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Donnerstag, 4. Januar 2024

Du Perron: Vorm of Vent - Muse oder Macker.

 

Charles Edgard (Eddy) du Perron 
1899-1940

Wie Couperus (1863-1923) war Charles Edgar du Perron ein Kind der niederländischen
 Kolonialgesellschaft,    
                                                                           

wie Couperus erwies du Perron sich als ungeeignet für die traditionelle Schulbildung, wie Couperus schaffte er es trotzdem, die Ausbildung mit einem Diplom als Niederländischlehrer abzuschließen  und wie Couperus entwickelte du Perron sich zu einem Autor mit weit über die Niederlande hinausgehenden literarischen Kontakten und Interessen. Die französische Großgrundbesitzer-Familie du Perron war in Indien vermögend geworden und der junge Charles Edgar konnte sich seine mäßigen schulischen Ergebnisse recht unbekümmert leisten.  1921 verkaufte die Familie ihre umfangreichen Besitztümer in einem Ort mit dem kuriosen Namen "Meester Cornelis", um 1926 nach wallonisch Belgien umzusiedeln, wo sie das Schloss Gistoux erworben hatte.

Schloss Gistoux

Der junge mehrsprachige (darunter auch  Malaiisch) du Perron hatte schon in "Meester Cornelis" mit journalistischen und literarischen Aktivitäten angefangen  und, eingeengt auf Gistoux, fühlte er sich bald von den Niederlanden, aber mehr noch von Brüssel und Paris angezogen, wo er sich eifrig in das literarische und künstlerische Leben stürzte. Er hatte intensive Kontakte zu André Malraux, der ihm sein magnum Opus "La Condition Humaine" widmete. Zu einem anderen Aspekt seiner Persönlichkeit gehörten seine Beziehungen zu den etwas aus dem üblichen literarischen Rahmen fallenden Schriftstellern Pascal Pia und René Bonnel. Während einer der Pariser Soirées, an der eine glänzende Auswahl an Künstlern und Intellektuellen teilnahm, hat unser heißblütiger, hoffnungsvoller Dichter Clairette Petrucci kennengelernt, die Adressatin des hier übersetzten Abschiedsgedicht "P.P.C." ("Pour Prendre Congé", "Zum Abschied").  

