Montag, 18. November 2019

Multatuli: "Bis zum heutigen Tag"...


Eduard Douwes Dekker 
(Pseud. Multatuli, 1829-1887)

Nicht nur die Geschichte von Hassans Datteln gehört in den niederen Landen zum Standardrepertoire, sondern auch die Geschichte der Thugater, die so vorzüglich melken konnte. Multatuli war ein großer Befürworter der Frauenemanzipation. Er bewunderte - anfänglich - die Schauspielerin Mina Kruseman, die die Rolle der Königin Louise spielte in Multatulis Drama "Fürstenschule" aus 1872.


Een afbeelding van Mina in haar tijd als artieste / Bron: Schift.nl
Mina Kruseman, 1835-1922


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Mina Kruseman war eine der ersten Feministinnen in den Niederlanden. Sie bestand sehr auf ihre Unabhängigkeit und ließ sich von keinem etwas sagen. Auch nicht von Multatuli, der mit der Schauspielkunst der Kruseman gar nicht einverstanden war und sich so lange beschwerte, bis Kruseman aufgab, was das Ende der Beziehung bedeutete.
Eine andere Mina war die politisch und intellektuell  ungleich bedeutendere Wilhelmina Drucker, die sich Multatulis Geschriften und Standpunkten sehr zugeneigt fühlte und einen Roman über die Ungleichbehandlung nach Multatulis "Max Havelaar" modellierte.
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Wilhelmina Drucker 1847-1925

Sie führte sie einen lebenslangen harten Kampf für Gleichberechtigung, Anerkennung und Pazifismus, teilweise zusammen mit der Ärztin und Sexualreformerin Aletta Jacobs, und verdiente sich so den Ehrennamen "Eiserne Minna".
Multatulis Veröffentlichungen spielten eine wichtige Rolle in der Emanzipationsbewegung, und sie waren besonders wirksam durch seine Bekanntheit als Schriftsteller und seinen brillanten Schreibstil. Die folgende "achte Geschichte von der Autorität", ist ein sprechendes Beispiel.


Achte Geschichte von der Autorität
(aus "Minnebriefen" 1861.)

Thugater melkte die Kühe ihres Vaters, und sie melkte gut, denn die Milch,
welche sie nach Hause brachte, lieferte mehr Butter als die Milch, die von ihren
Brüdern nach Hause gebracht wurde. Ich werde dir sagen, wie das zustande kam,
und gib fein acht, Fancy*, damit du es weißt, wenn auch du einmal ausziehen wirst zum Melken.
Ich sage es dir aber nicht, damit du melken wirst wie Thugater, sondern um dich
auf das Beispiel ihrer Brüder aufmerksam zu machen, denen es besser erging dadurch,
dass sie schlechter melkten. Dafür aber klüger.

Bevor bei den Bauern das Jungvolk auf die Weide geht,
ja, lange vor dieser Zeit, stehen die Kühe am Gitter und warten,
damit man sie entlastet vom Überfluss, den sie eigentlich bereit halten
für ihre Kälber. Aber die Menschen essen die Kälber, weil sie meinen dafür geeignet zu sein,
und dann gibt es zuviel Milch in den Eutern.

Was aber geschieht, während die Kühe mit dümmlichem Gesicht vor dem Gitter warten?
Während sie da stehen schwimmen die leichtesten Anteile der Milch, der Rahm, das Fett, die Butter, nach oben und treiben somit am weitesten entfernt von der Zitze.
- "Zitze" heißt "Tepel" auf Niederländisch und ist männlich, was ich ziemlich albern finde.

Und siehe, Thugater hatte keine Eile, aber ihre Brüder schon.

Denn diese behaupteten, dass sie ein Recht hätten auf etwas anderes, als die Kühe ihres Vaters zu melken.
Aber sie dachte an dieses Recht nicht.

- Mein Vater hat mir beigebracht zu schießen mit Pfeil und Bogen, sprach einer der Brüder.
Ich kann leben von der Jagd, und ich will durch die Welt ziehen, und arbeiten auf eigene Rechnung.

- Mir hat er das Fischen beigebracht, sagte der zweite. Ich wäre verrückt immer nur zu melken für einen anderen.

