Montag, 22. September 2025

Ed Hoornik. Prophetisches im Alltäglichen.



Pogrom 
1938

                                                                                       Ed Hoornik 1910-1970

Die Poesie der Pfarrer wurde von den "Achtzigern" (wir sprechen vom 19. Jahrhundert) als hausbacken verspottet und regelrecht in die Verdammnis geschrieben. Die Achtziger ersetzten sie durch die Anbetung der poetischen Schönheit und den individuellsten Ausdruck der individuellsten Gefühle. Nach den Schrecken des ersten Weltkriegs aber war die Zeit der formvollendeten Lyrik vorbei. In Flandern, wo der erste Weltkrieg heftig wütete, beendete Paul van Ostaijen das Erbe der Achtziger. Er schrieb in Umgangssprache und scherte sich nicht um die ehrwürdigen Formen der überlieferten Poetik. Die Niederlande waren von der Katastrophe verschont geblieben; hier wirkte die Tradition der Achtziger länger nach, z.B. in sehr beachtlichen Dichtern wie Leopold und Boutens. Als die Zeiten immer bedrohlicher wurden, war es auch in den Niederlanden mit der Tradition der dichterlichen Dichter vorbei. In der Zeitschrift "Forum" wurde der Ausdruck eines persönlichen Standpunktes gefordert, anstatt eines wohligen Verbleibs in der makellosen Form. Die Diskussion trug den Namen "Vorm of Vent" ("Muse oder Macker"). Der Literat du Perron verzichtete, wie van Ostaijen, auf die poetische Sprache zugunsten der Umgangssprache. Diesen Stil nannte man "Parlando". Er hatte großen Einfluß, auch bei "unpolitischen" Dichtern, wie Achterberg und Vasalis.
In Amsterdam übernahmen Maurits Mok, Jac. van Hattum, Gerard den Brabander und Ed Hoornik diesen Stil, mit einer Vorliebe für die kleinen Dinge, das Anekdotische, den Spott, die Umgangssprache, das "Normale". Wenn man an die Genremalerei denkt, sind das eigentlich sehr "niederländische" Besonderheiten. Die vier wurden sogar zur "Amsterdamer Schule" erhoben.
Die drei letztgenannten gaben einen gemeinsamen Gedichtband heraus mit dem Titel "Drie op één Perron" (Drei auf einem Bahnsteig), damit anspielend auf den Einfluß du Perrons. Heute werden sie nur noch selten zitiert, dafür haben van Hattums schöne Schlußzeilen aus "140 Pond" ("140 Pfund") in alter Frische überlebt:

"Hoe meer ik drink, hoe meer ik eet,
  Hoe meer gewicht van Hattum heet".

"Je mehr getrunken, je mehr gespeist,
je mehr Gewicht van Hattum heißt"

Die kleinen Themen, das Normale und Anekdotische waren sowieso für keinen der Dichter besonders tragfähige Konzepte, und Hoornik wendete sich aus einem besonderen Grund von ihnen ab: 
Er war eine sehr prominente literarische Persönlichkeit. Er war Romanschreiber Dichter Zeitschriftenredakteur, Theaterautor, Rezensent - und ein ausgesprochener Gegner des Nationalsozialismus'. Als Zeitungsrezensent befolgte er nicht die Zensurvorschriften der deutschen Besatzung, sein hier übersetztes Gedicht wahr wohlbekannt. Infolgedessen musste er untertauchen, wurde aber verhaftet und in das Gefangenenlager Vught verbracht, in dem viele Vertreter der niederländischen Prominenz als Geiseln gehalten wurden. Einer von ihnen war der Romanautor und Dichter Simon Vestdijk, von dem ich in diesem Blog ein Gedicht übersetzt habe.
In Mai 1944 wurde Hoornik nach Dachau transportiert, wo er von den Amerikanern befreit wurde. Nach all dem Erlebten war eine Weiterführung der Poesie des "Alltäglichen" nicht länger möglich und Hoornik wandte sich einer eher theologischen und metaphysischen Thematik zu. 
Aber gerade in der Poesie des Alltäglichen und Normalen war Hoornik imstande, in einem klassisch gewordenen Gedicht das ganz und gar nicht Alltägliche und Normale, das da kommen würde, zu prophezeien:

Pogrom

Ist das der Mond, in seinem letzten Viertel
oder ein Gesicht, im Qualm- und Flammenrahmen?
Wo ist Berlin, und wo das Scheunenviertel?
Flüchtete der Junge, als die Banden kamen?
-
Ist das sein Schatten, der am Ufer steht
ist dies das Wasser, das ihn langsam nahm,
ist dies die Grenadierstraße, von dem es hin zur Spree geht?
Es ist der Amstelstrom, und dies ist Amsterdam.
-
Am Rembrandtsplein geht jetzt der Tag zu Ende,
über den Dächern beenden Lichtfontänen ihn...
Ich press' die Nägel tiefer in die Hände.
-
De Jodenbreestraat führt zu einem Abgrund hin;
ich sehe meinen Schatten zucken an den Wänden...
Zehn Stunden dauert nur die Bahnfahrt nach Berlin.


Ed. Hoornik (1910 – 1970)
aus: Steenen (1939)
Verlag: A.A.M. Stols

Übersetzung Jaap Hoepelman September 2025




 

Samstag, 20. September 2025

Reineke Fuchs. Der Anfang der Geschichte

 

Jan de Putter | Just another WordPress.com site

Reineke Fuchs
oder
Van de vos Reynaerde


von
Willem die Madocke maecte
 
Übersetzung Jaap Hoepelman 

Aus dem Mittelniederländischen,  Januar 2021.

