Afsluitdijk - Abschlussdeich
Der Bus fährt wie ein Zimmer durch die Nacht
Die Straße ist gerade und der Deich ist endlos
links liegt das Meer, gezähmt doch ruhelos,
wir schauen raus, ein sanfter Mond scheint schwach.
Vor mir die jungen frischrasierten Nacken
von zwei Matrosen, die verhalten gähnen
sich später locker dehnen und danach
unschuldig schlafend an den Schultern lehnen.
Dann seh' ich plötzlich, wie im Traum, im Glas
dünn und durchsichtig mit uns'rem fest verbunden
mal klar wie wir, dann wiederum im Meer ertrunken,
den Geist von uns'rem Bus; das Gras
zerschneidet die Matrosen glatt entzwei.
Dort seh' ich auch mich selbst. Allein
mein Kopf wogt auf der Wasserfläche,
bewegt den Mund als spräche
er, ein märchenhafter Beifang.
Es gibt kein Ende oder Anfang
an dieser Fahrt, das Gestern und das Morgen angehalten,
nur dieses lange Heute, wunderlich gespalten.
Aus : Parken en Woestijnen.
Amsterdam: Stols, 1940
(Übersetzung Jaap Hoepelman, Juni 2025)
Der "Afsluitdijk" (Abschlussdeich), Schnurgerade verlaufend zwischen den Provinzen Noord-Holland und Friesland, trennt er die Gewässer des Wattenmeers (NL: Waddenzee) vom Meerbusen "Zuiderzee" (NL: zee = D: Meer), der sich infolgedessen allmählig in einen Süßwassersee, "IJsselmeer" (D: See = NL: meer - können Sie noch folgen?) verwandelte. Es war eine Spitzenleistung der Wissenschaft und Ingenieurskunst, passend zum "zweiten goldenen Jahrhundert". Die erforderlichen Untersuchungen und Berechnungen wurden durchgeführt für den Staatsausschuß "Zuiderzee" unter der Leitung des Physiknobelpreisträgers Hendrik Antoon Lorenz, der mit dieser Arbeit fast zehn Jahre lang beschäftigt war. Am 28 Mai 1932 wurde die letzte Öffnung geschlossen. Es war auch höchste Zeit: Die "Zuiderzee" war ein ausgesprochen gefährliches Gewässer, das bei den Stürmen das Land regelmäßig überflutete, der letzte in Januar 1916, als große Bereiche der Zuiderzeeküste überflutet wurden (bis Amsterdam, mein Vater erzählte gerne darüber). Ein Jahr später wurde der Verkehrsweg über den Deich eröffnet. In den 1930-Jahren war eine Busfahrt über den über 32 Kilometer langen Deich selbstverständlich etwas ganz besonderes (und ist es eigentlich immer noch). Als technisches Hochständchen mutet ein Deich nicht auf Anhieb als Grund für poetische Ergüsse an. Aber für Vasalis war er der Anlass für eines der bekanntesten Gedichte der niederländischen Literatur. Der "Abschlussdeich" handelt von Zweiteilung, von Vorher und Nachher, von der Trennung von Nordsee und Zuiderzee, von der Bezwingung des ehemaligen Wasserungeheuers zum süßen (obwohl unruhigen, die Gefahr ist immer da) Binnenmeer, von Traum und Wirklichkeit, von Ordnung und Unordnung. Diese Zweiteilung wird aber Aufgehoben in der untrennbaren Verdoppelung des Spiegelbildes des fahrenden Wohnzimmers. Diese Aufhebung bestimmt auch die Struktur des Gedichtes. Der Anfang wird gemacht durch zwei faktisch beschreibende (bis zur Nackenrasur der Matrosen) ordentliche Quartette, die ein Sonett in der besten poetischen Tradition erwarten lassen. Wenn die Matrosen in der letzten Zeile des zweiten Quartetts einschlafen, ist das die Zäsur: Von einem wohlgefügten Sonett kann keine Rede mehr sein. Die Matrosen werden gnadenlos Zerschnitten, eine Zweiteilung diesmal ganz ohne Folgen. Der Kopf der Dichterin spricht wogend über Wasser wie ein Märchenwesen, Anfang und Ende, Gestern und Morgen verschwinden. Es bleibt nur ein rätselhaftes, unbeweglich zweigeteiltes Heute.
So viele Bilder, geballt in so wenigen Zeilen...ich finde es schön.