Sonntag, 28. September 2025

Anton de Kom. Strijden ga ik - Ich werde kämpfen.

 

Cornelis Gerard Anton de Kom (1898 - 1945)

In einem früheren Post habe ich versucht Antoine de Koms Gedicht "Mijn Opa is zo bloot" (mein Opa ist so nackt) für mich selbst und für mein imaginiertes deutsches Publikum zu erklären. Antoine de Koms Gedicht ist seinem Großvater Anton de Kom gewidmet. Anton de Kom war vieles: Aufklärer über die Sklaverei in Suriname und derer fortdauernde Folgen, Arbeiterberater, Kritiker der Misstände der Kontraktarbeit und Widerstandskämpfer gegen die deutsche Besatzung der Niederlande. Ein bewundernswerter Mann. Er war auch Autor des anti-kolonialistischen Manifests "Wij Slaven van Suriname", das 1934 in zensierter Form erschien und bald darauf verboten wurde. Erst 1980 erschien es ungekürzt in den Niederlanden, dann aber mit großem Erfolg. In 2021 erschien es als "Wir Sklaven von Suriname" auf Deutsch.  


Wij Slaven van Suriname, Auflage 1934

                                                                                                                             Deutsche Auflage 2021


Nach seinem Abschluss als Diplom-Buchhalter in Paramaribo (der Hauptort Surinames) arbeitete de Kom von 1916 bis 1920 als Angestellter der Balata-Compagnie***.


Die Konzessionsgebiete der Balata-Compagnie in Suriname in 1920



Nach Beendung der Sklaverei (1863*) versuchten die Niederlande nicht nur die Nachfahren der Sklaven, sondern auch Arbeiter aus anderen Gegenden (Britisch Guyana, Britisch Indien, Niederländisch Indien) für die Plantagearbeit einzusetzen. Die Kreolen, Javanen und Hindustanen arbeiteten für die Balata-Compagnie unter dem System der s.g. "Livrets". Schon seit 1909 galt das Livretsystem, in denen die Arbeitsbedingungen der ungelernten Kontraktarbeiter festgelegt wurden. Viel mehr Freiheit als die Sklaven in der gar nicht so vergangenen Vergangenheit hatten die Kontraktarbeiter nicht. De Kom engagierte sich für die Interessen der Arbeiter, aber in 1920 kündigte er und zog in die Niederlande. Die genauen Gründe für seine Kündigung fand ich nicht, aber ich kann mir vorstellen, dass sie in Zusammenhang standen mit der praktischen Unmöglichkeit als kleiner Angestellter etwas für die Arbeiter zu erreichen. Vielleicht auch, dass der Plan für das spätere "Wir Sklaven von Suriname" in ihm reifte und die Notwendigkeit des Quellenstudiums entstand. In den Niederlanden war de Kom aktiv in der linken Presse und Politik und es entstanden Beziehungen mit antikolonialen Aktivisten aus Niederländisch-Indien, Beziehungen die sich bis Suriname herumsprachen, die aber auch alle Alarmschellen der niederländischen Autoritäten klingeln ließen. Denn Indien, später Indonesien, war ein ganz anderes Kapitel als das im Königreich winzige Suriname, mit seinen damals ungefähr 140000 Einwohnern. Der gefährliche Unruhestifter gehörte unbedingt in strenger verdeckter und nicht verdeckter Quarantäne.

In dieser Zeit arbeitete de Kom an "Wir Sklaven von Suriname". Er konnte die Arbeit nicht abrunden, weil er in 1932 mit seiner Familie zurück nach Suriname zog, wegen der Gesundheitszustand seiner Mutter, die verstarb bevor er Suriname erreichte. Der Ankunft der de Koms am 4. Januar hatte sich herumgesprochen und sie wurden von einer großen Menge am Hafen begrüßt. In Paramaribo gründete de Kom ein Beratungsunternehmen für Kontraktarbeiter im Hof seiner Eltern. Einen Monat später organisierte er einen Aufmarsch der Kontraktarbeiter zur Residenz des Gouverneurs, um für die Rechte der Arbeiter zu protestieren. Er wurde verhaftet und ohne jegliche rechtliche Grundlage eingesperrt im "Fort Zeelandia".

Eine Woche Später versammelte sich eine protestierende Menge vor der Niederlassung des General-Staatsanwalts. Als das Gerücht sich verbreitete, dass man de Kom freilassen würde, wollte die Menge den Platz nicht verlassen. Die Polizei trat auf den Plan, es wurde geschossen, es gab Tote und Verletzte. De Kom und Familie wurden in Mai ohne weitere prozedurale Feinheiten nach Holland zurück verschifft.

Während seiner Zeit als Angestellter bei der Balata-Compagnie hatte de Kom das Livretsystem auf das Beste kennengelernt. Gegen die Bedingungen des Livrets der Balata-Compagnie protestiert de Kom in "Wir Sklaven von Suriname". Einige Zeilen übersetze ich hier. Das von mir benutzte Wort "Neger" in der Übersetzung stimmt überein mit der Verwendung durch de Kom, der eine Begabung für Sarkasmus hatte:
"Die Balata-Compagnie legt dem Neger ihr "Livret" vor, ein umfangreiches Gesetzbuch,...ohne gesetzliche Grundlage, ... aber geschützt durch Polizei und Armee. Und der Neger unterschreibt. "In vollkommener Freiheit" unterschreibt er mit Daumenabdruck,...und ab diesem Augenblick ist der Unterschied zwischen ehemaligem Sklaven und freiwilligem Kontraktarbeiter wahrlich nicht groß."

