Samstag, 28. Juni 2025

de Afsluitdijk - der Abschlussdeich










M. Vasalis (1909 -1998)
(Margaretha Drooglever-Fortuyn-Leenmans)



Afsluitdijk - Abschlussdeich

Der Bus fährt wie ein Zimmer durch die Nacht
Die Straße ist gerade und der Deich ist endlos
links liegt das Meer, gezähmt doch ruhelos,
wir schauen raus, ein sanfter Mond scheint schwach.

Vor mir die jungen frischrasierten Nacken
von zwei Matrosen, die verhalten gähnen
sich später locker dehnen und danach
unschuldig schlafend an den Schultern lehnen.

Dann seh' ich plötzlich, wie im Traum, im Glas
dünn und durchsichtig mit uns'rem fest verbunden
mal klar wie wir, dann wiederum im Meer ertrunken,
den Geist von uns'rem Bus; das Gras
zerschneidet die Matrosen glatt entzwei.
Dort seh' ich auch mich selbst. Allein
mein Kopf wogt auf der Wasserfläche,
bewegt den Mund als spräche
er, ein märchenhafter Beifang.
Es gibt kein Ende oder Anfang
an dieser Fahrt, das Gestern und das Morgen angehalten,
nur dieses lange Heute, wunderlich gespalten.



Aus : Parken en Woestijnen. Amsterdam: Stols, 1940

(Übersetzung Jaap Hoepelman, Juni 2025)

Der "Afsluitdijk" (Abschlussdeich), Schnurgerade verlaufend zwischen den Provinzen Noord-Holland und Friesland, trennt er die Gewässer des Wattenmeers (NL: Waddenzee) vom Meerbusen "Zuiderzee" (NL: zee = D: Meer), der sich infolgedessen allmählig in einen Süßwassersee, "IJsselmeer" (D: See = NL: meer - können Sie noch folgen?) verwandelte. Es war eine Spitzenleistung der Wissenschaft und Ingenieurskunst, passend zum "zweiten goldenen Jahrhundert". Die erforderlichen Untersuchungen und Berechnungen wurden durchgeführt für den Staatsausschuß "Zuiderzee" unter der Leitung des Physiknobelpreisträgers Hendrik Antoon Lorenz, der mit dieser Arbeit fast zehn Jahre lang beschäftigt war. Am 28 Mai 1932 wurde die letzte Öffnung geschlossen. Es war auch höchste Zeit: Die "Zuiderzee" war ein ausgesprochen gefährliches Gewässer, das bei den Stürmen das Land regelmäßig überflutete, der letzte in Januar 1916, als große Bereiche der Zuiderzeeküste überflutet wurden (bis Amsterdam, mein Vater erzählte gerne darüber). Ein Jahr später wurde der Verkehrsweg über den Deich eröffnet. In den 1930-Jahren war eine Busfahrt über den über 32 Kilometer langen Deich selbstverständlich etwas ganz besonderes (und ist es eigentlich immer noch). Als technisches Hochständchen mutet ein Deich nicht auf Anhieb als Grund für poetische Ergüsse an. Aber für Vasalis war er der Anlass für eines der bekanntesten Gedichte der niederländischen Literatur. Der "Abschlussdeich" handelt von Zweiteilung, von Vorher und Nachher, von der Trennung von Nordsee und Zuiderzee, von der Bezwingung des ehemaligen Wasserungeheuers zum süßen (obwohl unruhigen, die Gefahr ist immer da) Binnenmeer, von Traum und Wirklichkeit, von Ordnung und Unordnung. Diese Zweiteilung wird aber Aufgehoben in der untrennbaren Verdoppelung des Spiegelbildes des fahrenden Wohnzimmers. Diese Aufhebung bestimmt auch die Struktur des Gedichtes. Der Anfang wird gemacht durch zwei faktisch beschreibende (bis zur Nackenrasur der Matrosen) ordentliche Quartette, die ein Sonett in der besten poetischen Tradition erwarten lassen. Wenn die Matrosen in der letzten Zeile des zweiten Quartetts einschlafen, ist das die Zäsur: Von einem wohlgefügten Sonett kann keine Rede mehr sein. Die Matrosen werden gnadenlos Zerschnitten, eine Zweiteilung diesmal ganz ohne Folgen. Der Kopf der Dichterin spricht wogend über Wasser wie ein Märchenwesen, Anfang und Ende, Gestern und Morgen verschwinden. Es bleibt nur ein rätselhaftes, unbeweglich zweigeteiltes Heute. 
So viele Bilder, geballt in so wenigen Zeilen...ich finde es schön.



