Donnerstag, 25. Januar 2018

de Génestet und die Zeit um 1860

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Peter de Génestet
(1829-1861)


Endlich, um 1860, kam Bewegung in der Erstarrung, die aufgetreten war nach der napoleonischen Zeit und dem sinnlosen belgischen Feldzug. Die Industrialisierung fand in Belgien statt, während die Niederlande durch die üppigen Erträgen des "cultuurstelsels" (Zwangsanbausystems) und des Opiumhandels in Indonesien in der Entwicklung stecken blieben. Der Streit zwischen den "Gomaristen" und den "Arminianern" war immer noch lebendig. Noch 1851 war das große Auditorium der Amsterdamer Universität durch eine Trennwand geteilt in einen Teil für die streng-calvinistischen oder "gomaristischen" Professoren und einen Teil für die übrigen (Mennoniten, Lutheraner, liberale "Arminianer"), mit, im Übrigen, bedeutend mehr Platz für die gomaristischen Professoren. Die Anfänge des hartnäckigen Streits habe ich in den Posts über Vondel und Revius beschrieben. Sogar die ersten Eisenbahnlinien (die erste 1839, Amsterdam - Haarlem, siehe "An Rika") dienten als Streitmaterial in der Frage der Prädestination (weil im Widerspruch zur Göttlichen Vorsehung, wie die Impfung auch). Aber durch die wissenschaftlichen und technischen Fortschritte (nicht zuletzt eben der Eisenbahn) hatte eine Entwicklung angefangen, die nicht umkehrbar war. 1850 schrieb der junge Student der Theologie, Petrus Augustus de Génestet einen Spottvers auf die Trennwand "Het Schotje" - "Das kleine Schott", "die (lächerliche) kleine Trennwand", mit solchen schönen Versen wie

Den Lutheraan, den Remonstrant,
Bij zulk een feestgenotje,
Die schuift en dringt men op elkaêr,
Als uitschot – achter ’t Schotje!

(Aus dem Amsterdamsche studenten-almanak voor het jaar 1850)

Den Lutheraner, Remonstrant,
Bei solchem Festgenuss
schiebt und drängt man aufeinander
Hinter das Schott als Ausschuss

(Übers. Jaap Hoepelman)

Die Stimmung im Lande hatte sich gewandelt und nach dem Erscheinen des Gedichts ließ das Kuratorium die Trennwand entfernen.

De Génestet war ein liberaler, aufgeklärter Pfarrer, Arminianer eben und seine Epigrammen, die häufig Spott und Zweifel erkennen ließen waren meilenweit entfernt von den Reimen der übrigen Pfarrer-Dichter, wie sie von Cornelis Paradijs gnadenlos parodiert wurden.

Vor beißendem Spott auf das eigene Land schreckte de Génestet nicht zurück (es wird in den Niederlanden noch immer mit Zustimmung gelesen):

P.A. de Génestet
Nov. 1851

Boutade

O Land von Mist und Nebel, von fiesem, kaltem Regen,
    Durchnässtes Handbreit Grund, nasskalter Tau in frösteligen Schwaden,
Von knöcheltiefem Schlamm auf matschbedeckten Wegen,
    Von Gicht und Regenschirmen, Zahnschmerz, Krämpfe in den Waden!

O strunzlangweil'ger Sumpf, Erbhof des Überschuhs,
    Der Böhnhasen, der Frösche, Baggerleute und des fetten Tones,
Der Rinder groß und klein, beide im Überfluss,
    Empfange jetzt das Herbstweh Deines verschnupften Sohnes!


Dein feuchtgetränktes Klima verwandelt mir das Wort im Mund
    In Schlamm; Ich habe weder Lied, noch Hunger, Sünde oder Sitte.
Zieh Überzieher über, du, den Vätern heil'ger Grund,
    Du, abgetrotzt den Wogen, doch nicht auf meine Bitte.

Übersetzung J. Hoepelman November 2017

 1860 veröffentlichte er den Band "Leekedichtjes" (kleine Gedichte für (oder von einem) Laien") und wurde damit zu einem der am Meisten gelesenen Dichtern der Periode. Einige habe ich hier übersetzt und meine sogar Anklänge an Spinosa zu hören:

Zwei Koryphäen

"Verrückt ist einer von uns zwei",
Ein Theologe sprach zum anderen.
"Denn was wir glauben streitet ohne Zweifel miteinander:
Dies ist evident für Sie, das ist's für mich -
Also, eines ist nur möglich: Sie oder ich..."
Oder beide, dachte einer sich und - ging vorbei.

Rauswerfen
(Unseren Ketzerjägern)

"Weit", ruft ihr, "werft sie aus der Kirche raus",
Weitet ihr lieber eure Kirche aus!

Artenvielfalt

Sprecher, Hörer, Denker, Täter
findest du mühelos, je nun,
Selten findest du vereinigt
Sprechen, hören, denken, tun

Dualismus

Meine Wissenschaft und mein Glauben,
Sie leben zusammen im Zwist,
Weil die eine Seite denkt, dass was die andere denkt
Und tut ausgemachter Schwachsinn ist.
Inzwischen, beide hab' ich lieb,
Gleichsam treu und innig
Und doch so meine ich - bin ich

Weder unredlich noch schwachsinnig.

Idealismus

Mache ich die Augen zu,
Dann mag ich's gerne glauben;
Mache ich sie wieder auf
Schwimmt wieder Zweifel obenauf

(nahmenlos)
"Sei dich selbst!" sagte mir einer;
Er konnte nicht, denn er war keiner.


Aus Leekedichtjes De Gids. 1857.


In 1859, nach 7-jähriger Ehe starb de Génestets Ehefrau an Tuberkulose und einen Monat später sein einjähriger Sohn. Génestet schrieb das fast sardonische Epigramm:

Trauerklage

Gott hat dich schwer geprüft - schon klar,
Ein Trostgrund nur: Ich weiß, dass Er es war.

(Übersetzungen Jaap Hoepelman, Januar 20019)

Zwei Jahre später verstarb auch de Génestet an Tuberkulose.



Die Zeiten änderten sich, und immer mehr Zweifeln kamen auf. Zweifel am kolonialen Imperium - 1859, erschien mit der "Max Havelaar" von Multatuli die erste grundlegende,  literarisch revolutionäre Kritik des "cultuurstelsels" - und Zweifel an der Religion. Das "Gebet eines Unwissenden" von Multatuli war eine Sensation in seiner Zeit - ich werde es in einem anderen Post übersetzen.
1863 wurde die Schulreform durch Minister Thorbecke eingeleitet. Die Niederlande waren in die Neuzeit angekommen.







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