Clairette Petrucci

Abgesehen von den persönlichen Affären war du Perron ein konzentrierter, ja besessener Arbeiter und Leser. Erste Arbeiten konnte er auf eigene Kosten herausgeben und er konnte seinen Wirkungskreis bald durch einschneidende Kritiken und Essays erweitern.  Sein Einfluss in Belgien und den Niederlanden war beträchtlich. Zu den niederländischen und belgischen Literaten seines Kreises gehörten u.a. van Ostaijen, Elsschot, Slauerhoff und Roland Holst. 1932 gründete er zusammen mit dem niederländischen Kritiker und Essayisten Menno ter Braak und dem flämischen Romanautor und Dichter Maurice Roelants die Zeitschrift "Forum", mit dem Ziel, die flämischen und niederländischen Beiträge gemeinsam herauszugeben. Das Vorhaben erwies sich als nicht lebensfähig und "Forum" wurde in flämische und niederländische Bereiche aufgespalten, der niederländische Bereich unter der Leitung des Romanautors und Dichters Simon Vestdijk. Die Zeitschrift überlebte nur bis 1935, hatte aber einen großen Einfluss, dessen Spuren durch scharfe Polemik, Essayistik und den Stil der "neuen Sachlichkeit" bis heute nachspürbar sind.  Das hier übersetzte "P.P.C." aus dem entsprechend "Parlando" ("Sprechenderweise") genannten Gedichtband ist hierfür ein gutes Beispiel.
In einer Zeit zunehmender politischer Bedrohung schien die Beschäftigung mit schöngeistiger Literatur, mit Poesie um der schönen Form willen - zum Teil noch herübergeschwappt von den Achtzigern - den Forumsfreunden immer weniger angebracht. Wichtiger erschien die Kunst, die den aufrichtigen persönlichen Standpunkt - nicht unbedingt politisch - sichtbar machte. Diese Diskussion klang noch lange nach in der niederländischen Literatur, unter dem nicht ganz ernst gemeinten Schlagwort "vorm of vent", in etwa "Muse oder Macker".
 Schloss Gistoux entwickelte sich zu einem Treffpunkt niederländischer, belgischer und französischer Literaten, aber als 1936 du Perrons Mutter starb (der Vater hatte sich 1922 umgebracht), stellte sich in der tiefsten wirtschaftlichen Depression heraus, dass Schloss Gistoux unverkäuflich war. Du Perron war ruiniert und versuchte in Niederländisch-Indien wieder Fuß zu fassen. Das Vorhaben missglückte, teils weil sich herausstellte, dass die von ihm verhasste national-sozialistische Haltung sich in der Kolonial-Gesellschaft tiefer verbreitet hatte, als es du Perron ertragen konnte. Zurück in den Niederlanden ließ du Perron sich in der niederländischen Künstlerkolonie Bergen 1939 nieder. Dort starb er - immer schon ein Asthmapatient -  am14. Mai 1940 an Herzversagen, nach der Nachricht des deutschen Überfalls auf die Niederlande, am gleichen Tag wie der Künstlerfreund Menno ter Braak, der sich aus gleichem Grund umbrachte. Nebenbei bemerkt, wurde im Juni 1940 das Schiff, auf dem der Freund beider, der Dichter Hendrik Marsman, von Frankreich nach England zu entkommen versuchte, torpediert. Marsman gehörte nicht zu den Überlebenden. Der Dichter Leo Vroman konnte sich gerade noch mit einem Segelboot nach England retten. Die Zeiten waren nicht die besten...
Als ein Hauptwerk du Perrons gilt "Het land van Herkomst" ("Das Herkunftsland"), ein teilweise autobiografischer, teilweise essayistischer und zeitkritischer Roman, der von einigen zum Besten der niederländischen Literatur zwischen den Weltkriegen gerechnet wird. Dem von ihm und ter Braak bewunderten Schriftsteller Multatuli widmete er 4 Werke.
Zu seinen Arbeiten gehört des weiteren eine Reihe von Erotika, Essays und Polemiken, zudem Gedichtbände, darunter eben "Parlando".
Die abgekanzelte Clairette Petrucci, die Adressatin der perronschen gekränkten Schimpfe in "P.P.C.", war alles andere als beschränkt und engstirnig. Nach allem, was ich gelesen habe, war Clairette eine höhere Tochter, ein begabtes, kunstsinniges, modernes, unabhängiges Mädchen. Ihr Vater war der Kunsthistoriker und Sinologe an der Sorbonne Marquis Raphael Petrucci, ihre Mutter die Flämin Claire Verwee, Tochter eines bekannten Malers und zuhause in einer breit gestreuten Gesellschaft bekannter Künstler, darunter der berühmte Hendrik Willem Mesdag, der Schöpfer des Mesdag Panoramas in den Haag. Auch Clairettes unmittelbarer Bekanntenkreis war exzellent und man kann sagen, dass sie dem kolonialen Provinzbub in vielen Hinsichten voraus war, gerade auch in den neuesten literarischen Entwicklungen, was seinen Eifer zusätzlich angestachelt haben mag.

Panorama Mesdag den Haag.
Detail.

Clairette hatte nun wirklich keinen Grund auf die Avancen des so wohlhabenden wie unreifen Teenagers einzugehen. Du Perrons Wutausbruch war wohl in erster Linie das Ergebnis jugendlicher Sturheit. In der Liebe gekränkte Poeten können sowieso auf eine lange, ehrwürdige Tradition zurückblicken, 
wie z.B. Focquenbroch

Sonett

Wie könnte ich, o schöne Klorimene, dir
gefallen, ich, der ich als Mensch geboren
und du, so scheint's, hast einen dir erkoren,
der jetzt dein Herz hat, einen wie ein Tier.