Sonntag, 8. Juni 2025

Hans Andreus Liebespoesie: Leicht, Elegant.

 

Hans Andreus

1926-1977


Über Andreus Poesie schrieb ich in früheren Posts - seine Gedichte  sind leicht, natürlich und elegant, auch, wie hier, die Liebespoesie.

Für einen morgigen Tag

Wenn ich morgen sterbe
erzähl den Bäumen
wie sehr ich dich liebte.
Erzähl dem Wind,
der auf die Bäume steigt
und aus den Ästen fällt,
wie sehr ich dich liebte.
Erzähl es einem Kind,
jung genug, um zu verstehen.
Erzähl es einem Tier,
versuch' vielleicht allein es anzusehen.
Erzähl's den Häusern aus Stein,
Erzähle es der Stadt,
wie lieb ich dich hatte.

Aber sag es keinem Menschen,
glauben würden sie's dir nicht.
Glauben wollen würden sie's dir nicht
dass allein ein Mann,
dass allein eine Frau,
dass ein Mensch einen Menschen so liebte,
wie ich dich.

Voor een dag van morgen

Aus: Al ben ik een reiziger
Uitgeverij Holland 1959

(Übersetzung Jaap Hoepelman Juni 2025)

 

Dienstag, 27. Mai 2025

Simon Vestdijk: Schneller schreiben als Gott lesen kann.

 Simon Vestdijk

1898-1971



Vestdijks Denkmal in Doorn

Ich konnte leider keine unmittelbare Hinweise auf Napoleons Verbleib in Doorn zusammengoogeln, außer immer wieder welche auf Vestdijks Gedicht, die mir ja nicht weiter geholfen haben. Vestdijk hat aber ein Großteil seines Lebens in Doorn verbracht und ihm kann durchaus mal die Dorflegende überliefert worden sein über den Franzosenkaiser, der Unterkunft in einem Hof in Doorn gefunden hätte. Immerhin hatte Napoleon 1811 auf Inspektionsreise durch die Niederlande Amsterdam besucht
 
Napoleon wird empfangen vor einem Stadttor Amsterdams.
Bild Reinier Vinkeles

und warum sollte er nicht im zentral gelegenen Doorn Biwak gemacht haben?
Herrschaftliche Immobilien gab es in der Gegend in ausreichendem Maße,




das bekannteste wohl das "Haus Doorn", wo ein Jahrhundert später ein anderer Kaiser Refugium gefunden hat. 


Haus Doorn

Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen: Nicht weit von Doorn gibt es einen pyramidenförmigen Hügel, von einem napoleontischen General mit Ägyptenfimmel zu Ehren seines Kaisers errichtet, und später in Erinnerung an die Schlacht bei Austerlitz "Pyramide von Austerlitz" getauft. 


Braucht es überzeugendere Hinweise?

Vestdijk war Artzt und dass Napoleon an Magenkrebs gestorben ist wird ihm wohl bekannt gewesen sein. So konnte er der dem bleichen Kaiser vertraute Belagerung mit Blei und Eisen eine wesentlich bedeutendere Belagerung gegenüberstellen.

Der Hof bei Doorn

In diesem Gehöft hat Napoleon

In achtzehnhundertelf die Nacht verbracht

Es war ein Frühlingstag, lau, ohne Sonne:

Der alte Bote, der Depeschen brachte

Ins Dorf am alten Postweg, wo er Biwak machte,

Schwitzte so stark, dass er es kaum ertragen konnte.


Der kleine Raum, wo jetzt der Kaiser schlief

War staubig, roch nach Kampfer und müffelte großmächtig

Und als ein Hahn vor seinem Fenster rief;

Äusserte der Kaiser sich verächtlich:

"Le coq gaulois!" - man sagt, dass er schlecht schlief,

Die Nacht. Ihm kam der Schlaf beim ersten Nagen nicht

Des Krebses, dem er in der Fremde unterlag...

