Sonntag, 2. Juni 2024

Jacobus Bellamy: Patriotismus und Empfindsamkeit.

 

Jacobus Bellamy 1757 - 1786

Jacobus Bellamy stammte aus Vlissingen, ein Städtchen gelegen an einer strategischen Stelle in der Flussmündung der Schelde, wo es den Zugang zum Hafen Antwerpens beherrscht (gegen Ende des 2. Weltkriegs machte diese Lage sich sehr bemerkbar). 


Vlissingen ist Heimat einiger bemerkenswerter Gestalten, darunter der Flotten-Admiral Michiel Adriaansz de Ruyter, der im 17. Jahrhundert eine entscheidende Rolle spielte,

  
Michiel Adriaansz de Ruyter 1607-1667

 aber literarisch interessanter ist das aufklärerische und patriotische  Schriftstellerinnenduo Betje Wolff und Aagje Deken (Deken stammte nicht aus Vlissingen), Autorinnen des ersten niederländischen Briefromans "Sara Burgerhart" (1782), in dessen Romantitel sich das neue Bürgertum und die neue Unabhängigkeit der Frau sich ankündigte. Als Patriotinnen mussten sie später eine Zeitlang in das revolutionäre Frankreich flüchten.

          Betje Wolff, Aagje Deken, (1738-1804 bzw. 1741-1804)

  
Denkmal für Wolff und Deken 
am Bellamypark in Vlissingen

Die Theater- und Kinderbuchautorin und Dichterin Annie M. G. Schmidt war in Vlissingen während
des zweiten Weltkriegs als Leiterin der Bibliothek tätig.

Annie M. G. Schmidt 1911-1995

Die Bibliothek, ebenfalls am Bellamypark in Vlissingen, 

Am gleichen Park finden wir das Geburtshaus des Jacobus Bellamy, jetzt ein Restaurant, mit Plakette für den Dichter. 

Zu Bellamys Zeit war der Park noch ein Hafen, hierunter eine Abbildung, nur um einen Eindruck zu geben, wie alles damals aussah. Ich wäre fast versucht noch einige alte Bilder aus Amsterdam beizufügen, nur um zu zeigen wie anders alles damals war:

Der alte Hafen in Vlissingen

 Wie der Bauer-Dichter Poot hatte Bellamy das unstillbare Verlangen zu dichten, trotz einfacher Herkunft und Bildung - um zum Familienunterhalt beizutragen, arbeitete er als Bäckersknecht. Seine Begabung fiel einem Vlissinger Prädikanten auf, der ihn für eine Ausbildung als Prädikant in Utrecht (einer notorischen Patriotenstadt) weiterempfahl und ihn auch ansonsten unterstützte. Anstatt eifrig Theologie zu studieren, widmete Bellamy sich aber Politik und Dichtung und stiftete mit Freunden eine "poetische Gesellschaft", mit deren Hilfe er hoffte, die niederländische Poesie auf eine höhere Ebene zu führen. Nach deutschem Vorbild strebte er dabei eine natürlich fließende Sprache an, im Gegensatz zu der schwerfälligen Dichtung des Barocks. Seine Form war der reimlose, anakreontische Vers. Der anakreontische Vers (ursprünglich im kurz-lang Metrum "UU _ U _ U _ _") war eine typische Rokoko-Form, in der man elegant über persönliche, "leichte" Themen, wie Liebe, Wein, Genuss usw. dichtete. Es ist charakteristisch für den Zeitenwandel, dass der ehemalige Bäckersknecht damit großen Erfolg hatte. Vier Gedichtbände erschienen, die beim Publikum großen Anklang fanden, insbesondere das Gedicht "Roosje" für die lange Zeit unerreichbare Geliebte Fransje Baanen.

Hier dann ein Gedicht passend zum Thema:

Jacobus Bellamy


Die Liebe

Wann ist es, dass die Liebe
Sich zeigt am allerschönsten?
In keuchendem Verlangen?
Nach reichlichem Genießen? -
Wir kosten den Genuss schon
Umarmt von den Gedanken,
Als wir nurmehr verlangen.
Doch nach ausgiebigem Genießen,
Wenn, durch alle Freuden,
Die Saiten der Gedanken
Vollends sind überspannt,
Dann herrscht in unsrer Seele
Trübselige Verwirrung.
Dann bringt der traurige Gedanke:
Wir haben schon genossen!
Der Seele eine Lähmung.
Doch bringt ein Blick der Hoffnung
Neues Leben dem Verlangen,
Dann lebt die Seele und erschafft,
Aus nichts als Hirngespinsten,
Wohl tausend freudige Gedanken.