"Der Neger ist verpflichtet jede ihm aufgetragene Arbeit...genau nach Vorschrift auszuführen.
Die Gesellschaft hat jederzeit das Recht den Vertrag ohne Aufgabe von Gründen zu beenden, bei einer Kompensierung von 10,- Gulden.
Der Neger darf keinen  Besuch empfangen, ... auch nicht von seiner Frau,...
Der Neger darf das Arbeitsgelände nicht verlassen,...
Der Neger erhält keine Bezahlung für ihm aufgetragene Arbeiten, falls diese für seine persönliche Arbeitsumstände unumgänglich sind...
Er erhält keine Bezahlung für den Transport der Balata.
Er erhält keine Entschädigung für die Übername von Aufgaben von kranken oder verunfallten Kameraden..."

De Kom führt die Liste der Bedingungen, denen die Kontraktarbeiter unterworfen sind weiter, ich habe hier nur einige der Bestimmungen des Würgevertrags gezeigt. De Kom wusste also genau worüber er sprach und das Gedicht "Der Balatableeder" bezieht sich fast Punktgenau auf das "Livret" und seine Folgen.
De Kom hat immer Gedichte geschrieben, aber die Umstände machten eine ordentliche Veröffentlichung unmöglich. Ein etwas obskures Band erschien in 1934.  Erst 1969 veröffentlichten surinamesische Studenten Gedichte daraus im Selbstverlag. In der Digitalen Bibliothek der Niederländischen Literatur findet man das Heftchen.   


Strijden ga ik, Heft 1969

"De Balatableeder" in de Koms Notitzbuch

De Koms Gedicht bezieht sich also auf die Bedingungen des Vertrags zu denen die Kontraktarbeiter verpflichtet wurden und dadurch in eine neue Art der Sklaverei gezwungen. Als antikoloniale Kampfpoesie kümmert es sich nicht um den poetischen Feinschliff und ist deswegen um so wirksamer.

Der Balatableeder**


Die schönen Tage sind vorbei

Kuli, Bleeder, Sklave feierte das Billigvergnügen

Ohne Arbeit streunend an den gold'nen Küsten

Anwerber sind voll dabei Arbeitstiere anzulügen,

So viele wie's den Bürgern mag gelüsten.  


Vor dem weißen Staatsvertreter

Kontrakt geschlossen, Daumenabdruck abgegeben

Mickervorschuss für den Sklaven, Anwerber kriegt reichlich Knete

Kontraktarbeiters Pläne voll daneben.

Frau und Kindern nix zum Geben.


Tief im Inland mitten im  Dickicht

Undurchdringbar, Romantik voller Schönheit,

Sumpf, Elend, Giftschlangen im Gestrüpp

Sklave ringt, kämpft, oft mit Krankheit

Hohe Rechnung, Verstehen ist nicht.


Neun Monate später zahlt die Compagnie***

Ab 3er-4er-5er-6er Qualität°

Nimm deinen Hungerlohn, halt dein Maul

Kein Wort über die Quantität

Recht bekommt die Firma, du aber nie.


Im Urwald, zwischen schönen Farnen

Ein Arbeiter stirbt, ein Prolet weniger

Was soll's, es ist nicht einer von den Oberen

Was schert ein Schwarzer oder Farbiger 

Der Bleeder weiß, er hält das Klewang in Händen.°°

(Übersetzung Jaap Hoepelman, August 2024)

De Balatableeder

Etwas mehr über de Kom und sein tragisches Schicksal findet man in meinem Post über das Gedicht seines Enkels, Antoine de Kom, das ich oben erwähnte und das mit dem vorliegenden Post als Einheit gelesen werden kann.

* 1863 ist das offizielle Ende der Sklaverei in Suriname. Mit Hilfe vertraglicher Bestimmungen wurde der Zustand der Abhängigkeit faktisch erst 1873 beendet...oder aber auch nicht, wie de Kom uns lehrt.

** Balata - Kautschuk. Balatableeder (vom englischen Verb "to bleed") - Kautschukzapfer. Balata spielte eine wichtige Rolle bei der Isolierung von Unterseekabeln.

*** Die Compagnie - "De Balata Maatschappij" - "Die Balata Gesellschaft, 'der Korken auf dem die Kolonie schwimmt', das Hätschelkind der Regierung, ...bis zur Krise von 1931" (Wij Slaven, p. 144)

° "Ab 3er-4er-5er-6er Qualität. Im Kapitel "Die Kontraktarbeit", heißt es, dass die Balata-Compagnie "später bezahlt für 1-e, 2-e, 3-e Qualität" und dass der Verdienst abhängt von der eingesammelten Menge.

°° "Klewang". In "Wij slaven van Suriname" (Seite 164), nennt de Kom das lange Messer der Balatableeder ein "Owru". Das "Klewang" war ein eher in niederländisch Indien eingesetztes, einschneidiges Langmesser mit einer gebogenen, schweren Spitze, ein Arbeitsgerät, aber auch eine gefürchtete Waffe der niederländisch indischen Armee. Dies mag der Grund sein, dass de Kom im Gedicht nicht von "Owru" spricht, sondern, wegen des furchterregenden Rufs, von "Klewang".


Antoine de Kom und Anton de Kom. "Wir Sklaven von Suriname" auf Deutsch erschienen.