Ach, jetzt versteh' ich: nur mit einem Biest
das weibliche Geschlecht zur Liebe ist bereit.
Herr Jupiter begriff es, als vor langer Zeit
er öfters göttlich aufs Gesicht gefallen ist,

weswegen endlich er, zum Besseren belehrt,
für Leda hat den Schwan herausgekehrt
und Frau Europa hat entführt als Stier.

Es kann also noch Mensch noch Gott gewinnen:
Wer eine Liebschaft will mit einer Frau beginnen,
muss mehr nicht sein, als nur ein Tier.

(Klinkdicht)

Übersetzung Jaap Hoepelman,
Dez. 2021 

Billet Doux

Ich wollte ein Gedicht auf einem Fächer schreiben,
Sodass du mit den Worten wedeln kannst
Und die Zeilen, möchtest du im Traum verbleiben
Ungerührt zusammenfalten kannst.

Doch mehr noch wollte ich, dass ich sie innen
Drin auf deinem Kleidchen schreiben könnte
So dass zugleich mit Seide oder feinem Linnen
Mit Gedanken ich dich streicheln könnte.

Ich schriebe diesen blöden Wunsch dir nicht
Wäre ein gänzlich irrer mir erfüllt gewesen:
Einmal zu halten in den Armen dich...
Engelsgeduld ist es gewesen.

Billet Doux (aus "verzamelde gedichten", 1947)

Übersetzung Jaap Hoepelman, Januar 2020

Du Perron reiht sich somit virtuos in ein gerne geübtes literarisches Genre ein:

P.P.C. (Pour Prendre Congé)
Eduard Du Perron (1899-1940)

Lebwohl, Clary. Ich sage nicht mach's gut.
Das klingt so dumm, bei denen gar, die's meinen.
Du hast Dich gut verkauft. Und ruhig Blut
im Übrigen: Denn alle Menschen weinen.

Dein Haus war klein. Dein Herr machte es groß.
Sein Reichtum, hieß es, sei erheblich.
Dein Ruhm wird groß und bald ist man mich los.
Dein Geist blieb klein. Ich mühte mich vergeblich.

Dein Leib ist gut. Du bist ein schönes Weib.
Dem Gatten wirst Du viele schöne Kinder schenken.
Dein Herz ist eng; ich wette, dass Du bei ihm bleibst.
Hochstehend wirst Du stets den guten Ruf bedenken.

Lebwohl Clary: Mich wirst du nicht mehr sehen.
Ich werd' Dich meiden, in den Träumen allemal.
Du warst mein Traum; ich lernte Dich verstehen:
Bleib wie Du bist. Ich hasse Dich total.

Übersetzung Jaap Hoepelman
Dezember 2023

P.P.C.  (Parlando  Verzamelde gedichten. 1941)

Nach einer etwas wilden Periode, die ihm über den Verlust hinweghalf, heiratete du Perron 1932 die Kunstkritikerin, Übersetzerin und Essayistin Elisabeth de Roos, die sich um den Nachlass ihres Mannes kümmerte.

Freitag, 5. September 2025

Ed Hoornik. Prophetisches im Alltäglichen.



