unter dem Baum wär' gut knutschen.
Und genau zu der Zeit
War ein Stiefel bereit
Vom gehangenen Schenkel zu rutschen.

„Ach du gütiger Himmel! Wo-
her kommt denn der Stiefel?“ so
Starrte das Pärchen empor.
Und es sah mit Entsetzen
Diesen Herrn; aus zerschlissenen Fetzen
Stach bleich ein Gerippe hervor.

Auf dem grinsenden Kopf
Stand der Hut wie ein Topf,
Denn es fehlte der Rand. Alles Linnen
War zerfressen und grau,
Durch ein Loch schau-
ten Käfer und Würmer und Spinnen.

Seine Uhr stand längst still,
Und ein Glas seiner Brill'
War zerbrochen, das and're beschlagen.
Und am Kamm seines Beckens
befand sich 'ne Schnecke,
Eine schleimige Schnecke, und nagte.

Doch die Lust sich zu lieben
war auf ein Mal vertrieben
Nicht ein Sterbenswort sprachen die beiden.
Und vor Schreck kreidebleich
Sah das Paar geistergleich
Aus wie Laken gebleicht auf der Weide.

Piet Paaltjens 1852

zelfmoordenaar

(Übers. Jaap Hoepelman April 2017)

Paaltjens, Sempre, die türkische Trommel und Probleme der Übersetzung.

Piet Paaltjens - Literatuurmuseum
Piet Paaltjens
(François Haverschmidt, auch HaverSchmidt
1835 - 1894)

Hör ich auf Sempre ein Waldhorn
Oder auch türkische Trommel -
Das kann mich zu Tränen bewegen
Und - ich weiß selbst nicht weswegen.

Fragt mich ein aktives Mitglied:
Was an der türkischen Trommel
Oder dem Waldhorn ist dir gelegen? -
Dann weiß ich selbst nicht weswegen

Ist's weil in besseren Tagen
Ein Freund die türkische Trommel
nicht ungeschickt konnte regen?
Ach - ich weiß selbst nicht weswegen.


Aus: Immortellen, 1850-1852.

Übersetzung Jaap Hoepelman
August 2019

Romantiek (1800-1900) – Leeskunst

Das kleine Gedicht ist eines meiner Lieblingsgedichte der Romantik. Die geheimnisvolle erste Zeile! Was bedeutet "Sempre"* ? Was hat das Waldhorn mit diesem unbekannten Wort zu tun? Wieso "auf Sempre"? Das Waldhorn ist ein schwieriges Instrument, das Geschick erfordert und romantische Gefühle hervorruft. Aber die türkische Trommel? Und wieso verschwindet das Waldhorn in der dritten Strophe und bleibt nur die türkische Trommel übrig?
Das Gedicht gibt also Rätsel auf, es ist ironisch, es übertreibt, es parodiert die gängigen tränenreichen Genres und es lässt Nicht-Zusammenpassendes unvermittelt auf einander stoßen. Es ist das Musterbeispiel eines romantischen traurigen Verses, der zur gleichen Zeit seine eigene Parodie ist. Man kann aber nicht sagen, dass der Dichter sich anstellte und nur posierte: Als die unbeschwerte (nun ja) Studentenzeit vorbei war und HaverSchmidt seinem Ruf als Pfarrer folgen musste, hat seine Trauer ihn nach und nach eingeholt und er hat sich umgebracht.

Ich hatte schon lange den Wunsch, mich an diesem in den Niederlanden berühmten Gedicht zu versuchen. Es war nicht einfach. Ich muss gestehen, dass ich als Übersetzer eigentlich gescheitert bin: Die niederländische Fassung enthält nur ein einziges, sich wiederholendes Reim in den Zeilen 2 und 4:

"... Turkse Trom"
-             ...
"...ik zelf niet waarom"

Es gelang mir einfach nicht, dazu die passenden deutschen Reime zu finden. Die "türkische Trommel" wollte sich nun mal nicht mit "warum" paaren, und widersetzte sich allen Kniffen. Deswegen habe ich den Reim auf die Zeilen 3 und 4 gelegt. Mit schlechtem Gewissen. Etwas ganz Wichtiges im Rhythmus und Klang habe ich nicht hinbekommen: " trom, waarom/trom, waarom/trom, waarom"....Darauf reimt sich "bom, bom, bom" (kurzes "o"), d.h. "bumm, bumm, bumm" - genau wie der dumpfe Klang der türkischen Trommel, vielleicht in einem Trauermarsch. Genau wie in einem Trauermarsch erfolgen die Schläge im gemessenen langsamen Rhythmus, d.h. mit einer Zeile dazwischen, nicht in zwei schnell aufeinander folgenden Reimen. Ein anderes Gedicht aus der gleichen Sammlung lässt die Vermutung zu, dass es sich hier tatsächlich um einen verstorbenen Freund handelt.
Mit meinen "e"-Reimen konnte ich diese Klangwirkung nicht erreichen. Schade, aber vielleicht bleibt trotzdem etwas übrig von der überempfindlichen Stimmung der Zeit. Tuberkulose, Cholera, Syphilis, Typhus...und Heines Buch der Lieder. Für Trauer und Melancholie gab es ausreichend Grund und Vorbilder.
Für einen besseren Eindruck bringe ich hier das niederländische Original. Schwer zu verstehen ist es ja nicht.

Piet Paaltjens

Hoor ik op Sempre een waldhoorn
Of ook wel een Turkse trom,
Dan moet ik zo bitter wenen;
En - ik weet zelf niet waarom.

Vraagt een der werkende leden:
'Hoe kan een Turkse trom
Of een waldhoorn u zo roeren? -
Dan weet ik zelf niet waarom.

Is 't wijl in beetre dagen
Een vriend de Turkse trom
Niet onverdienstlijk bespeelde?-
Ach, ik weet zelf niet waarom.