Gedichte machst du nicht

sie sind im Raum und liegen angekettet

und wenn es stürmt

dann gehen sie über Bord


(De lieve geur van zijn of haar. Querido. 2008)



Am 23 Januar  2021 schrieb ich einen Post über den Dichter und Psychiater Antoine de Kom, mit einer Übersetzung seines Gedichts "Mein Opa ist so Nackt".  Dazu schrieb ich einige Zeilen zur Erklärung der Hintergründe des Gedichts, ohne die es in Deutschland schwer verständlich sein wird. Antoine de Kom ist ein Enkel von Anton de Kom, des Aufklärers über das Schicksal der Sklaven in Suriname, an der Nordküste Südamerikas. 1934 erschien dessen Manifest "Wij slaven van Suriname" - "Wir Sklaven von Suriname" in Amsterdam. Das Buch wurde zuerst zensiert und dann verboten. Erst 1980 erschien es in den Niederlanden in vollständiger Form, dann aber mir großem Erfolg. In meinem Post berichtete ich, dass es bald eine deutsche Übersetzung geben würde. Inzwischen ist es soweit: "Wir Sklaven von Suriname" ist auf Deutsch erschienen. Es gehört zur großen Aufklärungsliteratur über den Kolonialismus. Eine ausgesuchte Gelegenheit diesen Post mit Antoine de Koms eindrucksvollem Gedicht zu wiederholen.


Antoine de Kom 1956 - 

Antoine de Kom ist Psychiater, Dichter und Schriftsteller, Enkel des surinamisch/niederländischen Nationalisten und Widerstandskämpfers Anton de Kom, des Autors der Anklageschrift "Wij slaven van Suriname" ("Wir Sklaven Surinames", 1934), der "Opa" des hier übersetzten Gedichts.

 

        Wij slaven van Suriname

 Leben und Werk von Anton de Kom werden in den Niederlanden erst in letzter Zeit, lange nach der Unabhängigkeit Surinames, gewürdigt. Ein Platz in Amsterdam Süd-Ost wurde nach ihm benannt und ein Denkmal errichtet. Manchmal wird de Koms Rolle für Suriname mit der des Multatuli (von dem er sich inspirieren ließ) für niederländisch Indien verglichen. De Kom wurde, als erster Surinamer, aufgenommen im Kanon der niederländischen Geschichte und jetzt, nach 86 Jahren, steht "Wij slaven van Suriname" auf der Liste der Bestseller. 

Das Gedicht "mijn opa is zo bloot" ("mein Opa ist so nackt"), das ich hier übersetzt habe, ist sehr gut, meine ich. Aber es ist nicht leicht zu verstehen. Schon gar nicht für nicht-niederländische Leser, die mit den Hintergründen noch weniger vertraut sind, als die Niederländer es sind, oder sein wollen. Dieser Blog wäre aber nicht der richtige Ort für eine ausführliche Geschichte des niederländischen Kolonialismus in Südamerika und der Karibik, angenommen ich wäre dazu überhaupt imstande. Ich kann nur versuchen, schwer verständliche Verse zu erläutern, denn ich sehe das Gedicht als einen Ansturm ohne Punkt und Komma von Gefühlen, Gedanken, Erinnerungsstücken, Motiven, Mosaikfragmenten, die ein formvollendetes Gedicht unmöglich machen und die trotzdem ein Bild ergeben, das in der zerbröckelten Form mehr aussagt als ein glattgestrichenes Gemälde. Womit wir schon bei der Form des Gedichtes, des Gegenstandes und der Rezeption wären. Denn "zerbröckelt" ist nicht nur das Gedicht, "zerbröckelt" nennt der Dichter auch das Denkmal für den Opa und "zerbröckelt" sind die Meinungen über das Kunstwerk.

Der Dichter T. S. Eliot schrieb: "Genuine poetry can communicate before it is understood". Geben Sie Antoine de Koms Gedicht zunächst die Gelegenheit, sich mitzuteilen. Anschließend werde ich versuchen an Hand von einigen "schwierigen" Passagen etwas über den Hintergrund zu erklären.


Antoine de Kom - mein Opa ist so nackt


mein Opa ist so nackt

so ganz arg nackt auf ganz dem eigenen Platz

er möchte keine Kleider an

doch wie kann ich ihm zeigen

dass man nackig vornehm angezogen

gehen kann im Anzug plus Krawatte Aktenmappe

und noch viel mehr als mehr trotzdem ein wenig nackt?

die Sklaven waren oft schon so so hieß es so sich selbst

dabei mit einem Schlag die vorgemachten Kleider los an dem einen

oftmals schwer versehrenden Moment

unter dem Folterzeug das schneller rennt als du

auch als du ungekürzt vollwertig auf holländisch frei sein wolltest

mit Hut und Binder und mit Ledermappe oh

darin im Krieg kaum mehr

als angedätschte Wörter unbezwingbar

"staatsgefährlich" allerdings

doch selbst bist du noch ungeschunden & noch heil

gerad' noch sicher in der Haager Tram

die dank meines Zutuns hält und hält 

dieweil Seyss-Inquart leichblass starrend

auf deinen Platz sich fragt

ob du ihm nackig und zerbröckelt lieber bist?


[Aus: die lieve geur van zijn of haar (2008)]


Antoine de Kom "mijn Opa is zo bloot"

Vertaling Jaap Hoepelman, Januar 2021


Denkmal für Anton de Kom auf dem Anton de Kom Plein, Amsterdam

"mein Opa ist so nackt

so ganz arg nackt auf ganz dem eigenen Platz"                

Hier sieht man das Denkmal für Anton de Kom, der "Opa" des Antoine de Kom. Das Denkmal hat den ganzen Platz, der nach de Kom benannt wurde ganz für sich allein, und es ist nackt. Ganz nackt. Diese Nacktheit hat zu heftigen Kontroversen geführt. Klar ist es eine Statue in der besten Tradition der Darstellung der Freiheitshelden, oder der Freiheit an sich - wie Delacroix's "La Liberté Guidant le Peuple"


oder auf dem Nationaldenkmal der Niederlande, der nackte Widerstandkämpfer:



Solche Helden wollen selbstverständlich nicht angezogen werden und es heißt dementsprechend "er möchte keine Kleider an". Viele halten dagegen, dass Anton de Kom darauf Wert legte, einwandfrei und stilvoll gekleidet zu sein, mitsamt Anzug, Krawatte und Aktenmappe. 

