Freitag, 9. Oktober 2020

Reineke Fuchs. Wie man einen Bären abzieht.

 


Jan de Putter | Just another WordPress.com site

Reineke Fuchs
oder
Van de vos Reynaerde


von
Willem die Madocke maecte
 
Übersetzung Jaap Hoepelman 

Aus dem Mittelniederländischen,  Februar 2020.


"Reineke Fuchs? Den kennen wir doch?" Schon, aber wenig bekannt ist, dass Goethes Nachdichtung basiert auf einer  flämisch-niederländische Dichtung aus dem 13. Jahrhundert. Auch diese hatte eine lange Vorgeschichte. Die flämische Version wurde von einem Autor geschrieben, der sich "Willem die Madocke maecte"  ("Willem, der Madocke machte“) nannte, der aus Ost-Flandern stammte,  über den ansonsten wenig bekannt ist. 
"Van de Vos Reynaerde" gilt als ein Höhepunkt der mittelniederländischen Literatur. Der Text ist überraschend modern in seinem Sarkasmus ohne aufgesetzte Kunstfertigkeit. Willem gelang eine Kombination von Gesellschaftskritik, Satire, Abenteuergeschichte und Bubenstück. "Reynaerde" wird in dieser Übertragung "Reynaert" oder "Reyn" genannt. "Reynaert" bedeutet ""mit reinem Charakter". Nomen est omen...Reynaert zeigt in "Van de vos Reynaerde" nicht die Spur der moralischen Makellosigkeit, welche ordentlichen Helden anhaftet. Er war ein Betrüger, Sadist, Räuber, Schänder, Lügner... Seine Opfer waren aber nicht besser, nur dümmer, verschwiemelter, frömmelnder, habgieriger und verlogener. Der „Reynaert“ ist mittelalterlich drastisch, aber für Willems Zeitgenossen muss es ein Genuss gewesen sein, dass wirklich alle ihr Fett abbekamen. 




Ausgesprochen derb geht es zu an den bekannten Stellen in denen Brauns Gier nach Honig ihm zum Verhängnis wird.
Während des Hoftags wird viel schlechtes über Reynaert berichtet. Reyn hatte es geahnt und es vorgezogen, nicht zum Hoftag zu erscheinen. Braun der Bär, von hohem Adel und bärenstark, wird deswegen abgesandt um Reynaert zu überreden mitzukommen.
Braun macht sich auf die Socken und es dauert nicht lange, bevor er bei Reynaerts Burg Manpertus ankommt. Es bleibt nicht im Unklaren was Reynaert blüht, wenn er Brauns Aufforderung zum Hofe zu erscheinen nicht befolgt.

Vorne bei der Festungsschanze,
sitzend auf dem Bärenschwanze,
rief er: "Reyn, du bist zu Hause.
Hör zu, komm' du sofort heraus.
Bei Gott, der König hat geschworen,
dass ich dich von den Toren
von Manpertus bringe vors Gericht;
sonst man dir alle Knochen bricht
und flicht aufs Rad. Ich tu nur meine Pflicht
und rate: Widersetz' dich nicht!"

Reyn ist kooperativ, sehr sogar. Selbstverständlich will er vor Gericht erscheinen. Wenn nur dieser Schmerz nicht wäre. Im Bauch! Wenn er nur diesen frischen Honig nicht gefressen hätte! Wenn dieser nur nicht so leicht zu erreichen gewesen wäre! beim Zimmermann! in einer gespaltenen Eiche...! Jetzt wird Braun ganz schwach. Als es um seine Leibspeise geht, verliert er glatt den Verstand.

Lamfroit war ein Zimmermann,
Gildemitglied, einer, der was kann.
In seinem Hof lag eine Eiche.
Mittels Keilen wollte er erreichen,
dass der Baum sich spaltete entzwei,
wie üblich in der Zimmerei.

Ganz fürsorglicher Neffe warnt Reynaert den Bären davor, sich am frischen Honig in der Eichenspalte zu überfressen. Das erzeugt nur Unmut beim Onkel Braun:

"Halt endlich deine Schnauze! Sonst verlier‘
ich die Geduld. 'In Maßen immer' - Mein Panier!"
"Recht hast du", meinte Reynaert, "ich
bin doch so verzagt! Nichts kann dich
halten! Mutig vorwärts in die Spalte!"
(Reyn konnte kaum noch an sich halten.)

illustratie

Braun hatte den Verstand verloren.
Er kroch hinein bis über beide Ohren
zusammen mit den Bärentatzen,
zu gerne wollt' er Honig schmatzen.
Darauf hatte Reyn gewartet! Gleich
machte er die Keile aus der Eiche
und die Federkraft der Spalte
schnappte zu. Es war nicht auszuhalten.
Der Onkel beim Familientreffen
 ward festgeklemmt von seinem Neffen.
Weder Schlauheit, noch Gewalt
konnten ihn retten aus dem Spalt.
Kraft hatte Braun, Verwegenheit,
doch bei der Gelegenheit
waren die Schmerzen ungeheuer,
guter Rat war mehr als teuer.
Sogar dem Bären wurde klar,
wie gnadenlos er abgezogen war.
Kopf und Tatzen, viel vom Rest
saßen unverrückbar fest.