Aus: Immortellen, 1850-1852.

* "Sempre" steht für für "Sempre Crescendo",
die Musikgesellschaft der Studenten in der Universitätsstadt Leiden.

Sonntag, 23. November 2025

Ben Ali Libi

 

1936-2003

Am 3. November 2025 starb der Schauspieler, Kabarettist und Autor Joost Prinsen, der große Beliebtheit genoß durch seine prominente Rolle in einer langen Reihe von Fernseh- und Theaterprogrammen. Im Theaterprogramm "Uurtje Literatuurtje"* plauderte er mit dem Publikum über seine Begegnungen mit bekannten literarischen Persönlichkeiten, eine davon Willem Wilmink. Prinsens Vortrag von Wilminks Gedicht "Ben Ali Libi"** gehörte zu den beliebtesten seines Repertoirs und stand nach seinem Ableben erneut voll im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit. Willem Wilmink wurde bekannt durch eine breite Palette von literarischen Aktivitäten, darunter Kinderpoesie, Liedtexte und Übersetzungen. Seine Gedichte zeichnen sich durch eine scheinbar mühelose Eleganz aus, eine Verwandtschaft mit Dichtern die Thalia zugeneigt waren, wie Annie M.G. Schmidt, Han G. Hoekstra, Drs. P.  oder Kees Stip

Ben Ali Libi war der Künstlername eines wirklichen Zauberkünstlers, der es zu einiger Bekanntheit gebracht hatte - Michel Velleman. 


Ben Ali Libi

Von den im Krieg ermordeten Artisten

stand ein Name auf einer der Listen,

der für mich Grund zum Staunen war:

Ben Ali Libi, Zauberer.


Mit einem Lachen, einem Witz, einem Zauberkasten

und einem Alibi, die so gut zu ihm passten,

musst' er sich die Kost zusammenklauben:

Ben Ali Libi, der Zauberer,


Bis dann die Rassenplebejer fanden

es gäb' keinen Platz in den Niederlanden

für die Jüdisch-Bolschewistische Gefahr.

Womit, klar, gemeint der Zauberer war.


Eine Taube verstecken im Blumentopf -

er war ohne Versteck, als es bei ihm hat geklopft.

Der Überfallwagen da draußen war

für Ben Ali Libi, den Zauberer.


Im Konzentrationslager hat er vielleicht

seine lustigsten Tricks noch einmal gezeigt,

mit einem Lachen, einem Witz, Zauberstaub, 

Ben Ali Libi, der Zauberer.


Und jedesmal, wenn mir ein Krakeeler

die Alternative für Demokratie will empfehlen,

denk' ich: Wo, in deinem Paradies der Sauberen,

ist Platz für Ben Ali Libi, den Zauberer...


Ben Ali Libi,  der arme Schlemiel,

Er ruhe in Frieden, so Gott will.


   
                                                                                                                              Michel Velleman 1895-1943   
alias Ben Ali Libi                                  - 



Vertaling Jaap Hoepelman November 2025

*"Uurtje Literatuurtje"...hier schlägt das niederländische Diminutiv voll durch. "Stündchen Literatürchen" wenn Sie so wollen.
** "Ben" ist "bin" auf Niederländisch.

Aus: Verzamelde liedjes en gedichten (Prometheus, 2019)

Sonntag, 9. November 2025

Nijhoff als Übersetzer


Martinus Nijhoff 1894-1953

Der Dichter Martinus Nijhoff war auch ein großer Übersetzer.
Eine seiner Übersetzungen, das 250. Sonett aus Francesco Petrarcas Canzoniere, hat er im Gedichtepos Awater versteckt. Awaters Lied findet sich in dem Teil des Epos, das im "i-Modus" geschrieben ist: Jede Zeile endet auf eine i(e)-Klang. Ich habe versucht auch die deutsche Übersetzung im "i- modus" aus zu führen.

Gerelateerde afbeelding
Petrarca

Stets hat sie mich getröstet, stets hat sie, als ich schlief
mit ihrer Ankunft sich gesorgt um mich
die Angebetete; doch heute kommt sie und zerbricht
den letzten Halt, der im Verlust mir blieb.
Ich seh sie vor mir, wie sie kniet danieder
in tiefem Kummer, angstvermischt;
ich hör', wie sie vom Glauben spricht,
doch Freude oder Hoffnung bringt's nicht wieder:
"Erinnerst du dich an den letzten Abend, als ich dich verließ,
ersparen wollt' ich dir die Tränen im Gesicht
als ohne Abschied ich die Welt verstieß?
Ich konnte nicht, ich wollte nicht dir melden den Bericht,
dass du begreifen musst, wie unser Urteil hieß:
Zu sehen hier auf Erden mich je wieder - hoffe nicht.

(Übersetzung J. Hoepelman)


Sonnetto 250

Solea lontana in sonno consolarme
con quella dolce angelica sua vista
madonna; or mi spaventa et mi contrista,
ne di duol ne di tema posso aitarme;
che spesso nel suo volto veder parme
vera pieta con grave dolor mista,
et udir cose onde 'l cor fede acquista
che di gioia et di speme si disarme.
"Non ti soven di quella ultima sera
dice ella " ch'i' lasciai li occhi tuoi molli
et sforzata dal tempo me n'andai?
I' non tel potei dir, allor, ne volli;
or tel dico per cosa experta et vera:
non sperar di vedermi in terra mai".

Mittwoch, 8. Oktober 2025

Bernardo Ashetu. Ein Außenseiter aus Suriname wird allmählich entdeckt.