Die Furcht der Dörfler vor ihm war nur mäßig;

Zu dick war er, der Blick zu flau, 

Zu klein war das Gefolge, - die Wache ließ, nachlässig,

Sie viel zu nah heran, an den getünchten und feierlich

Von Frankreich überflaggten Bau.

Die weiße Festung hat hier immer noch Bestand:

Eine Festung wahrlich, wo der bleiche Kaiser

Zum ersten Mal den Angriff überstand

Von Furcht und Schmerz anstatt von Blei und Eisen,

Und am unmerklich Fortkriechen des Zeigers

Beim Flackern des Kerzenlichts den Tod verstand.


(Gestelsche liederen

Verzamelde Gedichten, II, 63)


Simon Vestdijk war einer der produktivsten niederländischen Schriftsteller. Er war Romancier, Dichter, Essayist, Übersetzer, Musikkritiker, was Kollege-Dichter Roland Holst zur spöttischen Bemerkung veranlasste, dass er schneller schrieb als Gott lesen könne. In seiner Wahlheimat Doorn lebte er eigentlich als ziemlicher Einsiedler, was bei seiner Produktion kaum anders vorstellbar war. Trotzdem war er als Redakteur verschiedener literarischer Zeitschriften tätig, darunter das kurzlebige, aber dafür sehr einflussreiche niederländisch-belgische "Forum" (1932-1935), mit auf der niederländischen Seite M. ter Braak und E. du Perron und auf der belgischen Maurice Roelants.  

Simon Vestdijk mit den Forumredakteuren 
ter Braak und du Perron. 

Vestdijk figurierte sogar 12 Mal in der Vorwahl für den Nobelpreis für Literatur, was für niederländische Schrifsteller das höchst erreichbare ist.

Während des 2. Weltkriegs richtete der Besatzer in 1942 das Internierungslager "Michielsgestel" für die niederländische Elite mit einem Regime, das unter den Umständen "erträglich" genannt werden konnte, ein. "Hitlers Herrengefängnis" höhnte einer der Insassen. Vestdijk wurde dort 1942-1943 interniert, in erster Linie wohl wegen seiner Verbindung zu ter Braak und du Perron, beide prominente Nazi-Kritiker, beide bei Kriegsanfang gestorben. Die erleichterten Umstände der Internierung konnten nicht vom eigentlichen Zweck der Gefangenschaft ablenken: Bei gegebenem Anlass immer einige Geiseln zum standrechtlichen Vollzug in der Hand zu haben, wie z.B. nach einem - misglückten - Überfall auf einen Güterzug in Rotterdam.

Vestdijk verbrachte seine Zeit in Michielsgestel mit frenetischem Dichten, häufig unter dem Eindruk der immerwährenden Todesdrohung.
Diese Gedichte wurden später als "De Gestelsche Liederen" herausgegeben. "Der Hof bei Doorn" stammt aus diesem Band.
Einige der Werke Vestdijks sind ins Deutsche übersetzt; für eine Übersicht klicke man HIER.



Freitag, 16. Mai 2025

Marsman. Eine Vorahnung?


Hendrik Marsman 1899-1940


In einem früheren Post berichtete ich, wie Hendrik Marsman, der Schöpfer des "beliebtesten Gedichtes der Niederlande", 1940 versuchte an Bord des Dampfers "Berenice" von Frankreich nach England zu entkommen und dabei durch einen Torpedoangriff umkam. Das Meer und Schiffe spielen eine wichtige Rolle in Marsmans Poesie und weil in der Literatur nun einmal "alles geht" ist es kein Wunder, dass das Gedicht "Überfahrt" gerne als "Vorzeichen" gedeutet wird: 

Die Überfahrt

Das einsame schwarze Boot
fährt bei Nacht und Nebel
durch eine Finsternis, grausam und groß,
dem Tod, dem Tod entgegen.

ich liege tief im stöhnenden Raum,
kalt, verängstigt und allein
und ich weine um das klare Land,
das am Horizont verschwand
und ich weine um das düstre Land,
das blass am Horizont erscheint.

wer von der Liebe getroffen ist
und ist vom Blut übermannt,
der erfuhr noch das Dunkelste nicht,
dessen Leben verging nicht für immer;
denn die letzte Niederlage
trifft das Herz wenn es kämpft mit dem Tod.

oh! die Fahrt zum ewigen Land
durch die Finsternis grimmig und groß
in der nie verblassenden Angst,
dass der Tod das Ende nicht ist.