"Reineke Fuchs? Den kennen wir doch?" Schon, aber wenig bekannt ist, dass Goethes Nachdichtung basiert auf einer  flämisch-niederländische Dichtung aus dem 13. Jahrhundert. Auch diese hatte eine lange Vorgeschichte. Die flämische Version wurde von einem Autor geschrieben, der sich "Willem die Madocke maecte"  ("Willem, der Madocke machte“) nannte, der aus Ost-Flandern stammte,  über den ansonsten wenig bekannt ist. 
"Van de Vos Reynaerde" gilt als ein Höhepunkt der mittelniederländischen Literatur. Der Text ist überraschend modern in seinem Sarkasmus ohne aufgesetzte Kunstfertigkeit. Willem gelang eine Kombination von Gesellschaftskritik, Satire, Abenteuergeschichte und Bubenstück. "Reynaerde" wird in dieser Übertragung "Reynaert" oder "Reyn" genannt. "Reynaert" bedeutet ""mit reinem Charakter". Nomen est omen...Reynaert zeigt in "Van de vos Reynaerde" nicht die Spur der moralischen Makellosigkeit eines ordentlichen Helden. Er war ein Betrüger, Sadist, Räuber, Schänder, Lügner... Seine Opfer waren aber nicht besser, nur dümmer, verschwiemelter, frömmelnder, habgieriger und verlogener. Der „Reynaert“ ist mittelalterlich drastisch, aber für Willems Zeitgenossen muss es ein Genuss gewesen sein, dass wirklich alle ihr Fett abbekamen.

Wer Lust und Zeit hat, die vollständige Geschichte zu lesen, um fest zu stellen, dass es nichts neues unter der Sonne gibt, der klicke hier

I

Der Hoftag

De Middel-Nederlandse Reinaert-verhalen in toegankelijke ...

Es war Pfingsten und zum Dank,
dass der Geist heruntersank
stand der Lenz in voller Blüte,
die Schwalben zeigten sich; es grünte
allenthalben. König Nobel nutzte die Gelegenheit,
zu zeigen sich in voller Wichtigkeit.
Also erging der bindende
Befehl, sich unverweilt am Hofe einzufinden,
und alle Tiere, groß und klein,
trafen sich zum Hoftag ein.
Reynaert Fuchs hatte verzichtet,
viel Böses wurde über ihn berichtet,
es wär' wohl schlauer, meinte Reyn, 
am Hoftag nicht dabei zu sein.

Alle Tiere hatten Grund zur Klage. Insbesondere Isengrim, der Wolf. Warum Reynaert gerade ihn auf dem Kieker hatte?  Nun, Isengrim ist ein grobschlächtiger Blödmann, aber ein großes Raubtier, also von hohem Adel. Reynaert ist ihm weit überlegen, aber er ist nur ein kleines Raubtier. Also aus niederem Adel. Wie im richtigen Leben: Das bringt Hass und Neid hervor, die sich hemmungslos austoben....

Den Anfang machte Isengrim.
Er hatte Grund für seinen Grimm!
„Sire, Ihro Majestät!
Kein Unrecht, das vor Ihrem Blick besteht,
kein Tort, wie uns von Reynaert angetan.
Was hat er meiner Frau getan,
und mich verdroschen und verhöhnt nicht minder!
Schlimmer noch! Was tat er meinen Kindern?!
Er tat was unverzeihlich ist:
Im Schlaf hat er sie vollgepisst.
Stockblind seitdem das erste Kind,
das zweite, und das dritte, Sire: Blind!

Auch Courtois der Mops und Kater Tybeert tragen ihre Beschwerden vor. Leider widersprechen ihre Aussagen sich im zentralen Punkt: Wem die gestohlenen Würstchen gehören. 

Der Mops beklagte en français das Schicksal,
das ihm, dem armen Hund, nicht mal
un petit morceau de la saucisse
in aller Ruhe fressen ließe,
nichts blieb Courtois von diesem 'appeng
weil salopard Renard! es konnte schnappeng!
"Und dies, bedenken Majesté,
im Winter war, bei Frost und Schnee!"
Jetzt aber, aufgebracht, im Zorn,
schleicht Kater Tybeert sich nach vorn.
"Nicht nur Majestät allein
hat Gründe, außer sich zu sein.
Niemand hier in diesem Rund
hat zu klagen keinen Grund.
Doch Courtois erstaunt mich sehr -
die Würstchen - das ist lange her.
Zudem, sie waren gar nicht seine,
Majestät, die Würstchen waren meine!

Nicht ohne die eigene Rolle im günstigen Licht erscheinen zu lassen, berichtet Pancer der Biber über Reynaerts merkwürdigen Umgang mit dem niederen Grasfresser Cuwaert dem Hasen, der im Verlauf der Geschichte noch eine traurige Rolle spielen wird:

Pancer, der Biber, wiederum
sprach "Majestät, ich frage mich, warum
lässt man ihn laufen, diesen Mörder und Halunken!
Was hat er nicht erlogen und erstunken!
Meine Herren! Majestät! auch Sie
düpiert er für ein Federvieh!
Dem Hasen Cuwaert - neben mir -,
hört was Reynaert tat dem tadellosen Tier.
Cuwaert hat sich nämlich ernsthaft vor-
genommen Kapellan zu werden. Chor-
gesang gehört dazu. Fleißig übte er vokal
das Kredo, doch mit einem Mal,
beim „homo factus“, hört die Messe auf.

Opdrachten Middeleeuwen blok 3

Ich beschleunigte den Lauf
und sah, wie Reynaert mit dem kleinen,
festgeklemmt zwischen den Beinen,
sich an des Hasen Kopf und Kragen macht,
fast hätte er ihn umgebracht,
wenn ich nicht, Sire Majestät,
dank Gott, es war noch nicht zu spät,
entschlossen eingeschritten wäre
zu beenden diese fromme Lehre.
Edle Herren! Wie ist er  versehrt!
Wie stehen Kopf und Hals verkehrt!
Offensichtlich ist dem Dieb
nicht mal des Königs Frieden lieb!"

Die feudale Gesellschaft war in Sippen gegliedert. Die Mitglieder einer Sippe hielten zusammen und also springt Dachs Grimbeert, von niederem Adel, Reynaert bei:

Doch Grimbeert Dachs, der nicht verknuste
was er vom Oheim hören musste,
trat auf als Reynaerts Advokat.
Ein Sprüchlein hatte er parat:
„'Feindes Mund,
tut Falsches kund!':
Wieso steht Isengrims Gelichter
nicht als erstes vor dem Richter?"

