Gedichte in niederländischer Sprache sind in Deutschland ziemlich unbekannt. Ich versuche hin und wieder, ein Gedicht so zu übersetzen, dass im Deutschen etwas vom Flair der Poesie aus dem niederländischen Sprachgebiet zum Ausdruck kommt. Unter "Namen in diesem Blog", "Reineke Fuchs" und "Van Maerlant" sind die entsprechenden Beiträge anklickbar. "<" und ">" führen zum vorhergehenden bzw. folgenden Beitrag.
Sonntag, 9. November 2025
Nijhoff als Übersetzer
Mittwoch, 8. Oktober 2025
Bernardo Ashetu. Ein Außenseiter aus Suriname wird allmählich entdeckt.
Bernardo Ashetu (Pseud. von Henk van Ommeren), geboren 1929 in Paramaribo (Suriname), war Sohn des Arztes und späteren Vorsitzenden der Surinamischen Nationalstaaten (Parlament) Hendrik van Ommeren und Juliette Nassy. Damit Vater Hendrik das Medizinstudium abschließen konnte, zog die Familie in die Niederlande, aber Mutter Juliette und Sohn Henk mussten vor den Nazis nach Paramaribo fliehen, während Vater Hendrik in den Niederlanden zurückblieb. Gegen den Willen seines Vaters, der größeres mit ihm vorhatte, wurde Ashetu Schiffsfunker. Nach dem Krieg fand der abgemusterte Funker eine Stelle bei Radio Holland, IJmuiden. Vater van Ommeren, ein sehr dominanter Mann, verachtete gleichermaßen den Funker und den Dichter Ashetu. Es wird vermutet, dass diese Verachtung der Grund war, dass Ashetu nach dem ersten Dichtband "Yanacuna" (1959) keine Zeile mehr veröffentlichte. Er blieb also beinahe völlig unbekannt. "Yanacuna" erhielt sogar eine Einleitung von Cola Debrot, dem bekannten Schriftsteller und späteren Gouverneur der niederländischen Antillen, aber vergebens. In Ashetus Nachlass wurden nicht weniger als 29 unveröffentlichte Bände gefunden.
Die Verachtung seines Vaters und die Probleme einer buntgemischten Gesellschaft hatten wohl eine ungünstige Wirkung auf Ashetus labile Psyche und er musste sich in psychiatrische Behandlung begeben. Nach einem zurückgezogenen Leben starb er 1982 an Darmkrebs.
Erst in letzter Zeit wird Ashetus Gedichten mehr Aufmerksamkeit geschenkt. 2007 erschien eine Auswahl aus den Arbeiten "Dat ik zong" ("Dass ich sang"), ausgewählt durch Gerrit Komrij und 2011 eine ausführliche Anthologie durch Michiel van Kempen, Professor für niederländisch-karibische Literatur an der Uni Amsterdam, "Dat ik je liefheb" ("Dass ich dich liebe"). Van Kempens Nachwort "'Ik ben een neger" poezie als graf voor Surinaamse demonen"' habe ich im Übrigen viel Material für diesen Post entnommen.
Liebhaber der niederländischen Poesie denken unweigerlich an Slauerhoff, den anderen Seemann und Schiffsarzt (das wäre eher nach dem Geschmack von Vater van Ommeren gewesen), der auch auf Süd-Amerika fuhr. Slauerhoffs Gedicht "O Enjeitado" endet mit den Zeilen
Auch ich hab' entdeckt und genommen,
Der ich später alles verlor,
Um an des trägen Stromes Saum
Am Grab des grandiosen Traums
Zu sterben: “tudo é dor”.
Es gibt andere Außenseiter, an die Ashetus Kunst mich erinnert, z.B. Lodeizen und Achterberg, beide Meister darin, mit Alltagswörtern rätselhafte Spannung hervorzurufen, oder van Schagen und Noordstar, die in ihren Gedichten auf "Poesie" verzichteten und dementsprechend erst viel später Anerkennung fanden. Buddingh's Glosse:
lasen wir alle
begeistert und voller Ehrfurcht
Marsman und Slauerhoff
jetzt, dreißig Jahre später,
dreißig Jahre weiser,
halte ich es lieber mit
Noordstar und van Schagen.