Über Bernardo Ashetu hatte ich schon in einem älteren Post berichtet. Als ich den alten Beitrag wieder besuchte, wurde mir noch einmal  bewusst, wie raffiniert und poetisch, wenn auch manchmal schwer verständlich seine Gedichte sind. Poetisch? Ja. Aber frag' lieber nicht genauer nach: Es gibt Poesie, die ist poetisch und es gibt Poesie, die ist es nicht. Ich entschied mich, noch einmal zu versuchen einige seiner Gedichte zu übersetzen und hier in den Blog zu stellen, mit darunter die Wiederholung des damaligen Posts.



Dass ich sang

Dass ich einmal
so klein wurde

dass ich in meinem Wesen
sang und glomm.

Als wär' ich Teil
von einem Gong.

So war es im
hinsterbenden Klang,
dass ich sang.


===
Saloneis

Ich bin Herr Saloneis
Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle?
Nun denn, ich bin Herr Saloneis,
Kinder fressen an meinem Herzen
Es macht mich so müde und ich
werde ausgelutscht. Großer Gott, ich werde ausgelutscht.

===

Warte lange

Zieh dich an
und warte bei der Brücke
Warte lange.
Warte bis der erste Stern aufsteigt.
Dieses Haus wird leer sein.
Rufe meinen Namen
und achte auf das Wasser.
Achte auf eine kleine
Regung im Schlamm entlang der
Gracht und warte bis das Licht
aller Sterne den Himmel hat schön
und berauschend gemacht.
Warte auf mich bei der Brücke.
Warte lange.


==
Tot

Wie ich dir sagte
von diesem Segelboot
wir bleiben nicht ewig jung,
ich fiel um
um 
und um
in Blättern erschreckend rot
Und wie ich dir sagte
von diesem Segelboot
sind die Matrosen bleich
sie sind bleich
sie sind tot.


==
Unkraut

Verhöhne mich nicht
heute
wo nichts stimmt
mit meiner Malkreide.
Die Töne sind
zu schwach der
schönen Klarinette.
Verhöhne mich nicht
heute
wo ich mit dem 
Spaten wühle im
Garten voller bitteren Unkrauts.


==
Schlangenholz

Was zwischen uns gewesen ist,
es ist nicht mehr, als ich 
erzählen kann. Es ist schlecht und es ist
nie gut gewesen, ein schlechtes Stück 
Schlangenholz, das schlecht passt zu
innigen Blumen. Doch bist du auch sanft
gewesen, sanft für mich wie ein früher
Morgen, in dem ich faul, mich streckend und
warm aufwache unter kühlen tropischen
 Pflanzen. Und du bist blutwarm gewesen,
obwohl du auch schlecht gewesen bist mit
einer stillen, spitzigen Genugtuung.


===
Letztes Wort

Dass ich dich liebe
steht außer Zweifel,
dass ich dich liebe
ist mein letztes Wort.
Ach, die weißen Flammen
und der nackte Brahma,
der wüste Tempel und 
der schlaffe Akkord,
kein nackter Buddha spielte
je Klavier, aber siehe die
Möwen draußen und höre mein
letztes Wort.


===
Nachrichten

Die neuesten Nachrichten:
Ein Kind
ist von einer Stange gefallen
krank danieder liegend
hat es Winter und Sommer
Sommer und Winter
zugehört das schrille Raunen
von Hexen und Faunen
von Faunen und Hexen.
Dann ist es
nach den allerneuesten Nachrichten
auf eine Stange geklettert
auf eine lange Stange geklettert
und hat es
eine Geschichte fantasiert,
die rot mit gelb und blau
aufsteigend tollt
tollend aufsteigt zur hohen Sonne.


===
Traurig

Traurig kann man sagen, spricht das Kind
Traurig kann man sagen, färbt der Stein gegen einen lila
Hintergrund.
Man kann sagen, dass der Hundekopf auf dem Bild so traurig
schaut.
Traurig klingt der Gesang, den wir hören Tag und Nacht.
Traurig ist das Land auf das ein reines Sonnenlicht fällt.
Und traurig, tief-traurig, kann man sagen, setzt die Dunkelheit
ein.


Übersetzungen Jaap Hoepelman Oktober 2025




Bernardo Ashetu
1929-1982


Bernardo Ashetu (Pseud. von Henk van Ommeren), geboren 1929 in Paramaribo (Suriname), war Sohn des Arztes und späteren Vorsitzenden der Surinamischen Nationalstaaten (Parlament) Hendrik van Ommeren und Juliette Nassy. Damit Vater Hendrik das Medizinstudium abschließen konnte, zog die Familie in die Niederlande, aber Mutter Juliette und Sohn Henk mussten vor den Nazis nach Paramaribo fliehen, während Vater Hendrik in den Niederlanden zurückblieb. Gegen den Willen seines Vaters, der größeres mit ihm vorhatte, wurde Ashetu Schiffsfunker. Nach dem Krieg fand der abgemusterte Funker eine Stelle bei Radio Holland, IJmuiden. Vater van Ommeren, ein sehr dominanter Mann, verachtete gleichermaßen den Funker und den Dichter Ashetu. Es wird vermutet, dass diese Verachtung der Grund war, dass Ashetu nach dem ersten Dichtband "Yanacuna" (1959) keine Zeile mehr veröffentlichte. Er blieb also beinahe völlig unbekannt.  "Yanacuna" erhielt sogar eine Einleitung von Cola Debrot, dem bekannten Schriftsteller und späteren Gouverneur der niederländischen Antillen, aber vergebens. In Ashetus Nachlass wurden nicht weniger als 29 unveröffentlichte Bände gefunden.
Die Verachtung seines Vaters und die Probleme einer buntgemischten Gesellschaft hatten wohl eine ungünstige Wirkung auf Ashetus labile Psyche und er musste sich in psychiatrische Behandlung begeben. Nach einem zurückgezogenen Leben starb er 1982 an Darmkrebs.
Erst in letzter Zeit wird Ashetus Gedichten mehr Aufmerksamkeit geschenkt. 2007 erschien eine Auswahl aus den Arbeiten "Dat ik zong" ("Dass ich sang"), ausgewählt durch Gerrit Komrij und 2011 eine ausführliche Anthologie durch Michiel van Kempen, Professor für niederländisch-karibische Literatur an der Uni Amsterdam, "Dat ik je liefheb" ("Dass ich dich liebe"). Van Kempens Nachwort "'Ik ben een neger" poezie als graf voor Surinaamse demonen"' habe ich im Übrigen viel Material für diesen Post entnommen.