Grimbeert fährt fort, das Verhältnis von Isengrim und Reynaert näher auszuleuchten:

"Wer, vom Karren voller Fischen
warf die Schollen und die Klieschen?
Du warst es! Und wer sammelte sie alle,
als sie in den Staub gefallen?
Du! Wer fraß sie alle in sich,
und ließ für ihn nur Gräten übrig?
Du! Dazu am Strick die Seite Speck?
Ein Happen und der Speck war weg!
Vergessen? Und als Reyn dich fragt dabei,
ob etwas für ihn übrig sei,
da höhntest du: 'Hier ist der Strick,
aber Vorsicht, Fett macht dick!'"

Auch andere Aspekte ihrer Beziehung werden eingehend besprochen:

"Es heult der treue Ehemann:
„Meine Frau nahm Reynaert ran!“.
Mindestens sind‘s sieben Jahre,
dass die zwei sich öfters paaren.
Durch ihre geile Lust getrieben
sind sie einander treu geblieben.
Was ist dabei? Eine Begattung! -
das Gegenteil einer Bestattung!"

Die auf französisch vorgebrachte Beschwerde des Mopshundes Courtois wird einwandfrei widerlegt:

"Und dann Courtois und die Saucisse,
die aber Reynaert seine ieße!
Die Klage folglich ohne Gegenstand!
Wo geht es hin mit diesem Land?
Der Mops, noch nicht einmal Jurist,
erklärt, dass mopsen Sünde ist?!"

Zum Schluss wartet Grimbeert mit der Nachricht auf, die alles Vorhergehende überflüssig machen und zum endgültigen Freispruch führen soll:

"Doch edle Herren allesamt,
längst ist es nicht mehr relevant,
denn Reynaert trägt ein haaren Kleid,
seit  Frieden und Gerechtigkeit
per Gesetz in Wirkung traten.
Deshalb - die erste seiner  Taten -
ist Reyn in eine Klause eingetreten,
wo seine Zeit vergeht mit beten.
Ja, die tägliche Kasteiung
ist für den Sünder wie Befreiung.
Aus Bußetuung schöpft er Kraft
isst Hirsebrei, trinkt Wurzelsaft.
Manpertus, seine Burg, hat er begeben.
Mager, bleich und fleischlos will er leben.
Sündenfreiheit  hofft er zu erreichen
und alle Schäden auszugleichen."

An diesem Augenblick tritt eine Wendung ein, die ernste Zweifel an Reynaerts sittliche Besserung aufkommen lässt:

Gerade wollte Grimm den Schluss erreichen,
da sah man einen Zug vom Hang herunter steigen,
vorne Canteclair, dahinter Coppe ohne Kopf.
Reyn hatte sie bei Kopf und Kropf
gepackt und alles abgebissen.
Dies ungeheure Sakrileg mußte der König wissen.
Canteclair, breit  schreitend von den Hügeln,
schlug langsam mit den beiden Flügeln.
Zur Linken und zur Rechten kam geschritten
die Vertretung aus der Sippe.
Cantaert ging links, und rechts befand,
in voller Pracht, sich Hahn Crayant,
der schönste Hahn im Flandernland.

illustratie

Canteclair schildert bewegt, wie es Reynaert durch einen unheiligen Trick gelingt ein Massaker unter den süßen Kücken anzurichten:

"der Frühling kam mit Blütenpracht,
die Schar wuchs auf; der Söhne acht,
der Töchter waren's geschätzte sieben.
Wie viele Spiele haben sie getrieben!
Bebrütet hat sie Henne Rode,
wie kunstvoll kratzte sie am Boden!
Sie waren stramm, gesund und rund;
und ihr Zuhause war ein Grund-
stück, geschützt mit einer Mauer,
kein Räuber lag hier auf der Lauer,
denn wurde einer zu begehrlich,
so wurde es für ihn gefährlich:
Im Schuppen hausten scharfe Bracken,
abgerichtet Räuberfleisch zu packen.
Die kleinen scharrten also unbesorgt.
Doch ach! Die Zeit war nur geborgt!
Zwei Wochen ließ er uns in Frieden,
mehr war uns leider nicht beschieden.

 The Tobacco Pipe Artistory: Reineke Fuchs and Meerschaum Pipes

Wenig später stand er draußen
wie ein reuevoller Klausner,
mit einem Siegelstück, das sagte,
dass es Majestät behagte,
dass alle Tiere aller Arten
treu des Königs Frieden wahrten.
Dazu noch führt der Schurke aus,
dass er wohnt in einer Klause,
sich mit Regelmaß kasteit
für seiner Seele Seligkeit.
Pilgerstab und Kutte fromm dabei
aus Langaerde, der Abtei,
und ein haaren Büßerkleid.
'Canteclair, von Sorgen sei befreit,
auf der Kasel habe ich geschworen:
Nichts haben Fleisch und Schmalz verloren
in meinem Alter und ich bete  - alldieweil,
es geht jetzt um mein Seelenheil.
Vesper, Non und Prim hab' ich zu sagen
jede Stunde, alle Tage.'
Er spricht den Segen über mich
und setzt mit frommer Miene sich
zum Beten. Frohgemut ließ ich die Kinder
scharren. Diese freuten sich nicht minder!
Bald hat das Beten er gelassen,
um uns draußen abzupassen.
Ich konnte leider nicht verhindern,
dass er das kleinste von den Kindern
hat gerissen. Er war wie im Delirium.
Der Anfang des Martyriums!
Er war auf den Geschmack gekommen,
mehr und mehr hat er genommen!
Nicht länger halfen uns die Bracken,
er konnte viele Küken packen,
bis von der ganzen Kinderschar
nur eine Vierzahl übrig war."

Auch wenn es sich nur um Hühner handelt, einen solchen Verstoß gegen das von ihm erlassene Friedensgebot kann Nobel nicht hinnehmen. Zunächst aber ist Besinnlichkeit angesagt:

"Wir konnten Coppes Zeit nur borgen,
Gottvater wird für ihre Seele sorgen.
Ich befehle, dass für Coppe nun erklinge
die Vigilie. Fanget an zu singen!