(C. Buddingh', Gedichten 1938-1970)
Übersetzung Jaap Hoepelman, April 2019
könnte man getrost um "Bernardo Ashetu" erweitern.
Wehmut
Es war in diesem Winter, dassder Neger mit dem langen roten
Mund mir seine Bananen anbot.
den bitterkalten schneebedeckten Weg auf dem
er sich endlos weiterschleppte, hatte
er vollgestreut mit Millionen
Ananaswürfeln, und als ich
ihn bezahlte mit einer strahlenden
Scheibe Tropensonne, lachte er sanft
und sehr wehmütig.
Marcel
Er schlich sich auf Spitzen von
hellen Schleichern vom Dach
Seine Sitten waren erquicklich leicht.
Er stürzte auf rote Steine
bei klarem Winterwetter
und niemand verstand den fremden
Pfau bei seiner teuren Beerdigung.
Nur Gott.
Und dies war der süße Marcel.
Marcel
Übersetzung Jaap Hoepelman, Juli 2020
Bring Blumen
So sprach der Wind,
so das Wasser und
so dunkel waren die
Wolken nie gewesen.
Ein weißer Vogel flog scheu,
flog aufgeschreckt, flog trunken zur Küste
während der Jüngling
auf dem ächzenden Schiff hastig
schrieb,
bring Blumen, schrieb er,
bring Blumen auf das Grab
von dem, der nicht mehr ist.
Breng bloemen
Übersetzung Jaap Hoepelman, Juli 2020
Sonntag, 28. September 2025
Anton de Kom. Strijden ga ik - Ich werde kämpfen.
In einem früheren Post habe ich versucht Antoine de Koms Gedicht "Mijn Opa is zo bloot" (mein Opa ist so nackt) für mich selbst und für mein imaginiertes deutsches Publikum zu erklären. Antoine de Koms Gedicht ist seinem Großvater Anton de Kom gewidmet. Anton de Kom war vieles: Aufklärer über die Sklaverei in Suriname und derer fortdauernde Folgen, Arbeiterberater, Kritiker der Misstände der Kontraktarbeit und Widerstandskämpfer gegen die deutsche Besatzung der Niederlande. Ein bewundernswerter Mann. Er war auch Autor des anti-kolonialistischen Manifests "Wij Slaven van Suriname", das 1934 in zensierter Form erschien und bald darauf verboten wurde. Erst 1980 erschien es ungekürzt in den Niederlanden, dann aber mit großem Erfolg. In 2021 erschien es als "Wir Sklaven von Suriname" auf Deutsch.
Eine Woche Später versammelte sich eine protestierende Menge vor der Niederlassung des General-Staatsanwalts. Als das Gerücht sich verbreitete, dass man de Kom freilassen würde, wollte die Menge den Platz nicht verlassen. Die Polizei trat auf den Plan, es wurde geschossen, es gab Tote und Verletzte. De Kom und Familie wurden in Mai ohne weitere prozedurale Feinheiten nach Holland zurück verschifft.
Strijden ga ik, Heft 1969
Der Balatableeder**
Die schönen Tage sind vorbei
Kuli, Bleeder, Sklave feierte das Billigvergnügen
Ohne Arbeit streunend an den gold'nen Küsten
Anwerber sind voll dabei Arbeitstiere anzulügen,
So viele wie's den Bürgern mag gelüsten.
Vor dem weißen Staatsvertreter
Kontrakt geschlossen, Daumenabdruck abgegeben
Mickervorschuss für den Sklaven, Anwerber kriegt reichlich Knete
Kontraktarbeiters Pläne voll daneben.
Frau und Kindern nix zum Geben.