Liebhaber der niederländischen Poesie denken unweigerlich an Slauerhoff, den anderen Seemann und Schiffsarzt (das wäre eher nach dem Geschmack von Vater van Ommeren gewesen), der auch auf Süd-Amerika fuhr. Slauerhoffs Gedicht "O Enjeitado" endet mit den Zeilen

Auch mich hat der Wahn überkommen;
Auch ich hab' entdeckt und genommen,
Der ich später alles verlor,
Um an des trägen Stromes Saum
Am Grab des grandiosen Traums
Zu sterben: “tudo é dor”.

Auch Ashetu besuchte Portugal. "Tudo é dor" und am Ufer des Tejo zu sterben waren Motive, die ihn ansprachen und von ihm benutzt wurden. "Enjeitado" bedeutet "Findelkind", und vielleicht fühlte der von seinem Vater verachtete Ashetu sich so. Auch der Titel des ersten Dichtbandes, ("Yanacuna", in Sranantongo, d.h. im Surinamischen: Yana - weit weg, Spanisch: Cuna - Wiege, in van Kempens Interpretation) könnte in diese Richtung weisen.
Es gibt andere Außenseiter, an die Ashetus Kunst mich erinnert, z.B. Lodeizen und Achterberg, beide Meister darin, mit Alltagswörtern rätselhafte Spannung hervorzurufen, oder van Schagen und Noordstar, die in ihren Gedichten auf "Poesie" verzichteten und dementsprechend erst viel später Anerkennung fanden. Buddingh's Glosse:

Wie das Blatt sich wenden kann

um 1936
lasen wir alle
begeistert und voller Ehrfurcht
Marsman und Slauerhoff
jetzt, dreißig Jahre später,
dreißig Jahre weiser,
halte ich es lieber mit
Noordstar und van Schagen.

(C. Buddingh', Gedichten 1938-1970)

Übersetzung Jaap Hoepelman, April 2019

könnte man getrost um "Bernardo Ashetu" erweitern.
Ashetus Poesie ist  kryptisch, aber vielleicht sind die schönsten Gedichte nicht unbedingt die, die man versteht, sondern die, die man verstehen möchte.

Wehmut

Es war in diesem Winter, dass
der Neger mit dem langen roten
Mund mir seine Bananen anbot.
den bitterkalten schneebedeckten Weg auf dem
er sich endlos weiterschleppte, hatte
er vollgestreut mit Millionen
Ananaswürfeln, und als ich
ihn bezahlte mit einer strahlenden
Scheibe Tropensonne, lachte er sanft
und sehr wehmütig.


Übersetzung Jaap Hoepelman Juli 2024

Marcel

Er schlich sich auf Spitzen von
hellen Schleichern vom Dach

Seine Sitten waren erquicklich leicht.

Er stürzte auf rote Steine
bei klarem Winterwetter
und niemand verstand den fremden
Pfau bei seiner teuren Beerdigung.

Nur Gott.
Und dies war der süße Marcel.

Marcel

Übersetzung Jaap Hoepelman, Juli 2020


Bring Blumen

So sprach der Wind,
so das Wasser und
so dunkel waren die
Wolken nie gewesen.
Ein weißer Vogel flog scheu,
flog aufgeschreckt, flog trunken zur Küste
während der Jüngling
auf dem ächzenden Schiff hastig
schrieb,
bring Blumen, schrieb er,
bring Blumen auf das Grab
von dem, der nicht mehr ist.

Breng bloemen

Übersetzung Jaap Hoepelman, Juli 2020 

Sonntag, 28. September 2025

Anton de Kom. Strijden ga ik - Ich werde kämpfen.

 

Cornelis Gerard Anton de Kom (1898 - 1945)

In einem früheren Post habe ich versucht Antoine de Koms Gedicht "Mijn Opa is zo bloot" (mein Opa ist so nackt) für mich selbst und für mein imaginiertes deutsches Publikum zu erklären. Antoine de Koms Gedicht ist seinem Großvater Anton de Kom gewidmet. Anton de Kom war vieles: Aufklärer über die Sklaverei in Suriname und derer fortdauernde Folgen, Arbeiterberater, Kritiker der Misstände der Kontraktarbeit und Widerstandskämpfer gegen die deutsche Besatzung der Niederlande. Ein bewundernswerter Mann. Er war auch Autor des anti-kolonialistischen Manifests "Wij Slaven van Suriname", das 1934 in zensierter Form erschien und bald darauf verboten wurde. Erst 1980 erschien es ungekürzt in den Niederlanden, dann aber mit großem Erfolg. In 2021 erschien es als "Wir Sklaven von Suriname" auf Deutsch.  


Wij Slaven van Suriname, Auflage 1934

                                                                                                                             Deutsche Auflage 2021


Nach seinem Abschluss als Diplom-Buchhalter in Paramaribo (der Hauptort Surinames) arbeitete de Kom von 1916 bis 1920 als Angestellter der Balata-Compagnie***.