 
Mit Ehefrau Petronella Borsboom
Anton de Kom 1898-1945

Also Freiheit hin, Freiheit her - musste das Denkmal für Anton de Kom unbedingt einen nackten  schwarzen Mann in seiner ganzen Nacktheid darstellen?
Der Dichter scheint eine Art Kompromiss zu suchen, indem er seinen Opa indirekt darauf anspricht:

"doch wie kann ich ihm zeigen

dass man nackend vornehm angezogen

gehen kann im Anzug plus Krawatte, Aktenmappe

und noch viel mehr als mehr trotzdem ein wenig nackt?"

Ein nackter Held kann perfekt angezogen sein und viel mehr als das: Blume im Knopfloch, Hut, Einstecktuch - und trotzdem nackt, wie es sich gehört für einen Freiheitshelden. 

Woher kommt übrigens dieses "plus"? Hätte ein "und" nicht gereicht? In Suriname war de Kom Diplom-Buchhalter geworden. Dieses "plus" und die "Aktenmappe" passen gut nicht nur zur Genauigkeit, die er als Buchhalter brauchte, sondern auch zum Aktenstudium, betrieben für seine Geschichte der Sklaverei. 

Jetzt tritt ein anderes Motiv auf den Plan: Das Vorurteil, oder sagen wir lieber: Die Lüge. Hieß es nicht, dass die Sklaven sich eigentlich so ohne Kleider..., wie soll man's sagen, so...so richtig sich selbst fühlten? Dann wiederum weiter gedacht: Wie die Sklaven sich fühlten, spielte es nicht ohnehin keine Rolle? Wer ausgepeitscht wurde, war die Kleider, die nur "vorgemacht" waren sowieso los mit einem Schlag. Schwerste, versehrende Folter war das Mittel mit dem die vielen Sklaven von den wenigen Sklavenhältern in Schach gehalten wurden.  Die Sklaven versuchten häufig zu flüchten um sich als "Marrons" in den unzugänglichen Urwäldern zusammen zu tun. Aber so schnell die Flüchtlinge auch rannten, oft war die Folter schneller als sie. Die Strafen waren bestialisch. 

"die Sklaven waren oft schon so so hieß es so sich selbst

dabei mit einem Schlag die vorgemachten Kleider los an dem einen

oftmals schwer versehrenden Moment

unter dem Folterzeug das schneller rennt als du"

(Nebenbei zur Verstechnik: In "an dem einen", "oftmals schwer" ersetzen auf einmal Anapeste,         ◡◡—, wie Peitschenhiebe, die bis dahin ziemlich konsequent durchgehaltenen Jamben. Vielleicht kann man als Päon, ◡◡◡—, noch "unter dem Folterzeug" als besonders schweren Hieb dazurechnen.)

In einem einzigen Schlüsselwort, "onbeknot", werden Hauptmotive des Gedichtes gebündelt: Das Denkmal, die Flucht, die Folter, die Sehnsucht nach Freiheit, der Krieg und die Besatzung: 1933 wurde de Kom, der als Aktivist und Berater für Kontraktarbeiter tätig war, als "staatsgefährlich" in die Niederlande deportiert. Er versuchte wieder Fuß zu fassen, "ungekürzt" und "vollwertig". Als "vollwertiger" Holländer, mit allen Rechten eines Holländers. So weit, so verständlich, aber "ungekürzt"? Das hier benutzte niederländische Wort heißt "onbeknot". Einmal bedeutet das etwa "frei", "uneingeschränkt". In einer anderen Bedeutung werden wir an die Kopfweide, "knotwilg",  erinnert. Der gekürtzte, "geknotte", Weidenbaum, von dem die Äste abgeschlagen worden sind. Geflüchtete, wieder gefangengenommene Sklaven wurden häufig "geknot" - ihnen wurde eine Hand, ein Fuß oder Bein abgeschlagen, oder auch eine Achillessehne durchtrennt (ich will hier nicht sonstige Gräuel auflisten). Auch an de Koms Denkmal scheinen Hände und Füße zu fehlen. Ein Hinweis, der nicht von allen Betroffenen gemocht wurde.

De Kom war noch vor dem Krieg mit Frau und Kindern nach Den Haag umgezogen. Während des Krieges, trotz der Kolonialgeschichte, engagierte er sich im Widerstand, weil er sah, dass die halbwegs überwundene Vergangenheit ersetzt wurde von einer Zukunft, die ihn weitaus schlimmer "kürzen" würde. Seine Aktenmappe war inzwischen wahrscheinlich "angedätscht", wie auch seine Schriften, weil er in der Mappe vielleicht "Wir Sklaven..." mit sich herumtrug, das sich nicht gut verkaufte, oder in Mitleidenschaft gezogene Aufsätze für die Widerstandspresse - "beurs",  d.h. "angedätscht" eben. Aber er selber blieb unbezwingbar.