Reyn ist sich nicht zu schade für einige schlechte Witze auf Brauns Kosten, um sich anschließend diskret zu entfernen. Man muss nicht unbedingt dabei sein, wenn es unappetitlich wird. Es dauert nicht lange und Zimmermann Lamfroit eilt herbei mit einer ganzen Abteilung Dörfler, scharf auf Brauns Fell und scharf auf Bärenbraten. Braun sitzt hoffnungslos fest. Seine einzige Chance: Wenn er sich häutet und Kopf und Pfoten mit Gewalt aus der Spalte zieht, kann er sich retten. Und so geschieht es.
 
Mit einem Reißen, krank und trocken,
ließ Braun die Schuhe und die Socken,
wie Wäsche aufgehängt im Klammerholz.
Unendlich war der Schmerz. Sein Stolz
war schlimmer noch verletzt.Wie dem auch sei -
Braun Bär war endlich, endlich frei.
Einerlei, der Schmerz war unerträglich.
Bleiben, flüchten? Der Bär saß unbeweglich.
Blut klebte ihm die Augen dicht,
doch sah er, wie im Gegenlicht
der ganze Pulk kam angerannt.
Lamfroit hat er gleich erkannt,
den Pfarrer mit dem Kreuz behangen,
der Küster mit der Fahnenstange,
die Parochie, alte, junge,
und zum Schluss die alte Muhme,
wütend wedelnd mit der Krücke,
mit wenig Zahn und vielen Lücken. 

Die Zeichen stehen schlecht. Der Bär sitzt unbeweglich, benommen, Blut klebt ihm die Augen zu, doch es gelingt ihm, sich in den Fluss zu stürzen und sich vom Strom mitreißen zu lassen, bis er auf eine Sandbank gespült wird, wo er gekrümmt vor Schmerzen liegen bleibt. Reynaert hat inzwischen genüsslich ein Huhn verspeist und begibt sich zum Fluss für ein erfrischendes Bad, wo er seinen Onkel gewahr wird. 

Reynaert dachte mit Genuss
an ein kühles Bad im Fluss
und sinnierte mit Behagen,
wie der Bär wurde erschlagen,
von der Gemeinde fortgetragen
um als Bärenbraten im Gelage
in brauner Soße Hauptgericht zu sein.
Nichts zu klagen meinte Reyn. 
"Das Leben meines Konkurrenten
kam zum bedauerlichen Ende,
ich war ja leider nicht dabei.
Mein guter Ruf bleibt fleckenfrei."
Der Fuchs war froh, er liebte es zu siegen,
bis er, am Ufer, sah den Bären liegen.
Schmerzgekrümmt lag Braun am Fluss.
Futsch gute Laune! Dafür Wut, Verdruss!
Verdammter Lamfroit! Blödes Tier!
Hurensohn! Den Bären hab' ich dir
geschenkt! Und diesen Schinken
lässt du laufen? Zu dumm zum stinken!
Nach dieser seelischen Erfrischung
Schaute Reyn mit einer Mischung
aus Freud‘ und Häme und er fand,
dass es um den Bären nicht besonders stand:
Gevatter Braun ging es nicht gut,
wie er da lag im Bärenblut,
gekrümmt vor Höllenschmerzen.
Gleich fing Reyn an zu scherzen.
"Grüß Gott Herr Priester, Sie auch hier?
Sie kennen Reyn, das böse Tier?
Ehrwürden, Sie, ich hörte doch so  gern
von Ihnen, Diener unsres Herrn,
in welchem Orden, darf man fragen,
muss man die rote Mütze tragen?
Sind Sie Prior oder Abt?
Der Scherer hat viel abgekappt!
Von der Kalotte hat er Sie getrennt,
das ist wohl, was man Kahlschlag nennt!
Die Handschuhe nicht anbehalten?
In der Komplet nicht Händchen falten?"
Zu gerne möchte Braun sich rächen.
Doch wie? Sein Herz wollte zerbrechen.
Lieber im schnellen Strom perdu,
als verhöhnt von diesem Parvenü.

In entwürdigender Art und Weise gelingt es Braun zum Hofe vor zu rücken, wo sein grauenhaft versehrter Körper nicht mal wiedererkannt wird.

Und war er müde vom Verrücken,
rollte er vom Bauch sich auf den Rücken,
vom Rücken wieder auf den Bauch.
Nach einer Meile Rollens war auch
diese Qual vorbei. Am Hofe angekommen
wurde er nicht freudig aufgenommen,
denn von Entsetzen übermannt, 
hat keiner Braun als Braun erkannt.
Nur König Nobel war umgehend klar,
dass dieser Rollmops sein Gesandter war.