Die Konzessionsgebiete der Balata-Compagnie in Suriname in 1920



Nach Beendung der Sklaverei (1863*) versuchten die Niederlande nicht nur die Nachfahren der Sklaven, sondern auch Arbeiter aus anderen Gegenden (Britisch Guyana, Britisch Indien, Niederländisch Indien) für die Plantagearbeit einzusetzen. Die Kreolen, Javanen und Hindustanen arbeiteten für die Balata-Compagnie unter dem System der s.g. "Livrets". Schon seit 1909 galt das Livretsystem, in denen die Arbeitsbedingungen der ungelernten Kontraktarbeiter festgelegt wurden. Viel mehr Freiheit als die Sklaven in der gar nicht so vergangenen Vergangenheit hatten die Kontraktarbeiter nicht. De Kom engagierte sich für die Interessen der Arbeiter, aber in 1920 kündigte er und zog in die Niederlande. Die genauen Gründe für seine Kündigung fand ich nicht, aber ich kann mir vorstellen, dass sie in Zusammenhang standen mit der praktischen Unmöglichkeit als kleiner Angestellter etwas für die Arbeiter zu erreichen. Vielleicht auch, dass der Plan für das spätere "Wir Sklaven von Suriname" in ihm reifte und die Notwendigkeit des Quellenstudiums entstand. In den Niederlanden war de Kom aktiv in der linken Presse und Politik und es entstanden Beziehungen mit antikolonialen Aktivisten aus Niederländisch-Indien, Beziehungen die sich bis Suriname herumsprachen, die aber auch alle Alarmschellen der niederländischen Autoritäten klingeln ließen. Denn Indien, später Indonesien, war ein ganz anderes Kapitel als das im Königreich winzige Suriname, mit seinen damals ungefähr 140000 Einwohnern. Der gefährliche Unruhestifter gehörte unbedingt in strenger verdeckter und nicht verdeckter Quarantäne.

In dieser Zeit arbeitete de Kom an "Wir Sklaven von Suriname". Er konnte die Arbeit nicht abrunden, weil er in 1932 mit seiner Familie zurück nach Suriname zog, wegen der Gesundheitszustand seiner Mutter, die verstarb bevor er Suriname erreichte. Der Ankunft der de Koms am 4. Januar hatte sich herumgesprochen und sie wurden von einer großen Menge am Hafen begrüßt. In Paramaribo gründete de Kom ein Beratungsunternehmen für Kontraktarbeiter im Hof seiner Eltern. Einen Monat später organisierte er einen Aufmarsch der Kontraktarbeiter zur Residenz des Gouverneurs, um für die Rechte der Arbeiter zu protestieren. Er wurde verhaftet und ohne jegliche rechtliche Grundlage eingesperrt im "Fort Zeelandia".

Eine Woche Später versammelte sich eine protestierende Menge vor der Niederlassung des General-Staatsanwalts. Als das Gerücht sich verbreitete, dass man de Kom freilassen würde, wollte die Menge den Platz nicht verlassen. Die Polizei trat auf den Plan, es wurde geschossen, es gab Tote und Verletzte. De Kom und Familie wurden in Mai ohne weitere prozedurale Feinheiten nach Holland zurück verschifft.

Während seiner Zeit als Angestellter bei der Balata-Compagnie hatte de Kom das Livretsystem auf das Beste kennengelernt. Gegen die Bedingungen des Livrets der Balata-Compagnie protestiert de Kom in "Wir Sklaven von Suriname". Einige Zeilen übersetze ich hier. Das von mir benutzte Wort "Neger" in der Übersetzung stimmt überein mit der Verwendung durch de Kom, der eine Begabung für Sarkasmus hatte:
"Die Balata-Compagnie legt dem Neger ihr "Livret" vor, ein umfangreiches Gesetzbuch,...ohne gesetzliche Grundlage, ... aber geschützt durch Polizei und Armee. Und der Neger unterschreibt. "In vollkommener Freiheit" unterschreibt er mit Daumenabdruck,...und ab diesem Augenblick ist der Unterschied zwischen ehemaligem Sklaven und freiwilligem Kontraktarbeiter wahrlich nicht groß."

"Der Neger ist verpflichtet jede ihm aufgetragene Arbeit...genau nach Vorschrift auszuführen.
Die Gesellschaft hat jederzeit das Recht den Vertrag ohne Aufgabe von Gründen zu beenden, bei einer Kompensierung von 10,- Gulden.
Der Neger darf keinen  Besuch empfangen, ... auch nicht von seiner Frau,...
Der Neger darf das Arbeitsgelände nicht verlassen,...
Der Neger erhält keine Bezahlung für ihm aufgetragene Arbeiten, falls diese für seine persönliche Arbeitsumstände unumgänglich sind...
Er erhält keine Bezahlung für den Transport der Balata.
Er erhält keine Entschädigung für die Übername von Aufgaben von kranken oder verunfallten Kameraden..."

De Kom führt die Liste der Bedingungen, denen die Kontraktarbeiter unterworfen sind weiter, ich habe hier nur einige der Bestimmungen des Würgevertrags gezeigt. De Kom wusste also genau worüber er sprach und das Gedicht "Der Balatableeder" bezieht sich fast Punktgenau auf das "Livret" und seine Folgen.
De Kom hat immer Gedichte geschrieben, aber die Umstände machten eine ordentliche Veröffentlichung unmöglich. Ein etwas obskures Band erschien in 1934.  Erst 1969 veröffentlichten surinamesische Studenten Gedichte daraus im Selbstverlag. In der Digitalen Bibliothek der Niederländischen Literatur findet man das Heftchen.   


Strijden ga ik, Heft 1969

"De Balatableeder" in de Koms Notitzbuch

De Koms Gedicht bezieht sich also auf die Bedingungen des Vertrags zu denen die Kontraktarbeiter verpflichtet wurden und dadurch in eine neue Art der Sklaverei gezwungen. Als antikoloniale Kampfpoesie kümmert es sich nicht um den poetischen Feinschliff und ist deswegen um so wirksamer.