De Overtocht

Übersetzung Jaap Hoepelman Mai 2025

Samstag, 12. April 2025

Reisender tourt Golgotha.

 Gerrit Achterberg

1905-1962

Reisender "tourt" Golgotha


Sie haben ihn, ohne danach zu fragen

ob Er es könnt' ertragen,

mit Nägeln an ein Kreuz geschlagen.


Und als Er dort dann litt und hing,

-  ein Nagel ist ein übles Ding -

sprach Er: Vater verzeih es ihnen.


Sprach Er: Sie wissen nicht was sie tun.

Sie wollten sich damit hervortun -

mal schauen - was wird Er jetzt tun?


Aber Er betete für sie,

und sterbend hatte Er für sie,

für ihr Gewissen, noch ein Alibi.


Und ich stand weiter weg, und tat,

als ob ich plauderte mit einigen Soldaten,

die nutz- und ahnungslos das, was sie taten taten.


Er aber, in der letzten Not, befahl sich

in die Hände Seines Vaters; - Noch vor Ostern musste ich

nach Jaffa hasten, dort wartete mein Schiff auf mich.


II


Dann konnte ich - auf Zypern - in der Zeitung lesen:

J.v.N., der Christus wird genannt,

der vor drei Tagen gekreuzigt ist gewesen,

dem werten Leser dieser Zeitung wohl bekannt,


ist in Seinem Grab nicht angetroffen:

Nach hartnäckigen Gerüchten war es offen, 

insgeheim hätten die Jünger sich getroffen,


als die Wärter schliefen, und den Leib entwendet.

Exaltierte Frauen hätten jedoch gemeldet,

dass sie Ihn wandern sahen in den Feldern;


Maria soll gestammelt haben: Adonai!

Fischer behaupten, dass Folgendes geschehen sei:

Am See Tiberias war Er beim Mahl dabei.

Zuständige Instanzen halten dagegen:

Das sei nur der Versuch, einen herein zu legen.


III


Rom. Der Anker fällt. Es geht nach Hause.

Jetzt schleunigst zu den Thermen um mich zu entlausen

von Rausch und Reise, und jetzt bei mir zuhause


bei Frau, Kamin und Funk gesessen,

sind Kreuz und Christus bald vergessen.

...Dann hat ein S.O.S. sich in mein Herz gefressen: 


"Es gießt mein Geist sich aus auf alles Fleisch,

wer jetzt nicht für Mich ist, ist gegen Mich", so heißt es

aus Geheimem Sender gleißend heiser.


Die Segel neu gesetzt, über Einsamkeiten

der Ozeane, welche uns entzweien.

Christus, will am Ende mir erscheinen.


Gerrit Achterberg 1943

Reiziger 'doet' Golgotha

Aus Verzamelde Gedichten (2003).


Übersetzung Jaap Hoepelman April 2025

Dienstag, 1. April 2025

Hans Lodeizen. Der Perk der Fünfziger...?

 

Hans Lodeizen 1924 - 1950


Hans Lodeizen war der Sohn des Präsident-Direktors der Rotterdamer Reederei Müller&Co* und war als solcher aller materiellen Sorgen enthoben. Seit seiner frühen Jugend litt er aber unter einer schwachen Gesundheit, einer Asthma, die ihn zu einem einsamen Kind machte und ihn in Gymnasium behinderte. Später fing er ein Studium an der Universität von Amherst (Mass.) an, das er nicht abschließen konnte. In Amherst traten erste Symptome der Leukämie auf, an der er in 1950 in Lausanne starb. In seinem kurzen Leben erschien von ihm nur ein Gedichtband, "Het innerlijk Behang" - "Die innerliche Tapete". Weil er sehr jung starb, weil seine Poesie neu und andersartig war als die der Vorgänger, und weil bald nach seinem Tod mit der Bewegung der Fünfziger eine Welle der Erneuerung einsetzte, wird er wohl mit Jacques Perk, dem Vorläufer der Achtziger des 19. Jahrhunderts verglichen. Perks hochgestimmte Feier der Dichtkunst war ihm aber völlig fremd. Lodeizens Gedichte sind unprätentiöse, reimfreie, scheinbar lose zusammengefügte Prosatexte voller Bilder und Assoziationen über Verlassenheid und Trauer. Lodeizen passte nicht in dieses Leben und als Homosexueller schon gar nicht in das Leben während und kurz nach WKII. Als Erneuerer kurz nach einem Krieg nach dem es keinen Sinn mehr hatte weiter zu machen in den hergebrachten Formen, erinnert er eher noch an Paul van Ostaijen, kurz nach WKI, auch er jung gestorben, auch er ein großer Beender der Tradition. Lodeizens neue Dichtkunst aber kam sehr gut an. Vom einzigen Band "Het innerlijk Behang" gab es bis 1990 15 Auflagen. 1996 erschien eine vollständige wissenschaftliche Ausgabe "Gesammelte Gedichte" (Uitgeverij G. A. van Oorschot, Amsterdam, 1996)