Bei der Übersetzung habe ich folgende Quellen zu Rate gezogen: Die Übersetzung in das heutige Niederländisch des Walter Verniers[i], Hubert Slings annotierte Ausgabe[ii], Lulofs Ausgabe[iii], die annotierte Ausgabe des DBNL  (digitale bibliotheek voor de Nederlandse letteren)[iv]  und ab und zu die Fassung des geheimen Rates[v] .
Die älteste vollständig erhaltene Quelle ist die „Comburger Handschrift“[vi]  in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart.












Donnerstag, 1. Oktober 2020

Slauerhoff: Der Entdecker

17 beste afbeeldingen over Slauerhoff J.J. op Pinterest ...

Tijd heeft geen vat gekregen op taal Slauerhoff | De ...

Jan Jacob Slauerhoff  (1898-1936)

                                                                                        


Slauerhoff war einer der wichtigsten Dichter, Novellisten und Romanciers in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Als Schiffsarzt fuhr er auf Reisen nach niederländisch Indien, auf der Japan-China-Linie, auf der Holland-Westafrika Linie und auf dem königlich-holländischen Lloyd nach Süd-Amerika. 1934 eröffnete er eine ärztliche Praxis in Tanger, in der Hoffnung, dass der Verbleib in Nord-Afrika seiner schwachen Gesundheit gut tun würde. Es half nichts, 1936 zog er wieder in die Niederlande, wo er wenige Monate später in einem Pflegeheim verstarb.

Slauerhoff wird beschrieben als Poète Maudit, verlassen, nirgends zuhause, zutiefst pessimistisch, von allen ungeliebt, im Streit mit allen, insbesondere den Kollegen-Schriftstellern. Ein schwieriger Mensch, aber der Kapitän eines der Schiffe auf denen er fuhr nannte ihn den besten Kumpel, den ein Seemann haben könnte; "der Schwarze Chor", die Heizer, nannten ihn die beste Pille mit der sie je gefahren wären.

Slauerhoffs Werk umfasst Romane, Gedichte, Geschichten und Übersetzungen und wird auch heute noch gelesen.
Cees Nooteboom hat Slauerhoff "einen der großen Reisenden der Niederländischen Literatur" genannt. Ununterbrochen umherziehend empfand Slauerhoff eine enge Verwandtschaft mit dem portugiesischen Dichter Camões, die Hauptfigur seines Romans "Het verboden Rijk" ("Das Verbotene Reich"). 
Slauerhoff hat verschiedene Gedichte mit "portugiesischen Motiven" geschrieben, einige davon mit portugiesischen Titeln, wie AngústiaFadoO engeitadoSaudadeVida triste.

"Der Entdecker" erinnert an MagellanCamões, Columbus und andere Großen, oder, wie man es betrachtet, Verfluchten. Es enthält zudem Motive aus dem "Fliegenden Holländer", auch der ein gänzlich Verdammter. Den Holländer in diesem Gedicht aber kann nicht einmal die innige, fromme Liebe einer Frau vor dem ewigen Herumirren retten, bis zu der Welten Ende. Dafür ist es romantisch ohne Ende...

Der Entdecker

Die Bequemen forderten mich auf
Zu fahren. Ihnen hab' ich, pfändend meine Knochen
Fabelhafte Reichtümer, Schätze zuhauf
Wegen des Schiffes dreist versprochen 
                                                                                                           
Und endlich triumphierend heimgebracht.
Bis zur Kante war das Schiff beladen,
Freilich, verreckt fast alle Kameraden, 
Doch jede Hafenstadt trug Flaggenpracht.

Dann musst' ich knien vor dem goldnen Thron.
Der König hob den Orden hoch, um mir ihn
Huldvoll umzulegen, den ich in wildem Hohn
Entriss ihm und zuwarf einem Paladin.

Eine Frau noch legte innig fromm die Arme um mich,
In ihren grauen Augen hab' meinen Frieden ich erkannt,
Ich sank - doch mich verzehrte mehr noch leidenschaftlich
Das Feuer, das mich forttreibt ohne Ruhe, fort vom Land.         
                                                   
Ich hastete zurück an Bord,
Einer Entdeckung sicher, vollkommen unbekannt,
Doch unaufhaltsam trieb's mich fort
Zu Wasserwüsten, Küsten, steil wie eine Wand.

Niemals gestehe ich den Irrtum, meinen Wahn.
Vor dieser blinden Mauer werd' ich kreuzen
Bis zu der Welten Ende auf diesem morschen Kahn,
Darauf drei kahle Masten: Galgen? Kreuze?

De ontdekker
in "Eldorado" 1927


Übersetzung Jaap Hoepelman Oktober 2018


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Camões
1524/1525 - 1579/1580  

Ed Hoornik. Prophetisches im Alltäglichen.

Pogrom   1938 Pogrom                                                                                                             Ed Hoornik ...