Donnerstag, 7. März 2024

De Haan. Zwischen allen Stühlen


            Jacob Israel de Haan
                    1881-1924



Über Jakob Israel de Haan gibt es viel zu berichten. Er war ein kontroverser Schriftsteller und Dichter, der zu seinem Unglück vieles versuchte, bis er 1924 erschossen wurde.
In 1904 veröffentlichte er, 22-jährig,  den Roman "Pijpelijntjes"*, der seine homoerotische Freundschaft mit dem Arzt und Schriftsteller Arnold Aletrino zum Thema hat. 
Obwohl Aletrino in einer Aufsehen erregenden Studie aus 1897 Homosexualität als normal und gesund beschrieben hatte, war er dermaßen schockiert, dass er, zusammen mit de Haans Ehefrau, Johanna van Maarseveen, versuchte die ganze Auflage aus dem Markt zu kaufen. De Haan selber verlor umgehend seine Mitarbeit an der sozial-demokratischen Zeitung "Het Volk" und seine Anstellung als Grundschullehrer. Mit charakteristischer Kompromisslosigkeit schrieb er 1908 den Nachfolgeroman "Pathologieen: de Ondergangen Van Johan Van Vere de With"(Auch übersetzt - "Pathologien: Der Untergang des Johan Vere de With"), in dem er beschreibt, wie ein junger Mann an einem sadistisch-homosexuellen Verhältnis zerbricht. 


In einer jüdisch-orthodoxen Großfamilie aufgewachsen (Eine Schwester de Haans war die Schriftstellerin Carry van Bruggen, die zum Kanon der niederländischen Literatur gehört), gab er den orthodoxen Glauben auf, wurde Sozialist, studierte Jura und promovierte zum Thema "Rechtskundige Significa" **, (Juristische Signifik).

de Haan als Jura-Dozent 
an der Uni Amsterdam

 In 1912-1913 besuchte de Haan als Jurist verschiedene russische Gefängnisse für jugendliche Straftäter, gewappnet mit einem Brief der niederländischen Königin Wilhelmina. Er war entsetzt über die dort herrschende Rohheit, Rechtlosigkeit, den Willkür und das unaufhörliche, unverfrorene Lügen. Er war gleichermaßen entsetzt über den herrschenden Antisemitismus. Seine Beobachtungen veröffentlichte er im Buch "In Russische Gevangenissen" (1913).


Mit Zustimmung zitiert de Haan aus Ignotus' (Pseud. des P.J. Kromsigt) "Russische toestanden" ("Russische Zustände"): "Die russische Regierung hat immer gelogen; sie belog und belügt ihre Untertanen, sie belog und belügt das Ausland, die ihr hörigen Zeitungen lügen, ihre Minister lügen. Sie und ihre Akolythen lügen mit Absicht und mit Berechnung und mit Unverfrorenheit."
Man reibt sich die Augen und schaut nach, ob das Datum der Veröffentlichung tatsächlich 1912 ist.

De Haans Erfahrungen führten dazu, dass er sich dem Sozialismus zuwendete (wir sind noch in der Zarenzeit, und die große Hoffnung war, dass die Missstände sich durch den Sozialismus ändern würden) und mit seiner üblichen Begeisterung und Naivität zusammen mit Frederik van Eeden und Henriette Roland Holst ein Komitee gründete zur Unterschriftsammlung um die damaligen Verbündeten Russlands, Frankreich und Großbritannien, dazu zu bewegen gegen diese Übel zu protestieren.
Später kehrte er zurück zur Orthodoxie und wurde Mitglied der religiösen Fraktion des niederländischen Bundes der Zionisten. Seine im Zarenreich gemachte Erfahrungen mit dem Antisemitismus bewegten ihn, 1919, in das britische Mandatsgebiet Palestina zu emigrieren. Dort angekommen fühlte er sich immer mehr angezogen zum Agudat Israel, der Organisation der streng-religiösen Haredim unter der Leitung des Rabbiners Joseph Chaim Sonnenfeld, die einen säkularen Staat Israel ablehnten. De Haan unterrichtete an der rechtswissenschaftliche Fakultät in Jerusalem, schrieb als Journalist Berichte für niederländische Zeitungen und nahm als Sprecher der orthodoxen Bewegung eine nicht unbedeutende Stellung ein. Die Lage im britischen Mandatsgebiet war, gelinde gesagt, so chaotisch wie die von den Briten gemachten widersprüchlichen Versprechungen. De Haans Versuche, die Briten auf die Agudat als eigenständige Stimme im Jewish Agency aufmerksam zu machen, sowie seine Kontakte mit dem Emir von Trans-Jordanien und seine Plädoyers für Verhandlungen zwischen Zionisten und Arabern wurden zunehmend als störend bis bedrohlich empfunden. 


de Haan, gekleidet als Araber

In 1923 forderten Studenten der Universität Jerusalem sogar seinen Rücktritt. Auch de Haans homosexuelle Beziehungen in arabischen Kreisen waren bestimmt nicht hilfreich, kurz: Er hatte sich konsequent unmöglich gemacht und zwischen allen Stühlen gesetzt.
Am 30. Juni 1924 wurde er, vermutlich durch ein Mitglied der zionistischen Organisation Hagana, erschossen.

Seine Verzweiflung, oder, sagen wir, einige seiner Verzweiflungen hat er in Vierzeilern zusammengefasst. Hier davon drei:


Jakob Israel de Haan,
 18811924

Unrast

Der, der zu Amsterdam oft sprach "Jeruschalajim"
und nach Jerusalem getrieben kam,
der sagt mit Sehnsucht in der Stimme
"Amsterdam, Amsterdam".


Das Gedicht als Inschrift auf dem 
Jacob Israel de Haan Denkmal,
gegenüber vom Rembrandthaus in Amsterdam


Zweifel

Auf was, als ich in dieser Abendstunde
die Stadt im Schlaf durchwandert habe
und an der Tempelmauer Platz gefunden,
warte ich? Auf Gott? Oder den Marokkanerknaben?

...


Dass ich ein Lüstling war, ein wildes Biest,
Der bitter genießt und daran zerknirscht zerbricht,
Man wird es wissen, solange man Holländisch liest,
Aber länger nicht.


Aus: Jakob Israel de Haan,  Kwatrijnen, 1924.

Übersetzung Jaap Hoepelman, 05.07.2018

* Nach dem damals noch gar nicht yuppi-mässig entwickelten Amsterdamer Arbeiterviertel "de Pijp" ("das Rohr")

** "Significa" ist der in den Niederlanden benutzte Begriff für die von Lady Welby gegründete Theorie der "Significs". Lady Welby erhoffte sich eine Klärung von Missverständnisse und Misstrauen durch genaueres Studium der Gebrauch der Sprache. Mitglieder der in 1917 errichteten niederländischen Signifischen Bewegung waren u.m. der Arzt und Schriftsteller F. van Eeden, die Mathematiker L. E. J Brouwer und G. Mannoury, der Sprachwissenschaftler J. van Ginneken und der Sinologe, Journalist und Schriftsteller Henri Borel.




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