Die Melancholie eines Unverstandenen erschließt sich vielleicht nicht auf den ersten Blick, aber die besten Gedichte sind nicht die, die man sofort  versteht, sondern die, die man verstehen möchte.

[Erzählungen und Unglücke]

Erzählungen und Unglücke gingen immer zusammen
in diesem Land; der König
ging im Hermelinmantel zu Bett
inmitten seiner Hofdiener
und schlief schlecht wegen des unaufhörlichen
Gewirr der Stimmen um ihn herum;
zwei Kammerdiener, die sich stritten um sein Beinkleid
oder ein Page, Witze reißend über seine Strümpfe;
Es war ein Land mit fremdartigen Leuten,

und doch: hier lebte er und war glücklich, unter
dem Pöbel war er zuhause, wie unter der Elite;
er kannte keinen Frieden
groß genug um die unermesslichen
Strände seines Gefühls zu füllen, kein Ruf
war schnell genug, die Winde einzuholen
- es war ein aussichtsloses Unterfangen
zu klagen und er klagte nicht.


aus: Hans Lodeizen "Het innerlijk behang" Van Oorschot Amsterdam (1949).

(Übersetzung Jaap Hoepelman, April 2025)

Langsam

Winter, du bist ein Schlechter,
in den Häusern versteckst du dich
wie ein Kind sehe ich dich, wie du in alle Schulen
hinein rennst mit deinem Leib
versteckt im Ranzen oh Winter du bist
ein schlechter Lehrer.

Ein kleines bisschen Feuerwerk damit
bin ich zufrieden o Winter gib mir
etwas Fröhlichkeit schneide eine Scheibe
ab von diesem Mittag werfe ein Märchen
in das Gewässer der Nacht
oh schlechter Lehrer.

Tag schlechter Winter, Scherenschleifer,
mit verschrammten Knien rennst du
über den Schulhof wie Murmeln
aus den Wolken eines Himmels zum blauen
Hemd, wo die weiße Kreide reitet eines
schlechten Lehrers.

aus: Hans Lodeizen "Het innerlijk behang" Van Oorschot Amsterdam (1949).

(Übersetzung: Jaap Hoepelman Februar 2019)


*Es ist ein "fait divers" in diesem Zusammenhang, aber es vermittelt doch einen Eindruck von Lodeizens Umgebung. Das Handelsunternehmen Müller & Co. dessen Vorstandsvorsitzender Lodeizens Vater war, wurde 1876 in Düsseldorf gegründet. In 1889 übernahm Anton Kröller (verheiratet mit Hélene Müller, der Tochter von Wilhelm Müller) die Leitung der Rotterdamer Niederlassung. Hélene Müller ist die Stifterin der Sammlung Kröller-Müller, beheimatet auf einem Landgut in Osten der Niederlande, mit einem Museum und einem vom berühmten Architekten Berlage entworfenen Jagdschloss.
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Das Museum enthält eine berühmte Skulpturen- und Gemäldesammlung, insbesondere die, nach dem Van Gogh Museum in Amsterdam, zweitgrößte Sammlung Van Goghs der Welt. 

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Ein gutes Beispiel für Lodeizens lakonische aber bedeutungsreiche Bildersprache fand ich immer "An einem sehr warmen Sommertag", in dem Titel und Gedicht nahtlos in einander übergehen:

An einem sehr warmen Sommertag

er hatte
alle Formen der Trauer
im Körper ertränkt

doch Angst
mit Hut und Regenschirm
wartete im Vestibül.

aus: Hans Lodeizen "Het innerlijk behang" Van Oorschot Amsterdam (1949).