Pogrom 
1938

                                                                                       Ed Hoornik 1910-1970

Die Poesie der Pfarrer wurde von den "Achtzigern" (wir sprechen vom 19. Jahrhundert) als hausbacken verspottet und regelrecht in die Verdammnis geschrieben. Die Achtziger ersetzten sie durch die Anbetung der poetischen Schönheit und den individuellsten Ausdruck der individuellsten Gefühle. Nach den Schrecken des ersten Weltkriegs aber war die Zeit der formvollendeten Lyrik vorbei. In Flandern, wo der erste Weltkrieg heftig wütete, beendete Paul van Ostaijen das Erbe der Achtziger. Er schrieb in Umgangssprache und scherte sich nicht um die ehrwürdigen Formen der überlieferten Poetik. Die Niederlande waren von der Katastrophe verschont geblieben; hier wirkte die Tradition der Achtziger länger nach, z.B. in sehr beachtlichen Dichtern wie Leopold und Boutens. Als die Zeiten immer bedrohlicher wurden, war es auch in den Niederlanden mit der Tradition der dichterlichen Dichter vorbei. In der Zeitschrift "Forum" wurde der Ausdruck eines persönlichen Standpunktes gefordert, anstatt eines wohligen Verbleibs in der makellosen Form. Die Diskussion trug den Namen "Vorm of Vent" ("Muse oder Macker"). Der Literat du Perron verzichtete, wie van Ostaijen, auf die poetische Sprache zugunsten der Umgangssprache. Diesen Stil nannte man "Parlando". Er hatte großen Einfluß, auch bei "unpolitischen" Dichtern, wie Achterberg und Vasalis.
In Amsterdam übernahmen Maurits Mok, Jac. van Hattum, Gerard den Brabander und Ed Hoornik diesen Stil, mit einer Vorliebe für die kleinen Dinge, das Anekdotische, den Spott, die Umgangssprache, das "Normale". Wenn man an die Genremalerei denkt, sind das eigentlich sehr "niederländische" Besonderheiten. Die vier wurden sogar zur "Amsterdamer Schule" erhoben.
Die drei letztgenannten gaben einen gemeinsamen Gedichtband heraus mit dem Titel "Drie op één Perron" (Drei auf einem Bahnsteig), damit anspielend auf den Einfluß du Perrons. Heute werden sie nur noch selten zitiert, dafür haben van Hattums schöne Schlußzeilen aus "140 Pond" ("140 Pfund") in alter Frische überlebt:

"Hoe meer ik drink, hoe meer ik eet,
  Hoe meer gewicht van Hattum heet".

"Je mehr getrunken, je mehr gespeist,
je mehr Gewicht van Hattum heißt"

Die kleinen Themen, das Normale und Anekdotische waren sowieso für keinen der Dichter besonders tragfähige Konzepte, und Hoornik wendete sich aus einem besonderen Grund von ihnen ab: 
Er war eine sehr prominente literarische Persönlichkeit. Er war Romanschreiber Dichter Zeitschriftenredakteur, Theaterautor, Rezensent - und ein ausgesprochener Gegner des Nationalsozialismus'. Als Zeitungsrezensent befolgte er nicht die Zensurvorschriften der deutschen Besatzung, sein hier übersetztes Gedicht wahr wohlbekannt. Infolgedessen musste er untertauchen, wurde aber verhaftet und in das Gefangenenlager Vught verbracht, in dem viele Vertreter der niederländischen Prominenz als Geiseln gehalten wurden. Einer von ihnen war der Romanautor und Dichter Simon Vestdijk, von dem ich in diesem Blog ein Gedicht übersetzt habe.
In Mai 1944 wurde Hoornik nach Dachau transportiert, wo er von den Amerikanern befreit wurde. Nach all dem Erlebten war eine Weiterführung der Poesie des "Alltäglichen" nicht länger möglich und Hoornik wandte sich einer eher theologischen und metaphysischen Thematik zu. 
Aber gerade in der Poesie des Alltäglichen und Normalen war Hoornik imstande in einem klassisch gewordenen Gedicht das ganz und gar nicht Alltägliche und Normale, das da kommen würde, zu prophezeien:

Pogrom

Ist das der Mond, in seinem letzten Viertel
oder ein Gesicht, im Qualm- und Flammenrahmen?
Wo ist Berlin, und wo das Scheunenviertel?
Flüchtete der Junge, als die Banden kamen?
-
Ist das sein Schatten, der am Ufer steht
ist dies das Wasser, das ihn langsam nahm,
ist dies die Grenadierstraße, von dem es hin zur Spree geht?
Es ist der Amstelstrom, und dies ist Amsterdam.
-
Am Rembrandtsplein geht jetzt der Tag zu Ende,
über den Dächern beenden Lichtfontänen ihn...
Ich press' die Nägel tiefer in die Hände.
-
De Jodenbreestraat führt zu einem Abgrund hin;
ich sehe meinen Schatten zucken an den Wänden...
Zehn Stunden dauert nur die Bahnfahrt nach Berlin.


Ed. Hoornik (1910 – 1970)
aus: Steenen (1939)
Verlag: A.A.M. Stols

Übersetzung Jaap Hoepelman September 2025


 

Dienstag, 27. Mai 2025

Simon Vestdijk: Schneller schreiben als Gott lesen kann.

 Simon Vestdijk

1898-1971



Vestdijks Denkmal in Doorn

Ich konnte leider keine unmittelbare Hinweise auf Napoleons Verbleib in Doorn zusammengoogeln, außer immer wieder welche auf Vestdijks Gedicht, die mir ja nicht weiter geholfen haben. Vestdijk hat aber ein Großteil seines Lebens in Doorn verbracht und ihm kann durchaus mal die Dorflegende überliefert worden sein über den Franzosenkaiser, der Unterkunft in einem Hof in Doorn gefunden hätte. Immerhin hatte Napoleon 1811 auf Inspektionsreise durch die Niederlande Amsterdam besucht
 
Napoleon wird empfangen vor einem Stadttor Amsterdams.
Bild Reinier Vinkeles

und warum sollte er nicht im zentral gelegenen Doorn Biwak gemacht haben?
Herrschaftliche Immobilien gab es in der Gegend in ausreichendem Maße,




das bekannteste wohl das "Haus Doorn", wo ein Jahrhundert später ein anderer Kaiser Refugium gefunden hat. 


Haus Doorn

Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen: Nicht weit von Doorn gibt es einen pyramidenförmigen Hügel, von einem napoleontischen General mit Ägyptenfimmel zu Ehren seines Kaisers errichtet, und später in Erinnerung an die Schlacht bei Austerlitz "Pyramide von Austerlitz" getauft. 


Braucht es überzeugendere Hinweise?

Vestdijk war Artzt und dass Napoleon an Magenkrebs gestorben ist wird ihm wohl bekannt gewesen sein. So konnte er der dem bleichen Kaiser vertraute Belagerung mit Blei und Eisen eine wesentlich bedeutendere Belagerung gegenüberstellen.

Der Hof bei Doorn

In diesem Gehöft hat Napoleon

In achtzehnhundertelf die Nacht verbracht

Es war ein Frühlingstag, lau, ohne Sonne:

Der alte Bote, der Depeschen brachte

Ins Dorf am alten Postweg, wo er Biwak machte,

Schwitzte so stark, dass er es kaum ertragen konnte.


Der kleine Raum, wo jetzt der Kaiser schlief

War staubig, roch nach Kampfer und müffelte großmächtig

Und als ein Hahn vor seinem Fenster rief;

Äusserte der Kaiser sich verächtlich:

"Le coq gaulois!" - man sagt, dass er schlecht schlief,

Die Nacht. Ihm kam der Schlaf beim ersten Nagen nicht

Des Krebses, dem er in der Fremde unterlag...

Die Furcht der Dörfler vor ihm war nur mäßig;

Zu dick war er, der Blick zu flau, 

Zu klein war das Gefolge, - die Wache ließ, nachlässig,

Sie viel zu nah heran, an den getünchten und feierlich

Von Frankreich überflaggten Bau.