 Reynaert in tweevoud. Deel 1. Van den vos Reynaerde · dbnl

Sodann erwarten wir den Rat,
wie man bestraft ihn für die Tat."
Nun fing der Hofstaat an mit "do"
des "Placebo Domino".
Alle Verse mit Responsen, alle Texte zum Geleit,
leider reicht uns nicht die Zeit.
    Bei der Linde, tief bewegt,
wurde Coppe abgelegt.
In ein Grab ließ man sie ein,
darauf ein weißer Marmorstein,
auf dem, in schönster Antiqua,
legte man ihr Schicksal dar:
'Hier liegt begraben Henne Coppe,
  beim Kratzen war sie nicht zu toppen.
Reynaert hat den Mord verrichtet,
die Hühnersippe fast vernichtet.'

Dann wird Braun Bär vom Hofrat zum Emissär bestimmt, um Reynaert unter Androhung schrecklichster Strafen zum Hofe vorzuladen.  Brauns Schicksal nimmt seinen Lauf:

"Doch diese Warnung merk‘ dir gut:
Vor Reynaert sei wohl auf der Hut!
Du weißt doch, dass er Streiche tut!
Er fleht, er lügt, er schwört beim Blut,
Wenn's ihm gelingt, das sei dir klar,
stehst du wie Narr und Blödbär da."
"Majestät, ich danke für die Predigt,
doch dieser Fuchs ist fast erledigt.
Der spielt bald keine Streiche mehr,
ich bin ja nicht umsonst ein Bär!"

Tiecelijn. Jaargang 7 · dbnl




Freitag, 29. August 2025

Staring, Dichter und Herr der Wildenborch.

Anthony Christiaan Winand Staring (1767-1840) geportretteerd door P Velyn, uitgeven doorJohannes Immerzeel
Antoni Christiaan Wijnand Staring
1767-1840



"Viel Feind, viel Ehr". In 1672, dem "Katastrophenjahr", war es doch etwas viel der Ehre, als Frankreich und England die Republik gleichzeitig angriffen, unterstützt von den Bistümern Köln und Münster (unter "Bomben Behrend", dem Bischof von Galen).

Het verbranden van de Royal James tijdens de Slag bij Solebay', door Willem van de Velde
Willem van de Velde.
Die Seeschlacht bei Solebay.
Die "Royal James" wird gesprengt.

Die Republik besiegte zwar die kombinierten Flotten von England und Frankreich in der Seeschlacht von Solebay, aber den französische Feldzug, wie üblich mit endlosem Raub, Mord und Zerstörung verbunden, konnte man nur dadurch aufhalten, dass man große Teile des Landes unter Wasser setzte. Es war tatsächlich eine Katastrophe.
                                                  
         

Die "holländische Wasserlinie"

Prinz Willem III inspiziert die Wasserlinie


In der mehrheitlich Oraniergesinnten Bevölkerung gab man den republikanischen Brüdern Johan und Cornelis de Witt die Schuld. Die Wut wurde noch befeuert durch die Tatsache, das die Zinsen auf Leibrenten verringert worden waren, nachdem Johan de Witt (er war auch Mathematiker und als solcher Begründer der Versicherungsmathematik) berechnet hatte, dass sie zu hoch angesetzt waren. Aber gute Mathematik und taktischer Geschick sind zwei Paar Stiefel: Die de Witts wurden von einem rasenden Mob ermordet und geschunden. Einige Historiker vermuten aber auch ein Komplott in der Kette der Reibungspunkte zwischen den Parteien der Orangisten und der Regenten.
Das Land war zerrüttet. Das "Goldene Zeitalter" war vorbei und es fing eine lange Periode des Niedergangs an. Das einst stolze Welthandelszentrum Amsterdam sah in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Teilen so aus:


Aber wie ein Amsterdamer Philosoph schon sagte: Ieder nadeel hep ze voordeel - Jeder Nachteil hat seinen Vorteil. 30 Prozent der Bevölkerung zog weg aus den Städten und aufs Land. Dadurch verschob sich der wirtschaftliche Schwerpunkt der Niederlande. Durch die neuen Arbeitskräfte, neue Arbeitsmethoden und Techniken und durch Trockenlegungen wurde das Land vom Importeur von Nahrungsmitteln zum Exporteur. Auch ohne Tomaten konnte damit  gutes Geld verdient werden und man tut es immer noch.  Neben den nun mal nicht adligen Kaufleuten in den Städten des Westens spielten wieder andere Bevölkerungsschichten ihre Rolle. In Gelderland, also nach holländischem Verständnis janz janz weit weg vom Zentrum der Macht, war das mittelalterliche Raubritterschloss "Wildenborch" gelegen.
1768 wurde es von den Staaten von Gelderland dem Grafen van Limburg Stirum verkauft und später von Damiaan Hugo Staring, dem Vater unseres jetzigen Dichters, erworben.

Wildenborch - JungleKey.nl Afbeelding

Sohn Antoni Christiaan Staring war ein sehr vielseitiger Mann. Auf seinem Gut pflanzte er Wälder, betrieb eine Baumschule, legte Moorgebiete trocken und entwarf landwirtschaftliche Geräte. Auf seinen Ländereien errichtete er eine Schule für die Kinder seiner Landarbeiter. Seine Bibliothek in der Wildenborch, zum Teil noch erhalten,  umfasste Bücher über Poetik, Jura, Erziehung, Sprachwissenschaft, Naturwissenschaften und vieles mehr. Für die gewissenhafte Erfüllung seiner Pflichte als Gutsherr studierte er Jura in Harderwijk  und Botanik und Physik in Göttingen (1786-1789). Starings Liebe galt auch der Literatur. Er verfasste Poesie, Erzählungen und schrieb Lieder.
Mit dem damaligen, stagnierenden Literaturbetrieb der Niederlande hatte der landwirtschaftliche Provinzbaron wenig zu tun. Vielleicht war das auch gut so: Staring hatte schon in seiner Jugend die "Basia" (Kussgedichte) des Neo-Lateiners Janus Secundus kennengelernt, kam in Göttingen


       Janus Secundus
          1511 -1536

näher mit der deutschen Klassik und Romantik in Berührung und er wusste diese Elemente im hier übersetzten Gedicht "Gedenken" virtuos zu verbinden. Durch den Einfluss der gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstandenen Gesellschaften zur Spracherneuerung steht Starings Sprache der heutigen Sprache viel näher, als die seiner Vorgänger. So wird verständlich, dass "Gedenken" noch immer zu den beliebtesten Gedichte der Niederlande zählt, ja, sogar eines der schönsten Gedichte der niederländischen Sprache genannt wird.