"auch als du ungekürzt vollwertig auf holländisch frei sein wolltest

mit Hut und Binder und mit Ledermappe oh

darin im Krieg kaum mehr

als angedätschte Wörter unbezwingbar

"staatsgefährlich" allerdings"

Der Dichter hält die Haager Tram in der sein Opa sitzt so lange an, wie es nur geht. Sein Opa ist der alten Folter entgangen, er ist ungeschunden und heil - gerade noch, denn was für die Sklaven die Flucht war ist jetzt die Deportation geworden und Opa de Kom wird die neue Folter nicht überleben. 1944 wird er von der Gestapo verhaftet und ins KZ Neuengamme-Sandbostel verfrachtet, wo er 1945 stirbt. Der österreichische Reichskommisar für die Niederlande, Seyss-Inquart, ein Teufel von Sklavenhalter, schaut zu und überlegt sich, ob ihm anstatt eines Anzugträgers ein nackter, zerbröckelter Neger nicht doch lieber wäre:

"doch selbst bist du noch ungeschunden & noch heil

gerad' noch sicher in der Haager Tram

dieweil Seys-Inquart leichblass starrend

auf deinen Platz sich fragt

ob du ihm nackig und zerbröckelt lieber bist?"

Schon alte Abolitionisten, wie  John Gabriel StedmanMarten Douwes Teenstra,  Julien Wolbers oder auch Nicolaas Beets hatten die Zustände in Suriname beschrieben und scharf verurteilt. Ab und zu wurde tatsächlich ein Täter (oder eine Täterin, Frauen ließen sich nicht unbezeugt) verurteilt, aber das Interesse der Obrigkeit war lau, die Strafen läppisch. Es dauerte noch bis 1863 - in der Realität bis 1873; die Sklavenhälter mussten noch "entschädigt" werden während die Sklaven weiterhin schufteten -, dass die Sklaverei in Suriname abgeschafft wurde. Aber das Gefühl der Minderwertigkeit hatte sich verfestigt, auch bei den ehemaligen Sklaven, und stellte ein riesiges Hindernis bei der Entstehung einer eigenen Nation dar. Das zu überwinden ist das eigentliche Thema von de Koms "Wir Sklaven von Suriname".


2014 bekam Antoine de Kom den VSB-Poesie-Preis für seinen Gedichtband Ritmisch zonder string.  

Anfang 2021 wird die deutsche Übersetzung von "Wij slaven van Suriname" erscheinen.*



*Bemerkung 8.7.2021: Das ist inzwischen geschehen. Siehe die Einleitung zu diesem Post.

Montag, 22. September 2025

Ed Hoornik. Prophetisches im Alltäglichen.



Pogrom 
1938

                                                                                       Ed Hoornik 1910-1970

Die Poesie der Pfarrer wurde von den "Achtzigern" (wir sprechen vom 19. Jahrhundert) als hausbacken verspottet und regelrecht in die Verdammnis geschrieben. Die Achtziger ersetzten sie durch die Anbetung der poetischen Schönheit und den individuellsten Ausdruck der individuellsten Gefühle. Nach den Schrecken des ersten Weltkriegs aber war die Zeit der formvollendeten Lyrik vorbei. In Flandern, wo der erste Weltkrieg heftig wütete, beendete Paul van Ostaijen das Erbe der Achtziger. Er schrieb in Umgangssprache und scherte sich nicht um die ehrwürdigen Formen der überlieferten Poetik. Die Niederlande waren von der Katastrophe verschont geblieben; hier wirkte die Tradition der Achtziger länger nach, z.B. in sehr beachtlichen Dichtern wie Leopold und Boutens. Als die Zeiten immer bedrohlicher wurden, war es auch in den Niederlanden mit der Tradition der dichterlichen Dichter vorbei. In der Zeitschrift "Forum" wurde der Ausdruck eines persönlichen Standpunktes gefordert, anstatt eines wohligen Verbleibs in der makellosen Form. Die Diskussion trug den Namen "Vorm of Vent" ("Muse oder Macker"). Der Literat du Perron verzichtete, wie van Ostaijen, auf die poetische Sprache zugunsten der Umgangssprache. Diesen Stil nannte man "Parlando". Er hatte großen Einfluß, auch bei "unpolitischen" Dichtern, wie Achterberg und Vasalis.
In Amsterdam übernahmen Maurits Mok, Jac. van Hattum, Gerard den Brabander und Ed Hoornik diesen Stil, mit einer Vorliebe für die kleinen Dinge, das Anekdotische, den Spott, die Umgangssprache, das "Normale". Wenn man an die Genremalerei denkt, sind das eigentlich sehr "niederländische" Besonderheiten. Die vier wurden sogar zur "Amsterdamer Schule" erhoben.
Die drei letztgenannten gaben einen gemeinsamen Gedichtband heraus mit dem Titel "Drie op één Perron" (Drei auf einem Bahnsteig), damit anspielend auf den Einfluß du Perrons. Heute werden sie nur noch selten zitiert, dafür haben van Hattums schöne Schlußzeilen aus "140 Pond" ("140 Pfund") in alter Frische überlebt:

"Hoe meer ik drink, hoe meer ik eet,
  Hoe meer gewicht van Hattum heet".

