Sonntag, 12. April 2020

Guido Gezelle. Priester und Erneuerer der flämischen Dichtung.

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Guido Gezelle 1830 - 1899

Guido Gezelle wurde in der west-flämischen Stadt Brügge geboren. Brügge war einst ein Zentrum der Kultur, eine der reichsten und mächtigsten Städte Europas. Zu Gezelles Zeiten war die Stadt aber völlig heruntergekommen. 


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Flandern, nicht Holland, war jahrhundertelang ein Zentrum der Kultur im nord-westlichen Europa. Im 19. Jahrhundert war es aber zum Armenhaus  geworden, in verschiedener Hinsicht vergleichbar mit Irland in der gleichen Periode:
Kulturell und sprachlich - Die flämische Sprache wurde mit Verachtung betrachtet als ein Bauernjargon. Jeder Flame, der in Belgien etwas bedeuten wollte, sagte sich so schnell wie möglich vom Flämischen los. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts hatte nicht mehr als 9% der flämischen Bevölkerung die Grundschule besucht. Es gab, nach der Trennung von den südlichen und den nördlichen Niederlanden, in Flandern schlicht keine Hochsprache mehr, in der eine Kultur sich hätte weiter entwickeln können. Dazu kam, dass die südlichen Eliten nach dem Fall Antwerpens (1585) in die nördlichen Niederlande geflüchtet waren. Man muss Gezelles Leistung gegen diesen Hintergrund beurteilen. Zu seiner Zeit bestand Flämisch aus einer Ansammlung örtlicher Dialekte, nur verstanden von einer analphabeten Unterklasse, die dafür die offizielle französische Hochsprache nicht verstand.

Wirtschaftlich - Wallonien war nach England das zweite Zentrum der industriellen Revolution. In Flandern sah es anders aus. Die Textilindustrie, wofür Flandern berühmt gewesen war, 
war durch die Einführung der neuen Maschinen nicht mehr konkurrenzfähig. Neue Maschinen gab es in Flandern nicht. Es gab sozusagen nichts, außer Landwirtschaft. Die Schließung der Häfen von Antwerpen und Gent durch die nördlichen Niederlande 1585-1795, trug dazu das Ihrige bei (praktischerweise wurde dadurch eine lästige Konkurrenz ausgeschaltet). Hinzu kamen die Kartoffelkrankheit und verheerende Typhus- und Cholera-Epidemien in den vierziger Jahren.

Religiös - Die südlichen Niederlande waren katholisch geblieben, die nördlichen waren in der Hauptsache calvinistisch geworden. In beiden Lagern fehlte es, gelinde gesagt, an Fingerspitzengefühl. Nach der napoleonischen Zeit waren zwar die beiden Niederlande wiedervereint worden. Die Gegensätze konnten aber nicht mehr überbrückt werden und nach einem sinnlosen, kurzen Krieg gingen beide Teile in zwei neugegründete Staaten über.

Es war aber nicht so, dass die Verachtung und Marginalisierung der flämischen Bevölkerung keine Ressentiments hervorrief, im Gegenteil. Es war in dieser Situation, dass Gezelle eine Sprache fand, die eine neue Dichtung und ein neues Selbstwertgefühl ermöglichte. 

Es hat lange gedauert, bis Gezelle Anerkennung fand. Seine Sprache, eine selbst geschaffene Mischung aus west-flämischen Mundarten, seine trügerisch einfachen Bilder, seine Experimente mit Klang, Reim und Rhythmus, seine ekstatischen, fast pantheistischen Naturbilder wurden nicht mit Wohlwollen aufgenommen. Dazu kamen seine publizistischen Aktivitäten als Befürworter eines anti-liberalen Katholizismus, die in liberalen Kreisen nicht gut ankamen.
Gezelles journalistische Tätigkeiten brachten ihn in finanzielle Schwierigkeiten und sein Umgang mit den Priester-Zöglingen seiner Poetik-Seminare wurde misstrauisch beäugt. 
Zu wichtigen Stellungen in der Kirche hat er es nicht gebracht, er wurde häufig versetzt, seine Schüler aber trugen ihn auf Händen.
Er war vielseitig begabt: Übersetzer, Kenner des Englischen, Deutschen, Französischen, Italienischen, Spanischen und Griechischen - neben, selbstverständlich, dem Latein und dem Flämischen bzw. Niederländischen. Als Sprachgelehrter sammelte er einen über 200.000 Einträge umfassenden Wortschatz der südlichen Dialekte, welcher später aufgenommen wurde in das Große Wörterbuch der Niederländischen Sprache. 