Tief im Inland mitten im Dickicht
Undurchdringbar, Romantik voller Schönheit,
Sumpf, Elend, Giftschlangen im Gestrüpp
Sklave ringt, kämpft, oft mit Krankheit
Hohe Rechnung, Verstehen ist nicht.
Neun Monate später zahlt die Compagnie***
Ab 3er-4er-5er-6er Qualität°
Nimm deinen Hungerlohn, halt dein Maul
Kein Wort über die Quantität
Recht bekommt die Firma, du aber nie.
Im Urwald, zwischen schönen Farnen
Ein Arbeiter stirbt, ein Prolet weniger
Was soll's, es ist nicht einer von den Oberen
Was schert ein Schwarzer oder Farbiger
Der Bleeder weiß, er hält das Klewang in Händen.°°
(Übersetzung Jaap Hoepelman, August 2024)
Etwas mehr über de Kom und sein tragisches Schicksal findet man in meinem Post über das Gedicht seines Enkels, Antoine de Kom, das ich oben erwähnte und das mit dem vorliegenden Post als Einheit gelesen werden kann.
* 1863 ist das offizielle Ende der Sklaverei in Suriname. Mit Hilfe vertraglicher Bestimmungen wurde der Zustand der Abhängigkeit faktisch erst 1873 beendet...oder aber auch nicht, wie de Kom uns lehrt.
** Balata - Kautschuk. Balatableeder (vom englischen Verb "to bleed") - Kautschukzapfer. Balata spielte eine wichtige Rolle bei der Isolierung von Unterseekabeln.
*** Die Compagnie - "De Balata Maatschappij" - "Die Balata Gesellschaft, 'der Korken auf dem die Kolonie schwimmt', das Hätschelkind der Regierung, ...bis zur Krise von 1931" (Wij Slaven, p. 144)
° "Ab 3er-4er-5er-6er Qualität. Im Kapitel "Die Kontraktarbeit", heißt es, dass die Balata-Compagnie "später bezahlt für 1-e, 2-e, 3-e Qualität" und dass der Verdienst abhängt von der eingesammelten Menge.
°° "Klewang". In "Wij slaven van Suriname" (Seite 164), nennt de Kom das lange Messer der Balatableeder ein "Owru". Das "Klewang" war ein eher in niederländisch Indien eingesetztes, einschneidiges Langmesser mit einer gebogenen, schweren Spitze, ein Arbeitsgerät, aber auch eine gefürchtete Waffe der niederländisch indischen Armee. Dies mag der Grund sein, dass de Kom im Gedicht nicht von "Owru" spricht, sondern, wegen des furchterregenden Rufs, von "Klewang".
Antoine de Kom und Anton de Kom. "Wir Sklaven von Suriname" auf Deutsch erschienen.
Gedichte machst du nicht
sie sind im Raum und liegen angekettet
und wenn es stürmt
dann gehen sie über Bord
(De lieve geur van zijn of haar. Querido. 2008)
Am 23 Januar 2021 schrieb ich einen Post über den Dichter und Psychiater Antoine de Kom, mit einer Übersetzung seines Gedichts "Mein Opa ist so Nackt". Dazu schrieb ich einige Zeilen zur Erklärung der Hintergründe des Gedichts, ohne die es in Deutschland schwer verständlich sein wird. Antoine de Kom ist ein Enkel von Anton de Kom, des Aufklärers über das Schicksal der Sklaven in Suriname, an der Nordküste Südamerikas. 1934 erschien dessen Manifest "Wij slaven van Suriname" - "Wir Sklaven von Suriname" in Amsterdam. Das Buch wurde zuerst zensiert und dann verboten. Erst 1980 erschien es in den Niederlanden in vollständiger Form, dann aber mir großem Erfolg. In meinem Post berichtete ich, dass es bald eine deutsche Übersetzung geben würde. Inzwischen ist es soweit: "Wir Sklaven von Suriname" ist auf Deutsch erschienen. Es gehört zur großen Aufklärungsliteratur über den Kolonialismus. Eine ausgesuchte Gelegenheit diesen Post mit Antoine de Koms eindrucksvollem Gedicht zu wiederholen.