"Je mehr getrunken, je mehr gespeist,
je mehr Gewicht van Hattum heißt"

Die kleinen Themen, das Normale und Anekdotische waren sowieso für keinen der Dichter besonders tragfähige Konzepte, und Hoornik wendete sich aus einem besonderen Grund von ihnen ab: 
Er war eine sehr prominente literarische Persönlichkeit. Er war Romanschreiber Dichter Zeitschriftenredakteur, Theaterautor, Rezensent - und ein ausgesprochener Gegner des Nationalsozialismus'. Als Zeitungsrezensent befolgte er nicht die Zensurvorschriften der deutschen Besatzung, sein hier übersetztes Gedicht wahr wohlbekannt. Infolgedessen musste er untertauchen, wurde aber verhaftet und in das Gefangenenlager Vught verbracht, in dem viele Vertreter der niederländischen Prominenz als Geiseln gehalten wurden. Einer von ihnen war der Romanautor und Dichter Simon Vestdijk, von dem ich in diesem Blog ein Gedicht übersetzt habe.
In Mai 1944 wurde Hoornik nach Dachau transportiert, wo er von den Amerikanern befreit wurde. Nach all dem Erlebten war eine Weiterführung der Poesie des "Alltäglichen" nicht länger möglich und Hoornik wandte sich einer eher theologischen und metaphysischen Thematik zu. 
Aber gerade in der Poesie des Alltäglichen und Normalen war Hoornik imstande, in einem klassisch gewordenen Gedicht das ganz und gar nicht Alltägliche und Normale, das da kommen würde, zu prophezeien:

Pogrom

Ist das der Mond, in seinem letzten Viertel
oder ein Gesicht, im Qualm- und Flammenrahmen?
Wo ist Berlin, und wo das Scheunenviertel?
Flüchtete der Junge, als die Banden kamen?
-
Ist das sein Schatten, der am Ufer steht
ist dies das Wasser, das ihn langsam nahm,
ist dies die Grenadierstraße, von dem es hin zur Spree geht?
Es ist der Amstelstrom, und dies ist Amsterdam.
-
Am Rembrandtsplein geht jetzt der Tag zu Ende,
über den Dächern beenden Lichtfontänen ihn...
Ich press' die Nägel tiefer in die Hände.
-
De Jodenbreestraat führt zu einem Abgrund hin;
ich sehe meinen Schatten zucken an den Wänden...
Zehn Stunden dauert nur die Bahnfahrt nach Berlin.


Ed. Hoornik (1910 – 1970)
aus: Steenen (1939)
Verlag: A.A.M. Stols

Übersetzung Jaap Hoepelman September 2025




 

Samstag, 20. September 2025

Reineke Fuchs. Der Anfang der Geschichte

 

Jan de Putter | Just another WordPress.com site

Reineke Fuchs
oder
Van de vos Reynaerde


von
Willem die Madocke maecte
 
Übersetzung Jaap Hoepelman 

Aus dem Mittelniederländischen,  Januar 2021.

"Reineke Fuchs? Den kennen wir doch?" Schon, aber wenig bekannt ist, dass Goethes Nachdichtung basiert auf einer  flämisch-niederländische Dichtung aus dem 13. Jahrhundert. Auch diese hatte eine lange Vorgeschichte. Die flämische Version wurde von einem Autor geschrieben, der sich "Willem die Madocke maecte"  ("Willem, der Madocke machte“) nannte, der aus Ost-Flandern stammte,  über den ansonsten wenig bekannt ist. 
"Van de Vos Reynaerde" gilt als ein Höhepunkt der mittelniederländischen Literatur. Der Text ist überraschend modern in seinem Sarkasmus ohne aufgesetzte Kunstfertigkeit. Willem gelang eine Kombination von Gesellschaftskritik, Satire, Abenteuergeschichte und Bubenstück. "Reynaerde" wird in dieser Übertragung "Reynaert" oder "Reyn" genannt. "Reynaert" bedeutet ""mit reinem Charakter". Nomen est omen...Reynaert zeigt in "Van de vos Reynaerde" nicht die Spur der moralischen Makellosigkeit eines ordentlichen Helden. Er war ein Betrüger, Sadist, Räuber, Schänder, Lügner... Seine Opfer waren aber nicht besser, nur dümmer, verschwiemelter, frömmelnder, habgieriger und verlogener. Der „Reynaert“ ist mittelalterlich drastisch, aber für Willems Zeitgenossen muss es ein Genuss gewesen sein, dass wirklich alle ihr Fett abbekamen.

Wer Lust und Zeit hat, die vollständige Geschichte zu lesen, um fest zu stellen, dass es nichts neues unter der Sonne gibt, der klicke hier

I

Der Hoftag

De Middel-Nederlandse Reinaert-verhalen in toegankelijke ...

Es war Pfingsten und zum Dank,
dass der Geist heruntersank
stand der Lenz in voller Blüte,
die Schwalben zeigten sich; es grünte
allenthalben. König Nobel nutzte die Gelegenheit,
zu zeigen sich in voller Wichtigkeit.
Also erging der bindende
Befehl, sich unverweilt am Hofe einzufinden,
und alle Tiere, groß und klein,
trafen sich zum Hoftag ein.
Reynaert Fuchs hatte verzichtet,
viel Böses wurde über ihn berichtet,
es wär' wohl schlauer, meinte Reyn, 
am Hoftag nicht dabei zu sein.

Alle Tiere hatten Grund zur Klage. Insbesondere Isengrim, der Wolf. Warum Reynaert gerade ihn auf dem Kieker hatte?  Nun, Isengrim ist ein grobschlächtiger Blödmann, aber ein großes Raubtier, also von hohem Adel. Reynaert ist ihm weit überlegen, aber er ist nur ein kleines Raubtier. Also aus niederem Adel. Wie im richtigen Leben: Das bringt Hass und Neid hervor, die sich hemmungslos austoben....

Den Anfang machte Isengrim.
Er hatte Grund für seinen Grimm!
„Sire, Ihro Majestät!
Kein Unrecht, das vor Ihrem Blick besteht,
kein Tort, wie uns von Reynaert angetan.
Was hat er meiner Frau getan,
und mich verdroschen und verhöhnt nicht minder!
Schlimmer noch! Was tat er meinen Kindern?!
Er tat was unverzeihlich ist:
Im Schlaf hat er sie vollgepisst.
Stockblind seitdem das erste Kind,
das zweite, und das dritte, Sire: Blind!

