Samstag, 1. Juni 2019

Simon Carmiggelt: "Die Abstinenzler haben Recht, aber nur die Trinker wissen warum."

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Simon Carmiggelt
1913-1987


Seit 1946 schrieb Simon Carmiggelt unter dem Pseudonym "Kronkel" über 10.000 Kolumnen in der ehemaligen Widerstandszeitung "Het Parool". Carmiggelt gehörte zu den Gründern der Zeitung und war nach dem Krieg Leiter der Kunstredaktion. Er war eine feste Instanz in der Zeitungslandschaft: Ohne Unterbrechung erschienen seine Beiträge, sechsmal die Woche, links oben auf der dritten Seite in Kursivdruck, weswegen sie "cursiefjes" genannt wurden. Der Schriftsteller Willem Elsschot, mit dem Carmiggelt befreundet war und den er sehr bewunderte sprach von einem "Zwergenzug". Einmal jährlich erschien dann eine Auswahl der besten "Kronkels", die Carmiggelt zu einem der am meisten gelesenen Schriftsteller der Niederlande machten. Um einen Eindruck zu geben: Mein Opa, als er uns besuchte, hatte häufig die Zeitung dabei um ein besonders gelungenes "cursiefje" vorzulesen. Ich verstand zwar nicht alles, aber schön war es  trotzdem...
Erstaunlich: Unter den "Zwergen" gibt es nur sehr, sehr wenig schwache Beiträge. Meistens sind es perfekt gelungene Miniaturen, häufig über Amsterdam, seine Kneipen (in denen Carmiggelt gerne Notizen machte) und seine schrägen Typen. Anfänglich eher als kurze Sketche geschrieben, komplett mit Pointe, wechselte Carmiggelt nach und nach zu melancholischen Stimmungsbildern. In den kleinen Stücken wird er gerne mit Tsjechow verglichen (auch diesen bewunderte er sehr), und wie dieser war er auch für das Theater aktiv, insbesondere mit Texten für das Kabarett. 
Kein Gedicht, aber an einem "Kronkel" aus dem Band "Kroeglopen II"(Kneipengänge II) wollte ich mich dann doch versuchen :





Blick auf einen Heringmann                                                              Ã„hnliches Foto                                                                              