Von den Fremdsprachen stand Englisch ihm am nächsten. Flandern hat von jeher enge Beziehungen zu England und  Gezelle war ein Befürworter des "Oxford Movement", das einen Rückkehr Englands zur katholischen Kirche anstrebte. Sein innigster, aber nie realisierter Wunsch, war der nach einer Missionarstätigkeit in England. Nach einigen teilweise erniedrigende Versetzungen, wurden Gezelles Verdiensten gegen Ende seines Lebens allmählich anerkannt. 
Er starb 1899 als Direktor des englischen Klosters in Brügge.  

Gezelles Konservatismus und seine Religiosität werden manchmal verglichen mit denen seines Zeitgenossen, des britischen Jesuiten Gerard Manley Hopkins, auch dieser ein großer Erneuerer der Dichtkunst. Die Überwältigung durch das unbegreiflich Göttliche, die wir in Hopkins "Windhover" finden, klingt auch durch im Kurzgedicht "Weißt Du" auf dieser Seite, wie auch im "Schreiberchen" (auf der nächsten Seite), das die Ehrfurcht beschreibt vor der göttlichen Allmacht in der Gestalt eines winzigen Tierchens

Gezelles Dichtung stand am Anfang der flämischen Bewegung und wirkt in der süd- und in der nordniederländischen Poesie bis heute nach.
Er wurde zum Doctor Honoris Causa der Universität Löwen, Träger des päpstlichen Ehrenabzeichens Pro Ecclesia et Pontifice und zum Ritter im Leopoldsorden ernannt.
Heute gilt Gezelle als einer der Großen der flämisch-niederländischen Dichtkunst.

Zum Schluss noch dies:
Die von mir gebrauchten Bezeichnungen "Flämisch" und "Flandern" sind eigentlich ungenau und nicht zeitgemäß. Die offizielle Sprache des nördlichen Teilstaates Belgiens ist Niederländisch. Historisch besteht "Flandern" aus West- und aus Ost-Flandern. "Flämisch" wird nur in einem Teil des nördlichen Teilstaates gesprochen und klinkt nicht nur für Niederländer, sondern z.B. auch für Brabanter und Limburger ungewohnt (mit Dank an Paul Claes).

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Weißt Du



"Numquid nosti semitas nubium?" *



Weißt Du, wo der Wind geboren,
wo des Taus Geburtsort ist?
Weißt Du kunstvoll nachzuspüren
was nahebei, was oben ist?

Weißt du, was die Sterne sind, und
was der Mond, die Sonne? Was
in den Minen, in den Bergen
liegt und was das Meer befasst?

Weißt Du die Antwort auf die Fragen
aller Art, die man Dir stellen kann?
Dann antworte und will mir sagen:
Dichten...was ist Dichten dann?



Hiob 37:16 *

"Numquid nosti semitas nubium magnas, et perfectas scientias?"
"Kennst Du etwa die Wege der mächtigen Wolken und hast das vollkommene Wissen?"

(1860)



aus: Volledige dichtwerken, Standaard, 1971. 





Übersetzung Jaap Hoepelman Februar 2019

Lidy van Marissing. Lange vernachlässigt.

Lidy van Marissing. 1942 Lidy van Marissing schrieb experimentelle Poesie und Prosa. Ihre Kunst ist manchmal schwer verständlich und wurde l...