Gedenken

Uns schützte tropfend Laub der Weiden,
Wo ich mit ihr geduckt am Weiher saß;
Die Schwalbe überflog die Weide
Und spielte um das silberne Gras;
Das Laub, vom Dufthauch leicht bewegt,
Erzitterte zart angeregt.

Es wurde still; das Tropfen hörte auf;
Kein Vogel mehr am Himmel flog;
Der Tau stieg an den Hügeln auf,
Wo sich das Abendrot verzog;
Der Mai sang seine Abendweise!
Wir hörten es und wurden leise.

Ich sah sie an und tief bewegt,
Schmolz Seel' mit Seel' in ein.
O Zauberbann, so sanft auf mich gelegt
Von dieser Augen Schein!
O dieses Mundes Atems Süße,
Flüsternd schlingend unsre ersten Küsse!

Uns deckte friedlich Laub der Weide;
Die Dämmerung zog auf;
Das Dunkel überzog die Weiden;
Wir standen zögernd auf.
Leb' lang in seligem Gedenken fort,
Geweihte Stund'! Geheil'gter Ort!

                           -

Die verschiedenen Fassungen tragen die Jahreszahlen 1786 bis 1837 

Übersetzung Jaap Hoepelman September 2019

Herdenking
J. P. Guépin "Starings 'Herdenking'".

Staring ist auch bekannt um seine Gedichterzählungen und humoristische Epigramme. An einem Epigramm versuche ich mich hier noch. Es wurde in der Schule häufig unterrichtet und es zeigt Starings virtuose Behandlung der Sprache:

Der Hundekampf

Rul Weitgereist, auf seinen Reisen,
Sah unglaublich viel! Zwei Bullenbeißer
Kämpften vor dem Weinhaus in der Polenstadt,
Wo er gerade Unterkunft bekommen hat.
"Solch'  Kämpfen, Leute! -- Sie verschlangen
Einander regelrecht! Mit jedem Biss ein Bein
Ab oder Ohr - und glatt wie Speck hinein!
Für's Trennen war's zu spät! Zu fangen
gab's die Reste: - bei meiner Ehr',
Die Schwänze, und nicht mehr."

Het hondengevecht.

Übersetzung J. Hoepelman September 2019



George Morland 
Fighting Dogs




Dienstag, 26. August 2025

Multatuli: "Max Havelaar", The book that killed Colonialism.



 Multatuli 
 (Eduard Douwes Dekker)
1820-1887



Ähnliches Foto
                                                                                                      Multatuli in Brüssel, 1859
                                                                                                 

 "Ich bin Makler in Kaffee und wohne auf der Lauriergracht No. 37."

Dies ist der Anfangssatz des ersten Kapitels des "Max Havelaar", ein Werk, das eine Schockwelle durch die niederländische Literatur und Politik sandte.

Die Sprache der Pfarrer-Dichter, auch wenn ironisch oder sarkastisch gebrochen, war meistens altmodisch und schwerfällig. Sie war weit entfernt von der Umgangssprache. Wie weit, wurde schlagartig klar mit der Erscheinung, 1859, des "Max Havelaar" von Multatuli (Pseudonym von Eduard Douwes Dekker, 1820-1887). Douwes Dekker fuhr 1838 nach niederländisch Indien und beendete 1856 seine Karriere als Assistent-Resident in Lebak in der Residenz Bantam. Assistent-Resident war eine ziemlich hervorgehobene Stellung, die es Douwes Dekker ermöglichte tiefe Einblicke in die Funktionsweise der Kolonialverwaltung - d.h. der Ausbeutung - zu gewinnen. Als seine Proteste gegen die Auspressung der Bevölkerung durch die örtlichen Eliten - denn praktischerweise hatte die Kolonialregierung die täglichen Geschäfte den örtlichen Aristokraten, den "Regenten" überlassen - beim Generalgouverneur nichts fruchteten, beantragte Douwes Dekker die Entlassung. Es folgte ein unstetes Dasein, das ihn u.a. nach Brüssel führte, wo er in nur wenigen Monaten, 1859, den "Max Havelaar" schuf. Der "Max Havelaar" ist nicht nur heftiger Protest, sondern in Form, Inhalt und Sprache ein neuartiger Roman, der nicht nur in den Niederlanden auf große Zustimmung stieß. Der Untertitel "of de koffij-veilingen der Nederlandsche Handel-Maatschappij" d.h. "oder die Kaffee-Auktionen der niederländische Handelsgesellschaft" macht klar, dass es Douwes Dekker ging um einen breit angelegten Angriff auf den niederländische Staat  - über ein Drittel des Staatshaushaltes bestand aus Kaffee-Einkünften aus Indien, eine Tatsache, die den damaligen Lesern wohlbekannt war. Die Veröffentlichung des bahnbrechenden Werkes wurde interessanterweise durch van Lennep, ein einflußreichreiches Mitglied der oberen Kreise und Schlüsselfigur der niederländischen literarischen Szene in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ermöglicht. Über van Lennep finden sie mehr in meinem Blog unter diesem Link.