Die weiße Festung hat hier immer noch Bestand:

Eine Festung wahrlich, wo der bleiche Kaiser

Zum ersten Mal den Angriff überstand

Von Furcht und Schmerz anstatt von Blei und Eisen,

Und am unmerklich Fortkriechen des Zeigers

Beim Flackern des Kerzenlichts den Tod verstand.


(Gestelsche liederen

Verzamelde Gedichten, II, 63)


Simon Vestdijk war einer der produktivsten niederländischen Schriftsteller. Er war Romancier, Dichter, Essayist, Übersetzer, Musikkritiker, was Kollege-Dichter Roland Holst zur spöttischen Bemerkung veranlasste, dass er schneller schrieb als Gott lesen könne. In seiner Wahlheimat Doorn lebte er eigentlich als ziemlicher Einsiedler, was bei seiner Produktion kaum anders vorstellbar war. Trotzdem war er als Redakteur verschiedener literarischer Zeitschriften tätig, darunter das kurzlebige, aber dafür sehr einflussreiche niederländisch-belgische "Forum" (1932-1935), mit auf der niederländischen Seite M. ter Braak und E. du Perron und auf der belgischen Maurice Roelants.  

Simon Vestdijk mit den Forumredakteuren 
ter Braak und du Perron. 

Vestdijk figurierte sogar 12 Mal in der Vorwahl für den Nobelpreis für Literatur, was für niederländische Schrifsteller das höchst erreichbare ist.

Während des 2. Weltkriegs richtete der Besatzer in 1942 das Internierungslager "Michielsgestel" für die niederländische Elite mit einem Regime, das unter den Umständen "erträglich" genannt werden konnte, ein. "Hitlers Herrengefängnis" höhnte einer der Insassen. Vestdijk wurde dort 1942-1943 interniert, in erster Linie wohl wegen seiner Verbindung zu ter Braak und du Perron, beide prominente Nazi-Kritiker, beide bei Kriegsanfang gestorben. Die erleichterten Umstände der Internierung konnten nicht vom eigentlichen Zweck der Gefangenschaft ablenken: Bei gegebenem Anlass immer einige Geiseln zum standrechtlichen Vollzug in der Hand zu haben, wie z.B. nach einem - misglückten - Überfall auf einen Güterzug in Rotterdam.

Vestdijk verbrachte seine Zeit in Michielsgestel mit frenetischem Dichten, häufig unter dem Eindruk der immerwährenden Todesdrohung.
Diese Gedichte wurden später als "De Gestelsche Liederen" herausgegeben. "Der Hof bei Doorn" stammt aus diesem Band.
Einige der Werke Vestdijks sind ins Deutsche übersetzt; für eine Übersicht klicke man HIER.



Mittwoch, 12. September 2018

Elsschot. Der Buckel spricht.

Ähnliches Foto


Willem Elsschot
1882 - 1960
Antwerpen

In 1934 erschien ein Bändchen "Verzen van Vroeger" - "Verse von Früher" mit 10 Gedichten die Elsschot schon in den Jahren 1910-1912 geschrieben hatte. Es dauerte aber bis 1934 bis er - nach langem Drängen von bekannten Literaten - der Veröffentlichung des Bändchens zustimmte. 6 der Gedichte waren in 1932-33 in der Zeitschrift "Forum" erschienen, der führenden Literaturzeitschrift der Zeit, die sich stark machte gegen den manchmal überkandidelten Ästhetizismus, der sich in der Nachfolge der Achtziger in der Literatur breitgemacht hatte. Elsschots unsentimentale Umgangssprache, noch dazu bereits in den Jahren 1910-12 geschrieben, passte zu der neu-sachlichen Ästhetik des "Forums". Die Zeitschrift setzte sich außerdem für ein engeres Zusammengehen der niederländischen und der flämischen Literatur ein. Der Belgier Elsschot passte also in jeder Hinsicht zur Philosophie der Redaktion. Elsschot hatte schon vorher 4 Romane geschrieben, die kaum wahrgenommen worden waren. Er hatte seine literarische Aktivitäten praktisch aufgegeben und sich seiner Arbeit als Werbemann gewidmet, als seine Gedichte erschienen und sich als großen Erfolg erwiesen. Seitdem ist Elsschot Vorbild für Generationen von Dichtern und Schrifstellern, die eher der unsentimentalen, kunstlosen, sachlichen, umgangssprachlichen Seite des Métiers zugeneigt sind. "Am Totenlager eines Kindes", "Die Ehe" und der "Brief" habe ich in diesem Blog schon übersetzt. Alle zeichnen sich aus durch den verzweifelten Versuch sich einer Lage zu widersetzen, die nicht gut zu machen ist. Der Tod eines Kindes, die Hölle einer Ehe, die vergebliche Rache. Mich erinnern alle an die Ballade des Pendus des François Villon, mit ihrem "envoy" in den Schlusszeilen:


.........
"Prince Jhesus, qui sur tous a maistrie, 
Garde qu'Enfer n'ait de nous seigneurie :
A luy n'avons que faire ne que souldre.
Hommes, icy n'a point de mocquerie;
Mais priez Dieu que tous nous vueille absouldre.."


 So auch "Der Buckel spricht", nur dass der zum Schluss Angesprochene nicht Jesus ist:


Willem Elsschot

Rotterdam 1910.


Der Buckel spricht

Ähnliches Foto

Hier ist der Buckel, das Klappergestell
der Knubbelkerl, der drollige Gesell',
der Zwerg, der hochdreht das Gesicht
wenn er mit den Söhnen spricht

Der Baumstumpf mit dem schrägen Stamm,
mit obendrauf ein Riesenschwamm,
nistend dort für alle Tage,
und den kein Mensch davon kann jagen.

Er hockt, solang ich denken kann
ein Teufel mir von Kind bis Mann,
der alles hat versaut, verdorben,
zu meinem Unglück hat er Ruhm erworben.

Auf der Hochzeit mit dabei
den Frack zerschnitten für das Ei,
die Braut beschämt, das Fest geklaut,
spuckt Galle auf den Strauß der Braut.

So verübte und verübt er Mord nach Mord,
wenn er nur sitzt und spricht kein Wort,
nicht sieht noch hört, macht keinen Laut,
frißt er mich ganz, mit Haar und Haut.

Ihr, denen keiner kann vergeben
was ihr verbrochen habt im Leben;
Gesindel mit dem schwärzesten Gewissen,
die weder ruhig schlaft, noch esst nur einen Bissen,

die voller Scheu im Schattenreich verkehrt,
kommt her, gebt mir was euch beschwert,
ich werd' es heben ohne Klagen,
wenn ihr für mich das Ding wollt tragen.


Übersetzung Jaap Hoepelman 11.09.2018

Mittwoch, 30. September 2020

Slauerhoff: Saudade auf Niederländisch.



slauerhoff scheepsarts - Google zoeken | Slauerhoff J.J ...
Jan Jacob Slauerhoff  (1898-1936)


Fado

Bin ich träge weil ich traurig bin,
Alles vergebens find' und leer
Und auf Erden mir der Sinn
Nach Sonnenschirm und Schatten steht - nicht mehr?

Oder bin ich traurig weil ich träge bin,
Nie gehe in die weite Welt hinein,
Nur Lisboa nah am Tejo hab' im Sinn,
Und könnte dort genau so gut nicht sein,

doch lieber gehe zwecklos in den dunklen Gassen
der Mouraria auf armselige Erkundung?
Dort treff' ich viele, die genau wie ich verlassen,
leben ohne Liebe, Lust und Hoffnung.

Aus Forum, Jaargang 3  (1934)


Vertaling Jaap Hoepelman
Januar 2019


Slauerhoff Gedichte

Ed Hoornik. Prophetisches im Alltäglichen.

Pogrom   1938 Pogrom                                                                                                             Ed Hoornik ...