Übersetzungen: Jaap Hoepelman Februar 2019, April 2025

Montag, 24. März 2025

Een Kaasboer uit Gouda und mehr Blödsinn.





Auf der Suche nach Spaßgedichten im Niederländischen begegnet man unweigerlich dem Limerick. Der Limerick wird besonders geschätzt, wenn er interne Reime, Wortspiele, ein gewisses Maß an Absurdität und  Anzüglichkeiten beinhaltet. Auf letztere habe ich selbstverständlich verzichtet. Limericks stammen aus England, sie sind etwas altbacken und sie waren eine Zeitlang ziemlich beliebt in den Niederlanden. Ein großer englischer Vertreter des Genres war Edward Lear. In den Niederlanden war John O'Mill einer der Anwender der Form. Als ich auf dieses Beispiel des Alex van der Heide stieß

Er was eens een kaasboer uit Gouda,
die liep rond de tafel zijn vrouw na.
De vrouw zei heel vief:
'Alles is relatief;
als ik iets harder loop, zit ik jou na!' *

verspürte ich Lust mich daran zu versuchen - meinen guten Ruf hatte ich in vorherigen Posts sowieso schon ruiniert. Hier das Ergebnis:

Ein Jäger mit Schießgewehr in Leer Jagte die Jägerin im Kreisverkehr. "Ach, es ist relativ", Sagte sie, wärend sie lief, "Bin ich schneller, bin ich hinter ihm her".  

Weil die Sünde schmeckte, entschied ich mich auf eigene Faust mehr zu versuchen:

Ein gewisser Giovanni aus Mailand
Verschlang einen Haxen mit Fettrand
Dann wurde ihm schlecht
Er lag ausser Gefecht
Am Wiesenfestrand, wo das Klo stand.

Einem rüstigen Rentner aus Ommen
War das dritte Gebiff weggekommen
Der Nachttiff war leer
Und er ffusste nicht mehr
Habe iff oder ffie es genommen

Ein Kapellmeister aus Mönchengladbach
Wollt' wissen, wer den gräßlichsten Krach macht.
Sollt' es Beethoven sein?
Denn der haut übelst rein,
Wenn er nicht einen auf Bach macht.

Ok, weil ihr alle begeistert seid, einer für Physikliebhaber:

Ein Physiker aus Anhalt-Zerbst
Machte Schrödingers Test mit sich selbst.
"Auch wenn es dauert,
Darum nicht getrauert,
Ich überlagere gern bis zum Herbst".

und hier noch einer für's Alter:
Ein alter Opa aus Malmsheim
Pfiff sich pfundweise blaue Pillen rein.
"Ich geh mit der Zeit
Und jetzt bin ich bereit
Für meine Pflichten im Altersheim".


(Jaap Hoepelman, März 2025)

(*Diesen Limerick, zusammen mit dem berühmten Achmad aus Bagdad findet man hier)

 

Freitag, 14. März 2025

Sankt Drachus und der George. Eine Fingerübung.


 In meinem letzten Post habe ich mich mal wieder in die seichten Gewässer des niederländischen Spaßgedichtes begeben und mich noch einmal an John O'Mill versündigt. Dieses Mal will ich mich an einem seiner bekannteren Reimen, der Ballade "Sint Dracus en de Joor", geschrieben in der Technik des "Spoonerismus", versuchen. Im Spoonerismus (benannt nach  William Spooner, einem Geistlichen zu Oxford, der daran litt) werden Wortanfänge in Sätzen vertauscht (oder auch Buchstabenfolgen innerhalb Wörter), mit einer hoffentlich komischen Wirkung, wenn geschickt eingefädelt.

Avec mes tendres excuses pour ce qui va suivre...