Übers. Jaap Hoepelman Mai 2024

Aus: Gezangen mijner Jeugd (1782)

Bellamy beschäftigte sich nicht nur mit der Dichtkunst. Etwas in der Vlissinger Atmosphäre scheint zu Aufständischem und Respektlosem  anzustacheln. Vielleicht ist es eine gewisse Kleinkariertheit, über die Betje Wolff sich schon heftig beschwerte (wie über die Verwicklung ihrer Vaterstadt im Sklavenhandel). Die patriotische, d.h. anti-orangistische Politik war somit das andere Thema, das Bellamy in der immer unruhigeren Zeit beschäftigte.

Im Europäischen Rahmen sind die Niederlande ein ziemliches Kuriosum. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts waren die Niederlande Teil des Reichs der spanischen Habsburger. Seit den 1560er Jahren entwickelte sich eine aufständische Bewegung gegen die Habsburger, nicht zuletzt aus religiösen Gründen.  1581 verabschiedeten die Generalstaaten der Niederlande eine Unabhängigkeitserklärung, in der sie sich vom spanischen König, Philipp II, aus dem einfachen Grund lossagten, dass dieser ein Tyrann sei, der die Rechte seiner Untertanen gröblich missachtete (ich vereinfache in unzulässigster Weise). Es war keine geringe Sache. Die Niederlande waren schon im Mittelalter ein wirtschaftlicher Schwerpunkt Europas gewesen und waren es im Habsburger Reich nicht weniger. Philipps Vater, Kaiser Karl V, war sogar in Gent geboren und sprach Niederländisch. Zwar, wie man sagte, nur mit seinem Pferd, aber immerhin. Da ein Staat ohne Fürst unvorstellbar war, trugen die Generalstaaten einer Reihe von Herrschern verzweifelt die Fürstenwürde an. Alle lehnten ab (nur nicht der englische Graf Dudley, der sich durch seine Arroganz selber abschoss). Warum sich Ärger mit Spanien einhandeln, dem mächtigsten Staat Europas, nur wegen eines Küstenstreifens mit einem Haufen aufständischer Bettler? Willem von Oranien, Anführer der Aufständischen, wäre die natürliche Wahl gewesen, aber dieser war 1584 gerade eben ermordet worden. Bereits1572 war Willem von den Generalstaaten zum Statthalter (d. h. zum führenden Beamten mit den Aufgaben eines Fürsten) ernannt worden, so dass jetzt zuerst sein Sohn Maurits, dann dessen Halbbruder Frederik Hendrik den Platz eines Statthaltern einnehmen konnten. In 1588 ernannten die Generalstaaten sich selbst zum Souverän der Niederlande, welche dadurch de facto zu einer Republik mit einem verbeamteten Ersatzkönig wurden. Es war eine einmalige Konstruktion, die zwangsläufig zu Spannungen zwischen den Orangisten und den Republikanern führte. Aber die Oranier hatten sich eine relativ feste Position erschaffen, eine Stellung, die im Auf und Ab von Dynastie und Republik erhalten blieb. In Teilgebieten der Niederlande wurde die Statthalterschaft sogar erblich, in 1747 im ganzen nördlichen Gebiet. Aber die Zeit reichte nicht mehr: Nur noch zwei der Oranier, Willem IV und Willem V, konnten sich über den Titel "Erbstatthalter" der ganzen Niederlande freuen. Nach dem Katastrophenjahr 1682 wurde die Position der Republik unaufhaltsam schwächer. Die vernachlässigte Flotte war nur noch ein Schatten ihrer Selbst. In totaler Verkennung der Lage unterstützte die Republik die amerikanische Revolution durch Waffenlieferungen über die Karibikinsel St. Eustatius gegen den Konkurrenten Großbritannien. Wie zu erwarten, nahm die Konkurrenz das nicht hin. Der Vierte Englische Seekrieg ging 1780 katastrophal verloren. Durch die Ideale der amerikanischen Revolution und der Aufklärung, sowie die allgemeine Unzufriedenheit über die Lage der Republik wurde der Ruf nach mehr Freiheit immer lauter. Die Patrioten führten eine heftige Pressekampagne mit zahlreichen Pamphleten, in denen es hieß, dass  die Freiheit vom Statthalter und seiner Kamarilla unterdrückt wurde - womit wir wieder bei Willem V wären. Willem war als Statthalter völlig ungeeignet. Weil er seinem Vater als Dreijähriger nachgefolgt war, wurden die Staatsgeschäfte von Ludwig-Ernst von Brunswick-Wolfenbüttel wahrgenommen, dessen Nichte, die preußische Prinzessin Friederike Wilhelmine, später Willems Gemahlin wurde. Ludwig-Ernst fand Gefallen an den Staatsgeschäften und er ließ sich die Weiterführung seiner Vogtschaft zusichern, auch nach Willems Erreichen der Volljährigkeit. Als der Geheimvertrag in 1785 bekannt wurde, brach ein Aufstand aus. Willems Position in den Haag war nicht mehr zu halten und er flüchtete mit seiner Gefolgschaft in die immer noch orangistische Provinz Gelderland, zuletzt nach Nimwegen, mit leichten Fluchtmöglichkeiten nach Deutschland. Das also war mit dem "Geldernschen Schwein" des unten gezeigten unflätigen Pamphlets unseres Dichters gemeint. Ob Willem V wirklich so böse war, wie unser von patriotischem Eifer beseelter Pamphletist schreibt, kann angezweifelt werden. Man würde ihn eher als hilflosen Volltrottel beschreiben. Habgier allein unterschied ihn mit Sicherheit nicht von der Masse seiner Standesgenossen. "Ich wünschte mir, dass ich tot wäre, dass mein Vater nie Statthalter geworden wäre. Ich bin dazu unfähig. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht" schrieb er. Man könnte ihn fast bemitleiden.