Der Balatableeder**


Die schönen Tage sind vorbei

Kuli, Bleeder, Sklave feierte das Billigvergnügen

Ohne Arbeit streunend an den gold'nen Küsten

Anwerber sind voll dabei Arbeitstiere anzulügen,

So viele wie's den Bürgern mag gelüsten.  


Vor dem weißen Staatsvertreter

Kontrakt geschlossen, Daumenabdruck abgegeben

Mickervorschuss für den Sklaven, Anwerber kriegt reichlich Knete

Kontraktarbeiters Pläne voll daneben.

Frau und Kindern nix zum Geben.


Tief im Inland mitten im  Dickicht

Undurchdringbar, Romantik voller Schönheit,

Sumpf, Elend, Giftschlangen im Gestrüpp

Sklave ringt, kämpft, oft mit Krankheit

Hohe Rechnung, Verstehen ist nicht.


Neun Monate später zahlt die Compagnie***

Ab 3er-4er-5er-6er Qualität°

Nimm deinen Hungerlohn, halt dein Maul

Kein Wort über die Quantität

Recht bekommt die Firma, du aber nie.


Im Urwald, zwischen schönen Farnen

Ein Arbeiter stirbt, ein Prolet weniger

Was soll's, es ist nicht einer von den Oberen

Was schert ein Schwarzer oder Farbiger 

Der Bleeder weiß, er hält das Klewang in Händen.°°

(Übersetzung Jaap Hoepelman, August 2024)

De Balatableeder

Etwas mehr über de Kom und sein tragisches Schicksal findet man in meinem Post über das Gedicht seines Enkels, Antoine de Kom, das ich oben erwähnte und das mit dem vorliegenden Post als Einheit gelesen werden kann.

* 1863 ist das offizielle Ende der Sklaverei in Suriname. Mit Hilfe vertraglicher Bestimmungen wurde der Zustand der Abhängigkeit faktisch erst 1873 beendet...oder aber auch nicht, wie de Kom uns lehrt.

** Balata - Kautschuk. Balatableeder (vom englischen Verb "to bleed") - Kautschukzapfer. Balata spielte eine wichtige Rolle bei der Isolierung von Unterseekabeln.

*** Die Compagnie - "De Balata Maatschappij" - "Die Balata Gesellschaft, 'der Korken auf dem die Kolonie schwimmt', das Hätschelkind der Regierung, ...bis zur Krise von 1931" (Wij Slaven, p. 144)

° "Ab 3er-4er-5er-6er Qualität. Im Kapitel "Die Kontraktarbeit", heißt es, dass die Balata-Compagnie "später bezahlt für 1-e, 2-e, 3-e Qualität" und dass der Verdienst abhängt von der eingesammelten Menge.

°° "Klewang". In "Wij slaven van Suriname" (Seite 164), nennt de Kom das lange Messer der Balatableeder ein "Owru". Das "Klewang" war ein eher in niederländisch Indien eingesetztes, einschneidiges Langmesser mit einer gebogenen, schweren Spitze, ein Arbeitsgerät, aber auch eine gefürchtete Waffe der niederländisch indischen Armee. Dies mag der Grund sein, dass de Kom im Gedicht nicht von "Owru" spricht, sondern, wegen des furchterregenden Rufs, von "Klewang".


Antoine de Kom und Anton de Kom. "Wir Sklaven von Suriname" auf Deutsch erschienen.

Gedichte machst du nicht

sie sind im Raum und liegen angekettet

und wenn es stürmt

dann gehen sie über Bord


(De lieve geur van zijn of haar. Querido. 2008)



Am 23 Januar  2021 schrieb ich einen Post über den Dichter und Psychiater Antoine de Kom, mit einer Übersetzung seines Gedichts "Mein Opa ist so Nackt".  Dazu schrieb ich einige Zeilen zur Erklärung der Hintergründe des Gedichts, ohne die es in Deutschland schwer verständlich sein wird. Antoine de Kom ist ein Enkel von Anton de Kom, des Aufklärers über das Schicksal der Sklaven in Suriname, an der Nordküste Südamerikas. 1934 erschien dessen Manifest "Wij slaven van Suriname" - "Wir Sklaven von Suriname" in Amsterdam. Das Buch wurde zuerst zensiert und dann verboten. Erst 1980 erschien es in den Niederlanden in vollständiger Form, dann aber mir großem Erfolg. In meinem Post berichtete ich, dass es bald eine deutsche Übersetzung geben würde. Inzwischen ist es soweit: "Wir Sklaven von Suriname" ist auf Deutsch erschienen. Es gehört zur großen Aufklärungsliteratur über den Kolonialismus. Eine ausgesuchte Gelegenheit diesen Post mit Antoine de Koms eindrucksvollem Gedicht zu wiederholen.


Antoine de Kom 1956 - 

Antoine de Kom ist Psychiater, Dichter und Schriftsteller, Enkel des surinamisch/niederländischen Nationalisten und Widerstandskämpfers Anton de Kom, des Autors der Anklageschrift "Wij slaven van Suriname" ("Wir Sklaven Surinames", 1934), der "Opa" des hier übersetzten Gedichts.

 

        Wij slaven van Suriname

 Leben und Werk von Anton de Kom werden in den Niederlanden erst in letzter Zeit, lange nach der Unabhängigkeit Surinames, gewürdigt. Ein Platz in Amsterdam Süd-Ost wurde nach ihm benannt und ein Denkmal errichtet. Manchmal wird de Koms Rolle für Suriname mit der des Multatuli (von dem er sich inspirieren ließ) für niederländisch Indien verglichen. De Kom wurde, als erster Surinamer, aufgenommen im Kanon der niederländischen Geschichte und jetzt, nach 86 Jahren, steht "Wij slaven van Suriname" auf der Liste der Bestseller. 