Sankt Drachus und der George

Sankt Drachus in seiner ränzenden Glüstung
Ritt im Schritt in einer lunklen Dichtung
Jäh halten Rerd und Pfeiter ein
Erschreckt vom schrauenhaften Grein
Ist eine Neele dort in Sot
Ergriffen von dem talten Kot?
Sankt Drachus spaut die Horne rein
Dort wo er hört des Schrotrufs Nein
Das Erbspiel, das er jetzt schaulickt
Ihn vor Ersetzen schier entstickt.
Das Gruppenungeheuer, das schößte,
das zähsige Klauen und riene entblößte!
Am Feden, vor den Bolsen liegt
(Die Gesände vor dem Hicht geschmiegt)
Die munge Jagd! Macht Drachus ach! verrückt!
Mit güldner Kone ist der Kropf geschmückt.
Sankt Drachus, obschon ihm zumu bangte
Mutig im Lanten zur der Reize langte
Und weiss ihm ohne stab zu eigen
Den Lachmann an der Fanz' zu zeigen.
Noch fluckt es Spammen, brümmt ein Kein
Dann tinkt die Lanze siefer ein.
Die munge Jagd lässt einen Schreudenfrei
Sagt ritternd, dass er ihr Zetter sei.
Er hetzt sie sin, so kest er fann
Und singt brie aus dem Trachendann.
Die Varg des Buters ist nicht fern,
Dort ihmt man dank, man hankt dem Derrn.
"Drachus", spricht Kater, "vomm zu mir".
Doch Drachus hählt das Wasenpanier.
Lang viert der Stater in die Nacht,
Küttelt den Schopf, hat nache langgedacht.
Eher ein verpasster Wiedemann.
Die ganze Neiße fängt von Scheuem an.

(Übersetzung Jaap Hoepelman 14.03.'25, frei nach John O'Mill)

Sint Dracus en de Joor (Version 1960)

Donnerstag, 6. März 2025

John O'Mill. Der nüchterne Niederländer

In der jetzigen traurigen Zeit wollte ich etwas anderes als immer nur die übliche poetische Trübsal blasen. Heute greife ich zunächst mal zurück auf John O'Mill. Es passt irgendwie...


                                                                                                                                                                        Johan van der Meulen (John O'Mill)                                                                                                                                                                         (1915-2005)              


Der nüchterne Niederländer

Das Bild des Leiters,

Jetzt, damals, oder wie auch immer,

hängt in Russland in jedem Klassenzimmer.

Der Yank will, dass in Yankeeland

Die Yankeefahne hängt an jeder Klassenwand. 

Was hängt beim nüchternen Niederländer?

Der Lebensversicherungskalender.



Übersetzung Jaap Hoepelman März 2025

 (frei nach John O'Mill)


De nuchtere Nederlander

Freitag, 21. Februar 2025

Die Israelitische Laubhütte



Anthony Christiaan Winand Staring (1767-1840) geportretteerd door P Velyn, uitgeven doorJohannes Immerzeel
Antoni Christiaan Wijnand Staring
1767-1840


In einem früheren Post habe ich schon einige Zeilen über Staring als Dichter der Übergangszeit zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert geschrieben. Als rationellen Romantiker und Christ könnte man ihn beschreiben und als toleranten, aufgeklärten Mann. 
Toleranz und Rationalität waren nicht gerade hervorstechende Eigenschaften der vergangenen Jahrhunderte, auch nicht in den Niederlanden. Juden waren bis 1796 nicht gleichgestellt. Katholiken, Remonstranten, Lutheraner und andere im Übrigen auch nicht. Über diese Diskriminierung bis 1796 und danach schrieb ich in einem andern Post, aber aufgeklärtere und tolerantere Tendenzen, auch den Juden gegenüber, waren früh zu erkennen. Auf der einen Seite, weil die Republik der Niederlande, im Aufstand gegen das inquisitorische Spanien, Verständnis hatte für die geflüchteten Juden, auf der anderen aus schnödem Eigeninteresse. Hugo Grotius z.B., der berühmte Rechtsgelehrte, beführwortete die Zulassung der Juden auf Grund des zu erwartenden Profits*.  Ich sehe das nicht unbedingt als schlimmen Vorwurf, sondern vielmehr als Beleg dafür, dass, wo Ideologie Toleranz eher ausschließt, Eigeninteresse gerne einen vielleicht nicht gar so blütenweißen Weg findet. Den kleinen, hinterfotzigen Antisemitismus gab es zweifellos. Die ethisch-tolerante Komponente gab es aber auch. Revius' berühmtes Gedicht "Er trug unsere Schmerzen", vom Historiker Jaques Presser eines der schönsten Gedichte der calvinistischen Niederlande genannt, scheint mir nicht von gewinnsüchtigen Interessen bestimmt. Vertreter  der frühen Aufklärung und Rationalität findet man in Jeremias de Decker und natürlich in Spinoza, dessen Leben zu seiner Zeit in einem anderen Land schlicht unmöglich gewesen wäre. Nicht vergessen sollte werden, dass Philosophen wie Descartes, Locke und Bayle in den Niederlanden Zuflucht gefunden hatten und von dort aus einen beträchtlichen Einfluss ausübten.
In Staring also kamen diese Elemente zusammen: Er war ein rationeller Romantiker und toleranter Christ. In diesem Sinne unterschied er sich ziemlich von der Kleinkariertheid, die die Niederlande noch lange Zeit im Griff hatte.