Antoine de Kom ist Psychiater, Dichter und Schriftsteller, Enkel des surinamisch/niederländischen Nationalisten und Widerstandskämpfers Anton de Kom, des Autors der Anklageschrift "Wij slaven van Suriname" ("Wir Sklaven Surinames", 1934), der "Opa" des hier übersetzten Gedichts.
Leben und Werk von Anton de Kom werden in den Niederlanden erst in letzter Zeit, lange nach der Unabhängigkeit Surinames, gewürdigt. Ein Platz in Amsterdam Süd-Ost wurde nach ihm benannt und ein Denkmal errichtet. Manchmal wird de Koms Rolle für Suriname mit der des Multatuli (von dem er sich inspirieren ließ) für niederländisch Indien verglichen. De Kom wurde, als erster Surinamer, aufgenommen im Kanon der niederländischen Geschichte und jetzt, nach 86 Jahren, steht "Wij slaven van Suriname" auf der Liste der Bestseller.
Das Gedicht "mijn opa is zo bloot" ("mein Opa ist so nackt"), das ich hier übersetzt habe, ist sehr gut, meine ich. Aber es ist nicht leicht zu verstehen. Schon gar nicht für nicht-niederländische Leser, die mit den Hintergründen noch weniger vertraut sind, als die Niederländer es sind, oder sein wollen. Dieser Blog wäre aber nicht der richtige Ort für eine ausführliche Geschichte des niederländischen Kolonialismus in Südamerika und der Karibik, angenommen ich wäre dazu überhaupt imstande. Ich kann nur versuchen, schwer verständliche Verse zu erläutern, denn ich sehe das Gedicht als einen Ansturm ohne Punkt und Komma von Gefühlen, Gedanken, Erinnerungsstücken, Motiven, Mosaikfragmenten, die ein formvollendetes Gedicht unmöglich machen und die trotzdem ein Bild ergeben, das in der zerbröckelten Form mehr aussagt als ein glattgestrichenes Gemälde. Womit wir schon bei der Form des Gedichtes, des Gegenstandes und der Rezeption wären. Denn "zerbröckelt" ist nicht nur das Gedicht, "zerbröckelt" nennt der Dichter auch das Denkmal für den Opa und "zerbröckelt" sind die Meinungen über das Kunstwerk.
Der Dichter T. S. Eliot schrieb: "Genuine poetry can communicate before it is understood". Geben Sie Antoine de Koms Gedicht zunächst die Gelegenheit, sich mitzuteilen. Anschließend werde ich versuchen an Hand von einigen "schwierigen" Passagen etwas über den Hintergrund zu erklären.
Antoine de Kom - mein Opa ist so nackt
mein Opa ist so nackt
so ganz arg nackt auf ganz dem eigenen Platz
er möchte keine Kleider an
doch wie kann ich ihm zeigen
dass man nackig vornehm angezogen
gehen kann im Anzug plus Krawatte Aktenmappe
und noch viel mehr als mehr trotzdem ein wenig nackt?
die Sklaven waren oft schon so so hieß es so sich selbst
dabei mit einem Schlag die vorgemachten Kleider los an dem einen
oftmals schwer versehrenden Moment
unter dem Folterzeug das schneller rennt als du
auch als du ungekürzt vollwertig auf holländisch frei sein wolltest
mit Hut und Binder und mit Ledermappe oh
darin im Krieg kaum mehr
als angedätschte Wörter unbezwingbar
"staatsgefährlich" allerdings
doch selbst bist du noch ungeschunden & noch heil
gerad' noch sicher in der Haager Tram
die dank meines Zutuns hält und hält
dieweil Seyss-Inquart leichblass starrend
auf deinen Platz sich fragt
ob du ihm nackig und zerbröckelt lieber bist?