Das Gedicht "mijn opa is zo bloot" ("mein Opa ist so nackt"), das ich hier übersetzt habe, ist sehr gut, meine ich. Aber es ist nicht leicht zu verstehen. Schon gar nicht für nicht-niederländische Leser, die mit den Hintergründen noch weniger vertraut sind, als die Niederländer es sind, oder sein wollen. Dieser Blog wäre aber nicht der richtige Ort für eine ausführliche Geschichte des niederländischen Kolonialismus in Südamerika und der Karibik, angenommen ich wäre dazu überhaupt imstande. Ich kann nur versuchen, schwer verständliche Verse zu erläutern, denn ich sehe das Gedicht als einen Ansturm ohne Punkt und Komma von Gefühlen, Gedanken, Erinnerungsstücken, Motiven, Mosaikfragmenten, die ein formvollendetes Gedicht unmöglich machen und die trotzdem ein Bild ergeben, das in der zerbröckelten Form mehr aussagt als ein glattgestrichenes Gemälde. Womit wir schon bei der Form des Gedichtes, des Gegenstandes und der Rezeption wären. Denn "zerbröckelt" ist nicht nur das Gedicht, "zerbröckelt" nennt der Dichter auch das Denkmal für den Opa und "zerbröckelt" sind die Meinungen über das Kunstwerk.

Der Dichter T. S. Eliot schrieb: "Genuine poetry can communicate before it is understood". Geben Sie Antoine de Koms Gedicht zunächst die Gelegenheit, sich mitzuteilen. Anschließend werde ich versuchen an Hand von einigen "schwierigen" Passagen etwas über den Hintergrund zu erklären.


Antoine de Kom - mein Opa ist so nackt


mein Opa ist so nackt

so ganz arg nackt auf ganz dem eigenen Platz

er möchte keine Kleider an

doch wie kann ich ihm zeigen

dass man nackig vornehm angezogen

gehen kann im Anzug plus Krawatte Aktenmappe

und noch viel mehr als mehr trotzdem ein wenig nackt?

die Sklaven waren oft schon so so hieß es so sich selbst

dabei mit einem Schlag die vorgemachten Kleider los an dem einen

oftmals schwer versehrenden Moment

unter dem Folterzeug das schneller rennt als du

auch als du ungekürzt vollwertig auf holländisch frei sein wolltest

mit Hut und Binder und mit Ledermappe oh

darin im Krieg kaum mehr

als angedätschte Wörter unbezwingbar

"staatsgefährlich" allerdings

doch selbst bist du noch ungeschunden & noch heil

gerad' noch sicher in der Haager Tram

die dank meines Zutuns hält und hält 

dieweil Seyss-Inquart leichblass starrend

auf deinen Platz sich fragt

ob du ihm nackig und zerbröckelt lieber bist?


[Aus: die lieve geur van zijn of haar (2008)]


Antoine de Kom "mijn Opa is zo bloot"

Vertaling Jaap Hoepelman, Januar 2021


Denkmal für Anton de Kom auf dem Anton de Kom Plein, Amsterdam

"mein Opa ist so nackt

so ganz arg nackt auf ganz dem eigenen Platz"                

Hier sieht man das Denkmal für Anton de Kom, der "Opa" des Antoine de Kom. Das Denkmal hat den ganzen Platz, der nach de Kom benannt wurde ganz für sich allein, und es ist nackt. Ganz nackt. Diese Nacktheit hat zu heftigen Kontroversen geführt. Klar ist es eine Statue in der besten Tradition der Darstellung der Freiheitshelden, oder der Freiheit an sich - wie Delacroix's "La Liberté Guidant le Peuple"


oder auf dem Nationaldenkmal der Niederlande, der nackte Widerstandkämpfer:



Solche Helden wollen selbstverständlich nicht angezogen werden und es heißt dementsprechend "er möchte keine Kleider an". Viele halten dagegen, dass Anton de Kom darauf Wert legte, einwandfrei und stilvoll gekleidet zu sein, mitsamt Anzug, Krawatte und Aktenmappe. 

 
Mit Ehefrau Petronella Borsboom
Anton de Kom 1898-1945

Also Freiheit hin, Freiheit her - musste das Denkmal für Anton de Kom unbedingt einen nackten  schwarzen Mann in seiner ganzen Nacktheid darstellen?
Der Dichter scheint eine Art Kompromiss zu suchen, indem er seinen Opa indirekt darauf anspricht:

"doch wie kann ich ihm zeigen

dass man nackend vornehm angezogen

gehen kann im Anzug plus Krawatte, Aktenmappe

und noch viel mehr als mehr trotzdem ein wenig nackt?"

Ein nackter Held kann perfekt angezogen sein und viel mehr als das: Blume im Knopfloch, Hut, Einstecktuch - und trotzdem nackt, wie es sich gehört für einen Freiheitshelden. 

Woher kommt übrigens dieses "plus"? Hätte ein "und" nicht gereicht? In Suriname war de Kom Diplom-Buchhalter geworden. Dieses "plus" und die "Aktenmappe" passen gut nicht nur zur Genauigkeit, die er als Buchhalter brauchte, sondern auch zum Aktenstudium, betrieben für seine Geschichte der Sklaverei. 

Jetzt tritt ein anderes Motiv auf den Plan: Das Vorurteil, oder sagen wir lieber: Die Lüge. Hieß es nicht, dass die Sklaven sich eigentlich so ohne Kleider..., wie soll man's sagen, so...so richtig sich selbst fühlten? Dann wiederum weiter gedacht: Wie die Sklaven sich fühlten, spielte es nicht ohnehin keine Rolle? Wer ausgepeitscht wurde, war die Kleider, die nur "vorgemacht" waren sowieso los mit einem Schlag. Schwerste, versehrende Folter war das Mittel mit dem die vielen Sklaven von den wenigen Sklavenhältern in Schach gehalten wurden.  Die Sklaven versuchten häufig zu flüchten um sich als "Marrons" in den unzugänglichen Urwäldern zusammen zu tun. Aber so schnell die Flüchtlinge auch rannten, oft war die Folter schneller als sie. Die Strafen waren bestialisch. 