Es gab auch in Deutschland eine Reihe Übersetzungen des "Max Havelaar", man findet den deutschen Text im Internet, z.B. hier:

Max Havelaar

Das Prosa-Gedicht, das ich hier übersetze ist Teil der Geschichte von "Saidjah und Adinda", ein Fragment, das im Übrigen die Spuren der Kolonialzeit auf die niederländische Sprache (wie im Übrigen auch auf Küche, Supermarkt oder Restaurant) illustriert.



Saidjah und Adinda

("Das Lied des Saidjah")



"Ich weiß nicht wo ich sterben werde.

Ich habe das mächtige Meer gesehen an der Südküste, als ich dort war mit dem Vater zum Salz machen.

Wenn ich sterbe auf dem Meer und mein Leichnam geworfen wird in das tiefe Wasser, werden Haie kommen.

Sie werden schwimmen um meine Leiche und fragen: „Wer von uns wird den Leichnam verschlingen, der da im Wasser herunter sinkt?“

Ich werde es nicht hören.

Ich weiß nicht wo ich sterben werde.

Ich sah das brennende Haus des Pa-Ansu, er selber zündete es an, mata-glap* wie er war.


Wenn ich sterbe in einem brennenden Haus, werden glühende Holzstücke auf meine Leiche fallen
Und draußen vor dem Haus werden die Leute Wasser werfen um das Feuer zu töten mit großem Geschrei.

Ich werde es nicht hören.

Ich weiß nicht wo ich sterben werde.

Ich sah wie der kleine Si-unah stürzte aus der Klappa-Palme**, als er eine Klappa-Nuss für seine Mutter pflückte.

Wenn ich stürze aus einer Klappa-Palme, werde ich tot daliegen am Fuße des Baumes im Gebüsch, wie Si-unah.

Meine Mutter wird nicht schreien, denn sie ist tot. Aber andere werden rufen: „Seht, da liegt Saidjah!“ mit lauter Stimme.
Ich werde es nicht hören.

Ich weiß nicht wo ich sterben werde.

Ich sah die Leiche des Pa-lisu, er starb in hohem Alter, denn seine Haare waren weiß.

Wenn ich in hohem Alter sterbe, mit weißen Haaren, werden die Klageweiber um die Leiche stehen
Und sie werden jammern, wie die Klageweiber beim Leichnam des Pa-lisu. Und auch die Enkelkinder werden weinen, sehr laut.

Ich werde es nicht hören.

Ich weiß nicht wo ich sterben werde.

Ich habe viele gesehen zu Badur, die gestorben waren. Man kleidete sie in ein weißes Kleid, und begrub sie in der Erde.

Wenn ich sterbe zu Badur, und man begräbt mich außerhalb der Dessa***, gen Osten am Hügel, wo das Gras hoch ist,

Dann wird Adinda dort vorbei gehen und der Saum ihres Sarongs**** wird leise am Gras entlang streifen...

Ich werde es hören.“


Multatuli, (Eduard Douwes Dekker) aus „Max Havelaar“, 1859.

Übersetzung Jaap Hoepelman, 2014


Auf Youtube wird der ursprüngliche Text gelesen und gezeigt:

Saidjah en Adinda

Für die ganz mutigen gibt es hier den vollständigen Text auf Niederländisch:


Max Havelaar, niederländisch.


Das "New York Times Magazine" nannte den Max Havelaar "The Book That Killed Colonialism" (ein netter Aufsatz, der es aber mit den statistischen Daten nicht übertrieben genau nimmt).

Andere Texte von Multatulti habe ich hier, hier, hierhier und hier übersetzt.

*      mata-glap: Maleisisch "Finsteres Auge" - wahnsinnig.
**    Klappa: Kokos 
***  Dessa: Dorfgemeinde
****Sarong: Wickelrock

Erklärungen von mir (JH). Dem niederländischen Publikum waren die Wörter geläufig.  

Sonntag, 24. August 2025

Jacobus Bellamy: Patriotismus und Empfindsamkeit.

 

Jacobus Bellamy 1757 - 1786

Jacobus Bellamy stammte aus Vlissingen, ein Städtchen gelegen an einer strategischen Stelle in der Flussmündung der Schelde, wo es den Zugang zum Hafen Antwerpens beherrscht (gegen Ende des 2. Weltkriegs machte diese Lage sich sehr bemerkbar). 


Vlissingen ist Heimat einiger bemerkenswerter Gestalten, darunter der Flotten-Admiral Michiel Adriaansz de Ruyter, der im 17. Jahrhundert eine entscheidende Rolle spielte,

  
Michiel Adriaansz de Ruyter 1607-1667

 aber literarisch interessanter ist das aufklärerische und patriotische  Schriftstellerinnenduo Betje Wolff und Aagje Deken (Deken stammte nicht aus Vlissingen), Autorinnen des ersten niederländischen Briefromans "Sara Burgerhart" (1782), in dessen Romantitel sich das neue Bürgertum und die neue Unabhängigkeit der Frau sich ankündigte. Als Patriotinnen mussten sie später eine Zeitlang in das revolutionäre Frankreich flüchten.

          Betje Wolff, Aagje Deken, (1738-1804 bzw. 1741-1804)

  
Denkmal für Wolff und Deken 
am Bellamypark in Vlissingen

Die Theater- und Kinderbuchautorin und Dichterin Annie M. G. Schmidt war in Vlissingen während
des zweiten Weltkriegs als Leiterin der Bibliothek tätig.

Annie M. G. Schmidt 1911-1995

Die Bibliothek, ebenfalls am Bellamypark in Vlissingen, 

Am gleichen Park finden wir das Geburtshaus des Jacobus Bellamy, jetzt ein Restaurant, mit Plakette für den Dichter. 

Zu Bellamys Zeit war der Park noch ein Hafen, hierunter eine Abbildung, nur um einen Eindruck zu geben, wie anders alles damals aussah.