[Aus: die lieve geur van zijn of haar (2008)]
Antoine de Kom "mijn Opa is zo bloot"
Vertaling Jaap Hoepelman, Januar 2021
Denkmal für Anton de Kom auf dem Anton de Kom Plein, Amsterdam
"mein Opa ist so nackt
so ganz arg nackt auf ganz dem eigenen Platz"
Hier sieht man das Denkmal für Anton de Kom, der "Opa" des Antoine de Kom. Das Denkmal hat den ganzen Platz, der nach de Kom benannt wurde ganz für sich allein, und es ist nackt. Ganz nackt. Diese Nacktheit hat zu heftigen Kontroversen geführt. Klar ist es eine Statue in der besten Tradition der Darstellung der Freiheitshelden, oder der Freiheit an sich - wie Delacroix's "La Liberté Guidant le Peuple"
oder auf dem Nationaldenkmal der Niederlande, der nackte Widerstandkämpfer:
Mit Ehefrau Petronella Borsboom
Anton de Kom 1898-1945
"doch wie kann ich ihm zeigen
dass man nackend vornehm angezogen
gehen kann im Anzug plus Krawatte, Aktenmappe
und noch viel mehr als mehr trotzdem ein wenig nackt?"
Ein nackter Held kann perfekt angezogen sein und viel mehr als das: Blume im Knopfloch, Hut, Einstecktuch - und trotzdem nackt, wie es sich gehört für einen Freiheitshelden.
Woher kommt übrigens dieses "plus"? Hätte ein "und" nicht gereicht? In Suriname war de Kom Diplom-Buchhalter geworden. Dieses "plus" und die "Aktenmappe" passen gut nicht nur zur Genauigkeit, die er als Buchhalter brauchte, sondern auch zum Aktenstudium, betrieben für seine Geschichte der Sklaverei.
Jetzt tritt ein anderes Motiv auf den Plan: Das Vorurteil, oder sagen wir lieber: Die Lüge. Hieß es nicht, dass die Sklaven sich eigentlich so ohne Kleider..., wie soll man's sagen, so...so richtig sich selbst fühlten? Dann wiederum weiter gedacht: Wie die Sklaven sich fühlten, spielte es nicht ohnehin keine Rolle? Wer ausgepeitscht wurde, war die Kleider, die nur "vorgemacht" waren sowieso los mit einem Schlag. Schwerste, versehrende Folter war das Mittel mit dem die vielen Sklaven von den wenigen Sklavenhältern in Schach gehalten wurden. Die Sklaven versuchten häufig zu flüchten um sich als "Marrons" in den unzugänglichen Urwäldern zusammen zu tun. Aber so schnell die Flüchtlinge auch rannten, oft war die Folter schneller als sie. Die Strafen waren bestialisch.
"die Sklaven waren oft schon so so hieß es so sich selbst
dabei mit einem Schlag die vorgemachten Kleider los an dem einen
oftmals schwer versehrenden Moment
unter dem Folterzeug das schneller rennt als du"
(Nebenbei zur Verstechnik: In "an dem einen", "oftmals schwer" ersetzen auf einmal Anapeste, ◡◡—, wie Peitschenhiebe, die bis dahin ziemlich konsequent durchgehaltenen Jamben. Vielleicht kann man als Päon, ◡◡◡—, noch "unter dem Folterzeug" als besonders schweren Hieb dazurechnen.)
In einem einzigen Schlüsselwort, "onbeknot", werden Hauptmotive des Gedichtes gebündelt: Das Denkmal, die Flucht, die Folter, die Sehnsucht nach Freiheit, der Krieg und die Besatzung: 1933 wurde de Kom, der als Aktivist und Berater für Kontraktarbeiter tätig war, als "staatsgefährlich" in die Niederlande deportiert. Er versuchte wieder Fuß zu fassen, "ungekürzt" und "vollwertig". Als "vollwertiger" Holländer, mit allen Rechten eines Holländers. So weit, so verständlich, aber "ungekürzt"? Das hier benutzte niederländische Wort heißt "onbeknot". Einmal bedeutet das etwa "frei", "uneingeschränkt". In einer anderen Bedeutung werden wir an die Kopfweide, "knotwilg", erinnert. Der gekürtzte, "geknotte", Weidenbaum, von dem die Äste abgeschlagen worden sind. Geflüchtete, wieder gefangengenommene Sklaven wurden häufig "geknot" - ihnen wurde eine Hand, ein Fuß oder Bein abgeschlagen, oder auch eine Achillessehne durchtrennt (ich will hier nicht sonstige Gräuel auflisten). Auch an de Koms Denkmal scheinen Hände und Füße zu fehlen. Ein Hinweis, der nicht von allen Betroffenen gemocht wurde.