Auch Courtois der Mops und Kater Tybeert tragen ihre Beschwerden vor. Leider widersprechen ihre Aussagen sich im zentralen Punkt: Wem die gestohlenen Würstchen gehören. 

Der Mops beklagte en français das Schicksal,
das ihm, dem armen Hund, nicht mal
un petit morceau de la saucisse
in aller Ruhe fressen ließe,
nichts blieb Courtois von diesem 'appeng
weil salopard Renard! es konnte schnappeng!
"Und dies, bedenken Majesté,
im Winter war, bei Frost und Schnee!"
Jetzt aber, aufgebracht, im Zorn,
schleicht Kater Tybeert sich nach vorn.
"Nicht nur Majestät allein
hat Gründe, außer sich zu sein.
Niemand hier in diesem Rund
hat zu klagen keinen Grund.
Doch Courtois erstaunt mich sehr -
die Würstchen - das ist lange her.
Zudem, sie waren gar nicht seine,
Majestät, die Würstchen waren meine!

Nicht ohne die eigene Rolle im günstigen Licht erscheinen zu lassen, berichtet Pancer der Biber über Reynaerts merkwürdigen Umgang mit dem niederen Grasfresser Cuwaert dem Hasen, der im Verlauf der Geschichte noch eine traurige Rolle spielen wird:

Pancer, der Biber, wiederum
sprach "Majestät, ich frage mich, warum
lässt man ihn laufen, diesen Mörder und Halunken!
Was hat er nicht erlogen und erstunken!
Meine Herren! Majestät! auch Sie
düpiert er für ein Federvieh!
Dem Hasen Cuwaert - neben mir -,
hört was Reynaert tat dem tadellosen Tier.
Cuwaert hat sich nämlich ernsthaft vor-
genommen Kapellan zu werden. Chor-
gesang gehört dazu. Fleißig übte er vokal
das Kredo, doch mit einem Mal,
beim „homo factus“, hört die Messe auf.

Opdrachten Middeleeuwen blok 3

Ich beschleunigte den Lauf
und sah, wie Reynaert mit dem kleinen,
festgeklemmt zwischen den Beinen,
sich an des Hasen Kopf und Kragen macht,
fast hätte er ihn umgebracht,
wenn ich nicht, Sire Majestät,
dank Gott, es war noch nicht zu spät,
entschlossen eingeschritten wäre
zu beenden diese fromme Lehre.
Edle Herren! Wie ist er  versehrt!
Wie stehen Kopf und Hals verkehrt!
Offensichtlich ist dem Dieb
nicht mal des Königs Frieden lieb!"

Die feudale Gesellschaft war in Sippen gegliedert. Die Mitglieder einer Sippe hielten zusammen und also springt Dachs Grimbeert, von niederem Adel, Reynaert bei:

Doch Grimbeert Dachs, der nicht verknuste
was er vom Oheim hören musste,
trat auf als Reynaerts Advokat.
Ein Sprüchlein hatte er parat:
„'Feindes Mund,
tut Falsches kund!':
Wieso steht Isengrims Gelichter
nicht als erstes vor dem Richter?"

Grimbeert fährt fort, das Verhältnis von Isengrim und Reynaert näher auszuleuchten:

"Wer, vom Karren voller Fischen
warf die Schollen und die Klieschen?
Du warst es! Und wer sammelte sie alle,
als sie in den Staub gefallen?
Du! Wer fraß sie alle in sich,
und ließ für ihn nur Gräten übrig?
Du! Dazu am Strick die Seite Speck?
Ein Happen und der Speck war weg!
Vergessen? Und als Reyn dich fragt dabei,
ob etwas für ihn übrig sei,
da höhntest du: 'Hier ist der Strick,
aber Vorsicht, Fett macht dick!'"

Auch andere Aspekte ihrer Beziehung werden eingehend besprochen:

"Es heult der treue Ehemann:
„Meine Frau nahm Reynaert ran!“.
Mindestens sind‘s sieben Jahre,
dass die zwei sich öfters paaren.
Durch ihre geile Lust getrieben
sind sie einander treu geblieben.
Was ist dabei? Eine Begattung! -
das Gegenteil einer Bestattung!"

Die auf französisch vorgebrachte Beschwerde des Mopshundes Courtois wird einwandfrei widerlegt:

"Und dann Courtois und die Saucisse,
die aber Reynaert seine ieße!
Die Klage folglich ohne Gegenstand!
Wo geht es hin mit diesem Land?
Der Mops, noch nicht einmal Jurist,
erklärt, dass mopsen Sünde ist?!"

Zum Schluss wartet Grimbeert mit der Nachricht auf, die alles Vorhergehende überflüssig machen und zum endgültigen Freispruch führen soll:

"Doch edle Herren allesamt,
längst ist es nicht mehr relevant,
denn Reynaert trägt ein haaren Kleid,
seit  Frieden und Gerechtigkeit
per Gesetz in Wirkung traten.
Deshalb - die erste seiner  Taten -
ist Reyn in eine Klause eingetreten,
wo seine Zeit vergeht mit beten.
Ja, die tägliche Kasteiung
ist für den Sünder wie Befreiung.
Aus Bußetuung schöpft er Kraft
isst Hirsebrei, trinkt Wurzelsaft.
Manpertus, seine Burg, hat er begeben.
Mager, bleich und fleischlos will er leben.
Sündenfreiheit  hofft er zu erreichen
und alle Schäden auszugleichen."