Der alte Hafen in Vlissingen

 Wie der Bauer-Dichter Poot hatte Bellamy das unstillbare Verlangen zu dichten, trotz einfacher Herkunft und Bildung - um zum Familienunterhalt beizutragen, arbeitete er als Bäckersknecht. Seine Begabung fiel einem Vlissinger Prädikanten auf, der ihn für eine Ausbildung als Prädikant in Utrecht (einer notorischen Patriotenstadt) weiterempfahl und ihn auch ansonsten unterstützte. Anstatt eifrig Theologie zu studieren, widmete Bellamy sich aber Politik und Dichtung und stiftete mit Freunden eine "poetische Gesellschaft", mit deren Hilfe er hoffte, die niederländische Poesie auf eine höhere Ebene zu führen. Nach deutschem Vorbild strebte er dabei eine natürlich fließende Sprache an, im Gegensatz zu der schwerfälligen Dichtung des Barocks. Seine Form war der reimlose, anakreontische Vers. Der anakreontische Vers (ursprünglich im kurz-lang Metrum "UU _ U _ U _ _") war eine typische Rokoko-Form, in der man elegant über persönliche, "leichte" Themen, wie Liebe, Wein, Genuss usw. dichtete. Es ist charakteristisch für den Zeitenwandel, dass der ehemalige Bäckersknecht damit großen Erfolg hatte. Vier Gedichtbände erschienen, die beim Publikum großen Anklang fanden, insbesondere das Gedicht "Roosje" für die lange Zeit unerreichbare Geliebte Fransje Baanen.

Hier dann ein Gedicht passend zum Thema:

Jacobus Bellamy


Die Liebe

Wann ist es, dass die Liebe
Sich zeigt am allerschönsten?
In keuchendem Verlangen?
Nach reichlichem Genießen? -
Wir kosten den Genuss schon
Umarmt von den Gedanken,
Als wir nurmehr verlangen.
Doch nach ausgiebigem Genießen,
Wenn, durch alle Freuden,
Die Saiten der Gedanken
Vollends sind überspannt,
Dann herrscht in unsrer Seele
Trübselige Verwirrung.
Dann bringt der traurige Gedanke:
Wir haben schon genossen!
Der Seele eine Lähmung.
Doch bringt ein Blick der Hoffnung
Neues Leben dem Verlangen,
Dann lebt die Seele und erschafft,
Aus nichts als Hirngespinsten,
Wohl tausend freudige Gedanken.


Übers. Jaap Hoepelman Mai 2024

Aus: Gezangen mijner Jeugd (1782)

Bellamy beschäftigte sich nicht nur mit der Dichtkunst. Etwas in der Vlissinger Atmosphäre scheint zu Aufständischem und Respektlosem anzustacheln. Vielleicht ist es eine gewisse Kleinkariertheit, über die Betje Wolff sich schon heftig beschwerte (wie über die Verwicklung ihrer Vaterstadt im Sklavenhandel). Die patriotische, d.h. anti-orangistische Politik war somit das andere Thema, das Bellamy in der immer unruhigeren Zeit beschäftigte.

Im Europäischen Rahmen sind die Niederlande ein ziemliches Kuriosum. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts waren die Niederlande Teil des Reichs der spanischen Habsburger. Seit den 1560er Jahren entwickelte sich eine aufständische Bewegung gegen die Habsburger, nicht zuletzt aus religiösen Gründen.  1581 verabschiedeten die Generalstaaten der Niederlande eine Unabhängigkeitserklärung, in der sie sich vom spanischen König, Philipp II, aus dem einfachen Grund lossagten, dass dieser ein Tyrann sei, der die Rechte seiner Untertanen gröblich missachtete (ich vereinfache in unzulässigster Weise). Es war keine geringe Sache. Die Niederlande waren schon im Mittelalter ein wirtschaftlicher Schwerpunkt Europas gewesen und waren es im Habsburger Reich nicht weniger. Philipps Vater, Kaiser Karl V, war sogar in Gent geboren und sprach Niederländisch. Zwar, wie man sagte, nur mit seinem Pferd, aber immerhin. Da ein Staat ohne Fürst unvorstellbar war, trugen die Generalstaaten einer Reihe von Herrschern verzweifelt die Fürstenwürde an. Alle lehnten ab (nur nicht der englische Graf Dudley, der sich durch seine Arroganz selber abschoss). Warum sich Ärger mit Spanien einhandeln, dem mächtigsten Staat Europas, nur wegen eines Küstenstreifens mit einem Haufen aufständischer Bettler? Willem von Oranien, Anführer der Aufständischen, wäre die natürliche Wahl gewesen, aber dieser war 1584 gerade eben ermordet worden. Bereits1572 war Willem von den Generalstaaten zum Statthalter (d. h. zum führenden Beamten mit den Aufgaben eines Fürsten) ernannt worden, so dass jetzt zuerst sein Sohn Maurits, dann dessen Halbbruder Frederik Hendrik den Platz eines Statthaltern einnehmen konnten. In 1588 ernannten die Generalstaaten sich selbst zum Souverän der Niederlande, welche dadurch de facto zu einer Republik mit einem verbeamteten Ersatzkönig wurden. Es war eine einmalige Konstruktion, die zwangsläufig zu Spannungen zwischen den Orangisten und den Republikanern führte. Aber die Oranier hatten sich eine relativ feste Position erschaffen, eine Stellung, die im Auf und Ab von Dynastie und Republik erhalten blieb. In Teilgebieten der Niederlande wurde die Statthalterschaft sogar erblich, in 1747 im ganzen nördlichen Gebiet. Aber die Zeit reichte nicht mehr: Nur noch zwei der Oranier, Willem IV und Willem V, konnten sich über den Titel "Erbstatthalter" der ganzen Niederlande freuen. Nach dem Katastrophenjahr 1682 wurde die Position der Republik unaufhaltsam schwächer. Die vernachlässigte Flotte war nur noch ein Schatten ihrer Selbst. In totaler Verkennung der Lage unterstützte die Republik die amerikanische Revolution durch Waffenlieferungen über die Karibikinsel St. Eustatius gegen den Konkurrenten Großbritannien. Wie zu erwarten, nahm die Konkurrenz das nicht hin. In 1780 ging der Vierte Englische Seekrieg katastrophal verloren. Durch die Ideale der amerikanischen Revolution und der Aufklärung, sowie die allgemeine Unzufriedenheit über die Lage der Republik wurde der Ruf nach mehr Freiheit immer lauter. Die Patrioten führten eine heftige Pressekampagne mit zahlreichen Pamphleten, in denen es hieß, dass  die Freiheit vom Statthalter und seiner Kamarilla unterdrückt wurde - womit wir wieder bei Willem V wären. Willem war als Statthalter völlig ungeeignet. Weil er seinem Vater als Dreijähriger nachgefolgt war, wurden die Staatsgeschäfte von Ludwig-Ernst von Brunswick-Wolfenbüttel wahrgenommen, dessen Nichte, die preußische Prinzessin Friederike Wilhelmine, später Willems Gemahlin wurde. Ludwig-Ernst fand Gefallen an den Staatsgeschäften und er ließ sich die Weiterführung seiner Vogtschaft zusichern, auch nach Willems Erreichen der Volljährigkeit. Als der Geheimvertrag in 1785 bekannt wurde, brach ein Aufstand aus. Willems Position in den Haag war nicht mehr zu halten und er flüchtete mit seiner Gefolgschaft in die immer noch orangistische Provinz Gelderland, zuletzt nach Nimwegen, mit leichten Fluchtmöglichkeiten nach Deutschland. Das also war mit dem "Geldernschen Schwein" des unten gezeigten unflätigen Pamphlets unseres Dichters gemeint. Ob Willem V wirklich so böse war, wie unser von patriotischem Eifer beseelter Pamphletist schreibt, kann angezweifelt werden. Man würde ihn eher als hilflosen Volltrottel beschreiben. Habgier allein unterschied ihn mit Sicherheit nicht von der Masse seiner Standesgenossen. "Ich wünschte mir, dass ich tot wäre, dass mein Vater nie Statthalter geworden wäre. Ich bin dazu unfähig. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht" schrieb er. Man könnte ihn fast bemitleiden.

