In Amsterdam hat vor kurzem ein Wandgemälde einigen Staub aufgewirbelt. Zu sehen sind an einer Häuserwand eine teilweise verpixelte nackte Schöne, einen Bewunderer, der vor lauter intensiver Betrachtung das Gleichgewicht verliert und ein nur teilweise abgebildetes Gedicht, das aber soviel mitteilt, dass der Leser ohne viel Mühe den Inhalt entschlüsseln kann. Verpixelt wurde ein Teil des Bildes als Kompromiss erst nachträglich vom Künstler, weil das Original Unmut in der Nachbarschaft verursacht hatte und zuvor mit Farbbomben und politischen Bannern verunstaltet worden war. Paradoxerweise zieht die Verpixelung die Blicke eher auf sich, als das unverpixelte Original. Der Dichter war der "rijksadvocaat" (eine Art Fiskalanwalt für den Staat) und späterer Staatsanwalt Jacob van Lennep. Das Gedicht schmückt passenderweise eine Wand an einem nach ihm benannten Kai, der "Jacob van Lennep Kade".
Der "Jacob van Lennep Kade" ist nicht ein Kai an einer der ikonischen Amsterdamer Grachten. Mehr standesgemäß wohnte Staatsanwalt van Lennep an der Keizersgracht 560:
Das Haus steht noch heute und wird von einem Giebelstein geschmückt:
Jan Six
Rembrandt van Rijn
Nicht ganz überraschend war Jacob van Lennep politisch konservativ, aber mit der nonchalanten Liberalität, die bei entsprechender gesellschaftlicher Stellung und Vermögen manchmal vorgefunden wird. So wird berichtet, dass er sich um passende Kleidung nicht besonders kümmerte oder auch mal in einer Art Kaftan herumspazierte. Er war unglaublich produktiv, verfasste historische Romane, wie sie in dieser Epoche durch Walter Scott in Mode waren, Gedichte, Übersetzungen, schrieb historische Abhandlungen, sammelte und beschrieb völkerkundliche Materialien, war sprachwissenschaftlich tätig, war Mitglied des Parlaments, der Veterinärkommission, beschäftigte sich mit der Landesgesundheit, usw. usw...Eines seiner Projekte war die Organisation der Amsterdamer Trinkwasserleitung, ein Vorhaben von höchster Dringlichkeit: Choleraepidemien gab es in Amsterdam des 19. Jahrhunderts erschreckend häufig. Sie entstanden in Umgebungen wie dieser:
Van Lenneps liberale Einstellung zeigte sich auch in seiner Hilfsbereitschaft für weniger vom Schicksal begünstigte Kollegen, z.B. Multatuli, dem er die Veröffentlichung des staatskritischen Romans "Max Havelaar" ermöglichte - (es gäbe darüber mehr zu erzählen; zuviel für den Moment), oder Gerrit van der Linde, der ein kümmerliches Dasein als Schulmeister in London fristete, der aber in seiner Korrespondenz eine erstaunliche Unbekümmertheit an den Tag legt. Vielleicht, weil van Lennep in van der Linde eine verwandte Seele entdeckt hatte. Van Lennep, man kann es nicht anders sagen, war so etwas wie ein mit zahlreichen Kindern gesegneter "schuinsmarcheerder", ein Lebemann. Das war allgemein bekannt, es hat ihn wahrscheinlich die Ernennung zum Geschichtsprofessor gekostet. Van der Linde jedoch hatte es, nach einer Affäre im akademischen Milieu, Hals über Kopf nach London verschlagen. Aus van der Lindes Bettelbriefe geht hervor, dass er seine alte Angewohnheiten nicht ganz verlassen hatte, worüber er mit der Staatsanwaltschaft ganz auf Augenhöhe verkehrte. Hier wiederhole ich die erste Zeile eines Reims in einem Schreiben an van Lennep:
Wenn manchmal die bösen Fleischeslüste dich tun plagen...
Van Lennep's Leben scheint durch seinen Lebensstil weniger durcheinander gebracht worden zu sein: Quod licet Iovi.... Auf alle Fälle konnte er sein unmissverständliches "An ein Röslein" unbeschwert im Kreise seiner Kollegen-Patrizier im Herrenverein "Saterdagsch Gezelschap"** vortragen:
An ein Röslein*
Sanftgefärbte Frühlingsblüte,
Was du wohl auf Selindes Busen tust,
Dass du kuschlig auf den Brüsten
Wie zwischen daunen Pfühlen ruhst!
Artig's Röschen, frisch entfaltet,
Wär' dein selig's Schicksal meins,
Läg' auch ich sanft festgehalten
Wo das Halssatin sich spreitzt,
Ich läge nicht, wie Du, bewusstlos
Das Köpfchen abgeknickt beiseits;
Nein, die Neugier schaute ruh'los
Auf die Landschaft nahebei.
Angespornt von heißen Lüsten
Auf die Brüste, weiß und weich,
Drückt' ich tausend, tausend Küsse
Auf Schultern, Hals und Nacken gleich.
Ich würd' zusammen auch vergleichen
Beide Kugeln, weiß und rund:
Welcher ich den Lorbeer reiche
Woraus bestünde der Befund?
Wo die Venen blauer schienen,
Wo das Weiß am weißten war,
Welcher die größte Federkraft verliehen,
Welche der Beere röter war.
Dann versucht' ich nach zu spüren,
Wohin die hohle Gasse leitet,
Wohin die Furche mich will führen,
Die ein Rund vom anderen scheidet,
Die stillschweigend mir bedeutet,
Dass die Gass' nach unten führt,
Dort, wo warten ungeahnte Freuden,
Von keinem Sterblichen berührt.
Ich nähm die Gasse, lustgetrieben wie ich war,
Bis ich den Schatz in Augenschein genommen
Und sich auftat, was geheim geblieben war,
Bis ich in Cypris' Rosenhof war angekommen.
* "Selinde" war eine in der Romantik gerne um ihre Schönheit besungene Frauengestalt. So lauten z.B. die ersten Zeilen des Gedichtes "Selinde" von Gellert (1715-1769)
Das schönste Kind zu ihren Zeiten
Selinde, reich an Lieblichkeiten
Während Gellert die Tugendhaftigkeit Selindes besingt, bereimt Friedrich Schlegel in "An Selinde" eher die körperlichen Freuden. Franz Schubert kommt in den ersten Zeilen des Liedes "Stimme der Liebe" (Text Graf zu Stolberg), ohne Umschweifen zur Sache:
Meine Selinde! Denn mit Engelsstimme
Singt die Liebe mir zu: sie wird Deine!
"Cypris" steht für Venus, die der Legende nach auf Zypern geboren wurde.
Der Kontrast zwischen Tugendhaftigkeit und Attraktivität wird dem romantischen Lebemann van Lennep nicht entgangen sein.