Es war früh am Morgen und ich kaufte mir einen Hering an einem schönen hochbeinigen Karren an einer Amsterdamer Gracht.
"Zwiebel?" fragte der Mann im weißen Kittel.
Er war kräftig und breitschultrig mit graumeliertem Haar - ein Fussballadept könnte man meinen, einer, der jeden Sonntag im Stadion verbringt.
"Nein danke, keine Zwiebel", antwortete ich.
Noch zwei Kunden standen am Karren, zwei Blaumänner, die zusammen gehörten.
"Es gibt solche, die nehmen sie mit Zwiebeln und solche mit ohne" stellte der eine großzügig fest.
Der Heringmann nickte.
"Ich, zum Beispiel, würde nie Gurke dazu nehmen", sprach der andere in kokettem Ton, wie ein junges Mädchen, das einen kleinen harmlosen Liebreiz erwähnt.
"Geben Sie mir bitte noch einen", sagte ich.
Der Heringmann schnitt ihn in drei Teile und steckte seine glitzernde Hand in die Schüssel mit kleingeschnittenen Zwiebeln.
"Nein, nein, keine Zwiebeln", rief ich.
Er lächelte entschuldigend.
"Ich war kurz in Gedanken", sagte er.
Die Blaumänner nahmen auch noch einen und fingen einen Streit über eine Belanglosigkeit an, in dem keiner nachgeben wollte.
Ich sah, dass sie noch vollauf damit beschäftigt waren, nachdem ich schon bezahlt hatte und mich in einem Café direkt gegenüber dem Karren, an einen Fenstertisch setzte.
Für Holländer gestikulierten sie heftig. Ein Bauer erzählte mir einmal: "Wenn frühmorgens der erste Hahn anfängt zu krähen, machen alle anderen ihn nach, nur um noch lauter zu sein."
Das Leben der meisten Männer besteht aus nichts anderem.
"Was darf ich bringen", fragte das alte Fräulein des Cafés.
"Kaffee."
Während sie zurück zur Theke schlurfte, kam eine dicke, schlampige Frau herein, 
die ihre Haare vor Monaten strohgelb hatte färben lassen, aber später ein starkes Verlangen nach dem eigenen Braun verspürt hatte, so dass sie jetzt einen zweifarbigen Schopf mit sich herum trug.
"Hast du es gehört?" rief sie.
"Was?"
"Der Sohn des Heringmanns von drüben ist gestern mit dem Roller gegen die Straßenbahn gefahren", fuhr sie fort.
"Mausetot. Die Ärzte im Krankenhaus konnten ihn nicht retten. Man hat es ihm gerade gesagt."
Das alte Fräulein stellte mir den Kaffee hin.
"So was aber auch...", meinte sie.
Ich schaute nach drüben.
Die sich streitenden Blaumänner waren fort. 
Der Heringmann, breit und kräftig, putzte seine Fische mit mechanischem Geschick.
"Siebzehn Jahre war der Junge", sagte die Dicke. "Er lernte Konditor. 
Er hatte noch den dritten Preis gewonnen beim Konditorwettbewerb, mit einem Schokoladenschloss."
"Scheißdinger sind's", sagte die Alte.
Das Gesicht des Heringmanns drückte überhaupt nichts aus. Weder Schmerz, noch Entsetzen, noch Verzweiflung, noch Trauer.
Er bediente jetzt eine junge Frau, die einige Heringe zum Mitnehmen einkaufen musste, die er in Papier verpackte.
"Die Jungen wollen immer angeben auf den Dingern", sagte die Dicke, "aber die Tram weicht nicht aus."
Drüben überreichte der Heringmann der Frau ihr Wechselgeld. Dann fing er wieder an Fische zu putzen. "Die Menschen sind voller Geheimnisse", schrieb Kollege Wittkampf.
Während mir dieser Satz einfiel, erinnerte ich mich auf einmal daran, dass er
beim zweiten Hering und den Zwiebeln, mit einem Lächeln sagte: "Ich war kurz in Gedanken".

Aus "Kroeglopen II, 1962".


Übersetzung Jaap Hoepelman, Juni 2019.

Unter dem Pseudonym "Karel Bralleput" erschienen drei Bände mit Gedichten von seiner Hand. Gegen Ende seines Lebens trug er seine "Kronkels" auch im Fernsehen vor, mit charakteristischem traurigem Augenaufschlag.
Wie andere Autoren auch, die für "Het Parool" tätig waren neigte Carmiggelt zu "Gebrauchspoesie" und wurde von der Welt der Höheren Literatur nach den Fünfzigern nicht immer ganz für voll genommen.
Nichtdestotrotz wurde er vielfach geehrt, auch mit der wichtigsten Auszeichnung, dem "P.C. Hooft Prijs".

Lauter Trauer 

Wie ist mir trübe! Ei! Was kann ich tun?
Ein flacher Geist nimmt jetzt den Flachmann.
Ich aber bin Poet und dichte, wenn ich kann,
und will die Wehmut jetzt in ein Gedichtlein tun.

Das ist der Vorteil meiner Gabe.
Der Bürger weiß nicht, wie sich auszudrücken,
ich aber lasse locker meine Mücken
wie Pferdchen vor dem Sonnenwagen traben.

Ist es erledigt, fühl' ich mich erleichtert.
Ich habe Schönheit aus dem Schmerz gewrungen.
Mein braver Stift hat schön gesungen.
Ich steig ins Bett. Die Sammlung ist bereichert.

Und liest man später das Gedicht
in "Güldnen Ähren" oder in "Der Musen Hortus"
dann sagt der Lehrer bei dem Opus:
"Schaut Kinder, leicht hatte sein 'lyrisch Ich' es nicht".


Louter droefheid

Übersetzung Jaap Hoepelman Mai 2019

Hans Lodeizen. Der Perk der Fünfziger...?

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