- Mir zeigte er, wie man eine Schute baut, rief der dritte. Ich hacke einen Baum um und setze mich darauf, im Wasser.
Ich möchte wissen, was es zu sehen gibt auf der anderen Seite des Sees.

- Mich gelüstet es, mit der blonden Gune zusammen zu ziehen, erklärte der vierte, dass ich ein eigenes Haus habe, mit Thugaters da drinnen, um für mich zu melken.

So hatte jeder Bruder einen Wunsch, eine Begierde, einen Willen.
Und sie waren so erfüllt von ihren Neigungen, dass sie sich nicht die Zeit nahmen, den Rahm mitzunehmen, den die Kühe bei sich behalten mussten, ohne Nutzen für irgendeinen.

Aber Thugater molk bis zum letzten Tropfen.

- Vater, riefen endlich die Brüder,  wir gehen!

- Und wer wird melken? fragte der Vater.

- Na klar, Thugater!

- Und was wird, wenn sie auch Lust bekommt auf fahren, fischen, jagen, in die Welt ziehen?
Was, wenn auch ihr der Gedanke kommt, sich mit etwas Blondem oder Braunem
zusammen zu tun, dass sie ein eigenes Haus habe, mit allem, was dazu gehört?
Ihr werdet mir nicht fehlen, aber sie, weil die Milch, die sie nach Hause bringt so fett ist.

Da sagten die Söhne, nach einigem Nachdenken:

- Vater, bring ihr nichts bei, dann wird sie weiter melken bis zum Ende ihrer Tage. Zeige ihr nicht, wie eine gedehnte Schnur, sich zusammenziehend einen Pfeil abschießt.
Dann wird sie keine Lust auf jagen verspüren.
Halte für sie die Eigenschaft der Fische verborgen, die einen scharfen Haken verschlucken, wenn dieser versteckt ist unterm Köder.
Sie wird nicht daran denken Haken oder Netze auszuwerfen.
Erkläre ihr nicht, wie man einen Baumstamm aushöhlt um damit zur anderen Seite des Sees überzusetzen.
Dann wird sie keine Lust verspüren auf die Überseite.
Und niemals lasse sie wissen, wie sie mit Blond oder Braun ein eigenes Haus erwerben kann,
und alles, was dazugehört.
Dies alles lasse sie nie wissen, o Vater, dann wird sie bei Euch bleiben und die Milch Deiner Kühe wird fett sein.

Also sprachen die Söhne. Doch der Vater, der ein sehr vorsichtiger Mann war, erwiderte:

Ihr Lieben, was hindert sie daran, zu wissen, was ich sie nicht lehrte? Was, wenn sie eine Libelle sieht auf einem schwimmenden  Ast?
Was, wenn der verzwirnte Spinnfaden, sich zusammenziehend, den Spinnrocken forttreibt, bei Zufall?
Was, wenn sie am Ufer des Baches einen Fisch beobachtet, der nach dem Wurm schnappt, und sich gierig verbeißt in die scharfe Hülse des Rohrs?
Und was, endlich, wenn sie das Nest findet, das die Lerchen sich bauen im Klee in Mai?

Die Söhne dachten wiederum nach, und sagten:

- Sie wird daraus nichts lernen, Vater! Sie ist zu dumm, als dass sie Begierde schaffte aus Wissen.
Auch wir hätten nichts gewusst, wenn Du uns nichts gesagt hättest.

Aber der Vater antwortete:
- Nein, dumm ist sie nicht. Ich fürchte, dass sie von sich aus lernen wird, was ihr ohne mich nie gelernt hättet. Dumm ist Thugater nicht!

Wieder dachten die Söhne nach, - diesmal tiefer, - und sie sagten:

-Vater, sage ihr, dass Wissen, Begreifen und Begieren...sündig ist für ein Mädchen!

Diesmal war der sehr vorsichtige Vater zufrieden.

Er ließ seine Söhne davon ziehen, zum Fischfang, zur Jagd, in die Welt, in die Ehe, ...überall hin.
Aber Thugater verbot er das Wissen, das Begreifen und die Begierde, und sie melkte in Einfalt weiter bis zum Ende.

Und so ist es geblieben, bis zum heutigen Tag.

* Fancy ist eine Fantasiegestalt, die in Multatulis Schriften häufig auftritt.

Achtste geschiedenis van gezag

Übersetzung Jaap Hoepelman
November 2019

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