An diesem Augenblick tritt eine Wendung ein, die ernste Zweifel an Reynaerts sittliche Besserung aufkommen lässt:

Gerade wollte Grimm den Schluss erreichen,
da sah man einen Zug vom Hang herunter steigen,
vorne Canteclair, dahinter Coppe ohne Kopf.
Reyn hatte sie bei Kopf und Kropf
gepackt und alles abgebissen.
Dies ungeheure Sakrileg mußte der König wissen.
Canteclair, breit  schreitend von den Hügeln,
schlug langsam mit den beiden Flügeln.
Zur Linken und zur Rechten kam geschritten
die Vertretung aus der Sippe.
Cantaert ging links, und rechts befand,
in voller Pracht, sich Hahn Crayant,
der schönste Hahn im Flandernland.

illustratie

Canteclair schildert bewegt, wie es Reynaert durch einen unheiligen Trick gelingt ein Massaker unter den süßen Kücken anzurichten:

"der Frühling kam mit Blütenpracht,
die Schar wuchs auf; der Söhne acht,
der Töchter waren's geschätzte sieben.
Wie viele Spiele haben sie getrieben!
Bebrütet hat sie Henne Rode,
wie kunstvoll kratzte sie am Boden!
Sie waren stramm, gesund und rund;
und ihr Zuhause war ein Grund-
stück, geschützt mit einer Mauer,
kein Räuber lag hier auf der Lauer,
denn wurde einer zu begehrlich,
so wurde es für ihn gefährlich:
Im Schuppen hausten scharfe Bracken,
abgerichtet Räuberfleisch zu packen.
Die kleinen scharrten also unbesorgt.
Doch ach! Die Zeit war nur geborgt!
Zwei Wochen ließ er uns in Frieden,
mehr war uns leider nicht beschieden.

 The Tobacco Pipe Artistory: Reineke Fuchs and Meerschaum Pipes

Wenig später stand er draußen
wie ein reuevoller Klausner,
mit einem Siegelstück, das sagte,
dass es Majestät behagte,
dass alle Tiere aller Arten
treu des Königs Frieden wahrten.
Dazu noch führt der Schurke aus,
dass er wohnt in einer Klause,
sich mit Regelmaß kasteit
für seiner Seele Seligkeit.
Pilgerstab und Kutte fromm dabei
aus Langaerde, der Abtei,
und ein haaren Büßerkleid.
'Canteclair, von Sorgen sei befreit,
auf der Kasel habe ich geschworen:
Nichts haben Fleisch und Schmalz verloren
in meinem Alter und ich bete  - alldieweil,
es geht jetzt um mein Seelenheil.
Vesper, Non und Prim hab' ich zu sagen
jede Stunde, alle Tage.'
Er spricht den Segen über mich
und setzt mit frommer Miene sich
zum Beten. Frohgemut ließ ich die Kinder
scharren. Diese freuten sich nicht minder!
Bald hat das Beten er gelassen,
um uns draußen abzupassen.
Ich konnte leider nicht verhindern,
dass er das kleinste von den Kindern
hat gerissen. Er war wie im Delirium.
Der Anfang des Martyriums!
Er war auf den Geschmack gekommen,
mehr und mehr hat er genommen!
Nicht länger halfen uns die Bracken,
er konnte viele Küken packen,
bis von der ganzen Kinderschar
nur eine Vierzahl übrig war."

Auch wenn es sich nur um Hühner handelt, einen solchen Verstoß gegen das von ihm erlassene Friedensgebot kann Nobel nicht hinnehmen. Zunächst aber ist Besinnlichkeit angesagt:

"Wir konnten Coppes Zeit nur borgen,
Gottvater wird für ihre Seele sorgen.
Ich befehle, dass für Coppe nun erklinge
die Vigilie. Fanget an zu singen!

 Reynaert in tweevoud. Deel 1. Van den vos Reynaerde · dbnl

Sodann erwarten wir den Rat,
wie man bestraft ihn für die Tat."
Nun fing der Hofstaat an mit "do"
des "Placebo Domino".
Alle Verse mit Responsen, alle Texte zum Geleit,
leider reicht uns nicht die Zeit.
    Bei der Linde, tief bewegt,
wurde Coppe abgelegt.
In ein Grab ließ man sie ein,
darauf ein weißer Marmorstein,
auf dem, in schönster Antiqua,
legte man ihr Schicksal dar:
'Hier liegt begraben Henne Coppe,
  beim Kratzen war sie nicht zu toppen.
Reynaert hat den Mord verrichtet,
die Hühnersippe fast vernichtet.'

Dann wird Braun Bär vom Hofrat zum Emissär bestimmt, um Reynaert unter Androhung schrecklichster Strafen zum Hofe vorzuladen.  Brauns Schicksal nimmt seinen Lauf:

"Doch diese Warnung merk‘ dir gut:
Vor Reynaert sei wohl auf der Hut!
Du weißt doch, dass er Streiche tut!
Er fleht, er lügt, er schwört beim Blut,
Wenn's ihm gelingt, das sei dir klar,
stehst du wie Narr und Blödbär da."
"Majestät, ich danke für die Predigt,
doch dieser Fuchs ist fast erledigt.
Der spielt bald keine Streiche mehr,
ich bin ja nicht umsonst ein Bär!"

Tiecelijn. Jaargang 7 · dbnl




Bernardo Ashetu. Ein Außenseiter aus Suriname wird allmählich entdeckt.

Über Bernardo Ashetu hatte ich schon in einem älteren Post berichtet. Als ich den alten Beitrag wieder besuchte, wurde mir noch einmal  bewu...