Die Israelitische Laubhütte


Wer voller Hohn zur Hütte kam -
Nicht ich, Du Kind von Abraham!
Entbiet' ich ehrlichen Gemuts,**
Der Schwelle meinen Friedensgruß!

Dein Fest begehst Du, sitzend dar,
Getrost in Deiner Kinderschar,
Im Schatten Deines Laubverschlags,
Wie Dir von Mose einst gesagt.
Judeas Rebstock grünt hier nicht;
Oliv' und Feige reifen nicht;
Du erntest in der rauen Luft
Nicht reiches Laub, nicht süße Frucht;
Und doch bist Du gesessen dar,
Getrost in Deiner Kinderschar;
Das Festzelt hier ein Örtchen fand
Wie einst in Palästinas Land.

Dreitausend Male schloss die Sonne
Den Kreis, wo sie das Jahr begonnen,
Noch immer baust Du den Verschlag,
Wie einst von Mose Dir gesagt.

Jerusalem ist tief entehrt;
Des Tempels Mauern sind verheert;
Verflossen ist schon längst die Zeit
Des Glanzes beider Herrlichkeit.
Trotzdem, Dein Zelt steht jedes Mal
Bei Völkerschaften ohne Zahl,
So bald die Schal' am Himmelszelt,
Das Tagesmaß hat gleichgestellt.***

Wir - tasten in Unsicherheit;
Die Wiege liegt in Dunkelheit;
Dass Gott uns hat hierhin gebracht,
Wird nicht gefeiert, nicht gedacht!

Dreitausend Jahr' hast Du gezählt,
Dass Dich der Ew'ge auserwählt;
Dass, als Du flohest vor Gewalt,
Sich öffnete im Meer ein Spalt;
Dass, ohne Dach, ein Leben lang,
Die Schare ging den Endlosgang;
Die Wolkensäule führt' den Zug,
Und Manna war Dir Speis' genug.
Du feierst bis zur heut'gen Zeit,
Dass Gottes Arm Dich hat befreit.

Deswegen, ehrlichen Gemuts,
Entbiete ich den Friedensgruß.
Wer voller Hohn zur Hütte kam -
Nicht ich, Du Kind von Abraham!


De Israelitische Loverhut

Aus: Staring 1836/1837 Gedichten
Arnhem, Nijhoff.

Vertaling Jaap Hoepelman Februar 2025

Dirk Jansz van Santen:

Jüdisches Laubhüttenfest, Bibelillustration (1682)


* Doctoraalscriptie Paul Hendriks Leiden 1997

**"ehrlichen Gemuts"...ich weiß, ich weiß. Mangels Reimwortes war ich auf der Suche nach Assonanzen für meinen quasi-altmodischen Text und fand eine passende Stelle:

Eines ehrlichen auffrichtigen Gemuts zuseyn/ nicht ruhmräthig vnd geitzig/ der mit eim billichen Lohn

*** Gemeint ist die Zeit nach dem Mondkalender, die Tag-und-Nachtgleiche, in der Tag und Nacht ungefähr gleich lang sind und in der das Laubhüttenfest gefeiert wird (September, Oktober).







de Afsluitdijk - der Abschlussdeich

M. Vasalis (1909 -1998) ( Margaretha Drooglever-Fortuyn-Leenmans) Afsluitdijk - Abschlussdeich Der Bus fährt wie ein Zimmer durch die Nacht ...