Bellamy veröffentlichte seine Pamphlete in der patriotischen Zeitung "De Post van den Neder-Rhijn".




Seine Beschreibung des Statthalters ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig:



Seine Hoheit als "Geldernsches-Schwein"? Ziemlich keck, für einen Bäckersknecht! Die Zeitung, in der 1782 das Pamphlet erschien, wurde sogar für eine begrenzte Dauer verboten.

Ich versuche die Schmähschrift zu übersetzen, ohne mich auf Poetik zu kaprizieren, was in diesem Fall nicht schwerfällt:

Einem Verräter des Vaterlandes

Es war Nacht, als Deine Mutter kreißte
Die Nacht, die schwarz war wie noch nie.
Reigen Höllengeister kreisten,
Die Welt der Vögel dreimal schrie,
Im Spukwald konnte man es hören.
Die Meereswellen rasten, kochten,
Dass bis in den Himmelschören
Sogar die Engelsherzen zitternd pochten!
Dich sah die Mutter - und das Leben
Floh aus dem bedrückten Herz!
Dein Vater stand, fing an zu beben,
Dann sank er hin, gefällt vom Schmerz,
Dann, wie Donner, eine Stimme hallte,
Hallte in dem Haus, das dich empfing:
"Dass fern von diesem Kind sich jeder halte,
"Die Natur gebar ein Teufelsding!
"Sie gebar zur Strafe der Nation,
"Als Anzeichen des Himmels Grimm!
"Der Geister übelster Patron
"Sei auf der Erd' zum Schütze ihm!
"Er wird das Vaterland verraten!
"Der Freiheit treten auf die Brust!
"Kein Gold in Massen wird ihn je behagen,
"Denn unersättlich ist sein Durst!
"Es dürstet ihn nach Gold und Seide,
"Er wird der Fürsten liederlichster Knecht!
"Sieht er der Unschuld Blut und Leiden
"So  ist's ihm Freud', so ist's ihm recht!
"Falschheit ist das Wesen seiner Seele,
"Der Betrug bewohnt sein Sabberloch!
"Keine Furcht kennt seine Höllenseele;
"Immer denkend; "Ätsch! mich gibt es noch!"....
"Vergebens ist's sein Tun zu unterbrechen!
"Vergebens wäre hier Gewalt!
"Geboren wurde er zum Vaterlandsverbrecher,
"Zum Fluch des Volkes die Gestalt!"

Verräter, Monster! Fluch der Erde!
Du, Geschöpf, beleidigst die Natur!
Gottes Fluch, der Dich noch nicht verheerte
Wird Dich verbrennen, warte nur!

Übersetzung Jaap Hoepelman, Juni 2024

Bellamy war in verschiedener Hinsicht ein literarischer Erneuer. Er versuchte nicht nur eine neue Dichtung zu entwickeln, sondern gab auch eine Zeitschrift "De poetische Spectator" heraus, in der neue Formen der Literaturkritik betrieben wurden.
Daneben war er ein wahrer politischer Aktivist. Seine patriotischen Gedichte in den "Vaderlandsche gezangen" (1782/1783) unter dem Pseudonym "Zelandus" machten ihn in den Niederlanden überaus beliebt. Jedoch er starb, vollkommen unerwartet, am 11 März 1786. Seine Fransje, die er nun doch bekommen hatte, kam eine Weile in der Gartenklause der Damen Wolff und Deken unter.
1787 konnte Willem V wieder nach Den Haag zurückkehren, aus Nimwegen heraus gehauen durch die preußische Armee. Er hielt sich in Den Haag, bis 1795 die französischen Revolutionsgarden in die Niederlande einzogen, gefolgt von den nach dem preußischen Überfall nach Frankreich geflohenen Patrioten. Willem V zog zu den deutschen Verwandten nach England und beendete sein marginales Dasein in 1806 in Braunschweig.

Man kann schön darüber spekulieren, wie die die Republik und ihre Dichtkunst sich entwickelt hätten, wäre Bellamy mit 27 nicht so frühzeitig verstorben.












Ed Hoornik. Prophetisches im Alltäglichen.

Pogrom   1938 Pogrom                                                                                                             Ed Hoornik ...