De Kom war noch vor dem Krieg mit Frau und Kindern nach Den Haag umgezogen. Während des Krieges, trotz der Kolonialgeschichte, engagierte er sich im Widerstand, weil er sah, dass die halbwegs überwundene Vergangenheit ersetzt wurde von einer Zukunft, die ihn weitaus schlimmer "kürzen" würde. Seine Aktenmappe war inzwischen wahrscheinlich "angedätscht", wie auch seine Schriften, weil er in der Mappe vielleicht "Wir Sklaven..." mit sich herumtrug, das sich nicht gut verkaufte, oder in Mitleidenschaft gezogene Aufsätze für die Widerstandspresse - "beurs", d.h. "angedätscht" eben. Aber er selber blieb unbezwingbar.
"auch als du ungekürzt vollwertig auf holländisch frei sein wolltest
mit Hut und Binder und mit Ledermappe oh
darin im Krieg kaum mehr
als angedätschte Wörter unbezwingbar
"staatsgefährlich" allerdings"
Der Dichter hält die Haager Tram in der sein Opa sitzt so lange an, wie es nur geht. Sein Opa ist der alten Folter entgangen, er ist ungeschunden und heil - gerade noch, denn was für die Sklaven die Flucht war ist jetzt die Deportation geworden und Opa de Kom wird die neue Folter nicht überleben. 1944 wird er von der Gestapo verhaftet und ins KZ Neuengamme-Sandbostel verfrachtet, wo er 1945 stirbt. Der österreichische Reichskommisar für die Niederlande, Seyss-Inquart, ein Teufel von Sklavenhalter, schaut zu und überlegt sich, ob ihm anstatt eines Anzugträgers ein nackter, zerbröckelter Neger nicht doch lieber wäre:
"doch selbst bist du noch ungeschunden & noch heil
gerad' noch sicher in der Haager Tram
dieweil Seys-Inquart leichblass starrend
auf deinen Platz sich fragt
ob du ihm nackig und zerbröckelt lieber bist?"
Schon alte Abolitionisten, wie John Gabriel Stedman, Marten Douwes Teenstra, Julien Wolbers oder auch Nicolaas Beets hatten die Zustände in Suriname beschrieben und scharf verurteilt. Ab und zu wurde tatsächlich ein Täter (oder eine Täterin, Frauen ließen sich nicht unbezeugt) verurteilt, aber das Interesse der Obrigkeit war lau, die Strafen läppisch. Es dauerte noch bis 1863 - in der Realität bis 1873; die Sklavenhälter mussten noch "entschädigt" werden während die Sklaven weiterhin schufteten -, dass die Sklaverei in Suriname abgeschafft wurde. Aber das Gefühl der Minderwertigkeit hatte sich verfestigt, auch bei den ehemaligen Sklaven, und stellte ein riesiges Hindernis bei der Entstehung einer eigenen Nation dar. Das zu überwinden ist das eigentliche Thema von de Koms "Wir Sklaven von Suriname".
2014 bekam Antoine de Kom den VSB-Poesie-Preis für seinen Gedichtband Ritmisch zonder string.
Anfang 2021 wird die deutsche Übersetzung von "Wij slaven van Suriname" erscheinen.*
Montag, 22. September 2025
Ed Hoornik. Prophetisches im Alltäglichen.
Samstag, 20. September 2025
Reineke Fuchs. Der Anfang der Geschichte


Schlimmer noch! Was tat er meinen Kindern?!





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