"die Sklaven waren oft schon so so hieß es so sich selbst

dabei mit einem Schlag die vorgemachten Kleider los an dem einen

oftmals schwer versehrenden Moment

unter dem Folterzeug das schneller rennt als du"

(Nebenbei zur Verstechnik: In "an dem einen", "oftmals schwer" ersetzen auf einmal Anapeste,         ◡◡—, wie Peitschenhiebe, die bis dahin ziemlich konsequent durchgehaltenen Jamben. Vielleicht kann man als Päon, ◡◡◡—, noch "unter dem Folterzeug" als besonders schweren Hieb dazurechnen.)

In einem einzigen Schlüsselwort, "onbeknot", werden Hauptmotive des Gedichtes gebündelt: Das Denkmal, die Flucht, die Folter, die Sehnsucht nach Freiheit, der Krieg und die Besatzung: 1933 wurde de Kom, der als Aktivist und Berater für Kontraktarbeiter tätig war, als "staatsgefährlich" in die Niederlande deportiert. Er versuchte wieder Fuß zu fassen, "ungekürzt" und "vollwertig". Als "vollwertiger" Holländer, mit allen Rechten eines Holländers. So weit, so verständlich, aber "ungekürzt"? Das hier benutzte niederländische Wort heißt "onbeknot". Einmal bedeutet das etwa "frei", "uneingeschränkt". In einer anderen Bedeutung werden wir an die Kopfweide, "knotwilg",  erinnert. Der gekürtzte, "geknotte", Weidenbaum, von dem die Äste abgeschlagen worden sind. Geflüchtete, wieder gefangengenommene Sklaven wurden häufig "geknot" - ihnen wurde eine Hand, ein Fuß oder Bein abgeschlagen, oder auch eine Achillessehne durchtrennt (ich will hier nicht sonstige Gräuel auflisten). Auch an de Koms Denkmal scheinen Hände und Füße zu fehlen. Ein Hinweis, der nicht von allen Betroffenen gemocht wurde.

De Kom war noch vor dem Krieg mit Frau und Kindern nach Den Haag umgezogen. Während des Krieges, trotz der Kolonialgeschichte, engagierte er sich im Widerstand, weil er sah, dass die halbwegs überwundene Vergangenheit ersetzt wurde von einer Zukunft, die ihn weitaus schlimmer "kürzen" würde. Seine Aktenmappe war inzwischen wahrscheinlich "angedätscht", wie auch seine Schriften, weil er in der Mappe vielleicht "Wir Sklaven..." mit sich herumtrug, das sich nicht gut verkaufte, oder in Mitleidenschaft gezogene Aufsätze für die Widerstandspresse - "beurs",  d.h. "angedätscht" eben. Aber er selber blieb unbezwingbar.

"auch als du ungekürzt vollwertig auf holländisch frei sein wolltest

mit Hut und Binder und mit Ledermappe oh

darin im Krieg kaum mehr

als angedätschte Wörter unbezwingbar

"staatsgefährlich" allerdings"

Der Dichter hält die Haager Tram in der sein Opa sitzt so lange an, wie es nur geht. Sein Opa ist der alten Folter entgangen, er ist ungeschunden und heil - gerade noch, denn was für die Sklaven die Flucht war ist jetzt die Deportation geworden und Opa de Kom wird die neue Folter nicht überleben. 1944 wird er von der Gestapo verhaftet und ins KZ Neuengamme-Sandbostel verfrachtet, wo er 1945 stirbt. Der österreichische Reichskommisar für die Niederlande, Seyss-Inquart, ein Teufel von Sklavenhalter, schaut zu und überlegt sich, ob ihm anstatt eines Anzugträgers ein nackter, zerbröckelter Neger nicht doch lieber wäre:

"doch selbst bist du noch ungeschunden & noch heil

gerad' noch sicher in der Haager Tram

dieweil Seys-Inquart leichblass starrend

auf deinen Platz sich fragt

ob du ihm nackig und zerbröckelt lieber bist?"

Schon alte Abolitionisten, wie  John Gabriel StedmanMarten Douwes Teenstra,  Julien Wolbers oder auch Nicolaas Beets hatten die Zustände in Suriname beschrieben und scharf verurteilt. Ab und zu wurde tatsächlich ein Täter (oder eine Täterin, Frauen ließen sich nicht unbezeugt) verurteilt, aber das Interesse der Obrigkeit war lau, die Strafen läppisch. Es dauerte noch bis 1863 - in der Realität bis 1873; die Sklavenhälter mussten noch "entschädigt" werden während die Sklaven weiterhin schufteten -, dass die Sklaverei in Suriname abgeschafft wurde. Aber das Gefühl der Minderwertigkeit hatte sich verfestigt, auch bei den ehemaligen Sklaven, und stellte ein riesiges Hindernis bei der Entstehung einer eigenen Nation dar. Das zu überwinden ist das eigentliche Thema von de Koms "Wir Sklaven von Suriname".


2014 bekam Antoine de Kom den VSB-Poesie-Preis für seinen Gedichtband Ritmisch zonder string.  

Anfang 2021 wird die deutsche Übersetzung von "Wij slaven van Suriname" erscheinen.*



*Bemerkung 8.7.2021: Das ist inzwischen geschehen. Siehe die Einleitung zu diesem Post.

So wie ich einmal liebte,

              Snikken en Grimlachjes                           Piet Paaltjens (1835-1894)                                                   ...