Bellamy veröffentlichte seine Pamphlete in der patriotischen Zeitung "De Post van den Neder-Rhijn".




Seine Beschreibung des Statthalters ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig:



Seine Hoheit als "Geldernsches-Schwein"? Ziemlich keck, für einen Bäckersknecht! Die Zeitung, in der 1782 das Pamphlet erschien, wurde sogar für eine begrenzte Dauer verboten. Das waren noch Zeiten! Wie doch die Zivilisation unaufhaltsam voranschreitet! Heute werden gelegentlich für geringere Unbotmäßigkeiten ganz andere Strafen verhängt. 

Ich versuche die Schmähschrift zu übersetzen, ohne mich auf Poetik zu kaprizieren, was in diesem Fall nicht schwerfällt:

Einem Verräter des Vaterlandes

Es war Nacht, als Deine Mutter kreißte
Die Nacht, die schwarz war wie noch nie.
Reigen Höllengeister kreisten,
Die Welt der Vögel dreimal schrie,
Im Spukwald konnte man es hören.
Die Meereswellen rasten, kochten,
Dass bis in den Himmelschören
Sogar die Engelsherzen zitternd pochten!
Dich sah die Mutter - und das Leben
Floh aus dem bedrückten Herz!
Dein Vater stand, fing an zu beben,
Dann sank er hin, gefällt vom Schmerz,
Dann, wie Donner, eine Stimme hallte,
Hallte in dem Haus, das dich empfing:
"Dass fern von diesem Kind sich jeder halte,
"Die Natur gebar ein Teufelsding!
"Sie gebar zur Strafe der Nation,
"Als Anzeichen des Himmels Grimm!
"Der Geister übelster Patron
"Sei auf der Erd' zum Schütze ihm!
"Er wird das Vaterland verraten!
"Der Freiheit treten auf die Brust!
"Kein Gold in Massen wird ihn je behagen,
"Denn unersättlich ist sein Durst!
"Es dürstet ihn nach Gold und Seide,
"Er wird der Fürsten liederlichster Knecht!
"Sieht er der Unschuld Blut und Leiden
"So  ist's ihm Freud', so ist's ihm recht!
"Falschheit ist das Wesen seiner Seele,
"Der Betrug bewohnt sein Sabberloch!
"Keine Furcht kennt seine Höllenseele;
"Immer denkend; "Ätsch! mich gibt es noch!"....
"Vergebens ist's sein Tun zu unterbrechen!
"Vergebens wäre hier Gewalt!
"Geboren wurde er zum Vaterlandsverbrecher,
"Zum Fluch des Volkes die Gestalt!"

Verräter, Monster! Fluch der Erde!
Du, Geschöpf, beleidigst die Natur!
Gottes Fluch, der Dich noch nicht verheerte
Wird Dich verbrennen, warte nur!

Übersetzung Jaap Hoepelman, Juni 2024

Bellamy war in verschiedener Hinsicht ein literarischer Erneuer. Er versuchte nicht nur eine neue Dichtung zu entwickeln, sondern gab auch eine Zeitschrift "De poetische Spectator" heraus, in der neue Formen der Literaturkritik betrieben wurden.
Daneben war er ein wahrer politischer Aktivist. Seine patriotischen Gedichte in den "Vaderlandsche gezangen" (1782/1783) unter dem Pseudonym "Zelandus" machten ihn in den Niederlanden überaus beliebt. Jedoch er starb, vollkommen unerwartet, am 11 März 1786. Seine Fransje, die er nun doch bekommen hatte, kam eine Weile in der Gartenklause der Damen Wolff und Deken unter.
1787 konnte Willem V wieder nach Den Haag zurückkehren, aus Nimwegen heraus gehauen durch die preußische Armee. Er hielt sich in Den Haag, bis 1795 die französischen Revolutionsgarden in die Niederlande einzogen, gefolgt von den nach dem preußischen Überfall nach Frankreich geflohenen Patrioten. Willem V zog zu den deutschen Verwandten nach England und beendete sein marginales Dasein in 1806 in Braunschweig.

Man kann schön darüber spekulieren, wie die die Republik und ihre Dichtkunst sich entwickelt hätten, wäre Bellamy mit 27 nicht so frühzeitig verstorben.












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